Diese Geschichte wurde von Johannes Warkentin geschrieben und in der Zeitung „Der Bote“ veröffentlicht. Ich habe sie als Kopien auf mehreren losen Seiten von meiner Tante bekommen. Johannes Warkentin (1914-2001) war Lehrer in Medemtal, Am Trakt und hat viele Ereignisse, die er beschreibt, selbst miterlebt. Es werden mehrere Personen erwähnt in einer Zeitspanne von 1914 bis zur Auswanderung nach Deutschland – Ende 1980er. Er hat ausserdem die Familiengeschichte seines Großvaters Gerhard Wall aufgeschrieben und die Geschichte seiner Schwester Editha in der Trudarmee. Meine Kommentare sind in Klammern: <A.W>.
Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach musste Opapas Söhne und Schwiegersöhne in den Krieg ziehen. Da nahm Opapa seine Enkel mit ihren Müttern zu sich auf seinen großen Hof. Dort gab es außer dem Hauptgebäude noch zwei Wohnhäuser. Wir, seine Enkeln, waren damals noch klein und können uns an diese Zeit nur wenig erinnern.
Das erste, unvergessliche Ereignis, dass uns Enkel für das ganze Leben beeindruckte, war die Ausraubung von Opapas großer Wirtschaft durch den Prodotrjad, (bewaffnete Verpflegungseinheit).
Es war Anfang des Winters 1919; Eines Morgens kam eine Schar bewaffneter Reiter in Militärmäntel auf den Hof. Alle Erwachsenen Hausbewohner trieben sie in die große Küche, wo sie von einem Soldaten mit Gewehr bewacht wurden. Opapa und Oma blieben in der großen Stube hinter dem Küchenraum.
Auf dem Hof, im Stall, Scheune und Speicher wirtschafteten jetzt die Soldaten. Der Speicher wurde aufgebrochen und das Getreide in Säcke gefüllt, die man dann auf Schlitten warf. Andere schleppten Heu aus der Scheune und verluden es ebenfalls auf Schlitten. Dann trieb man das Vieh – Kühe, Rinder und Schafe auf den Hof. Im Stall blieben nur noch die lahme Stute Kanarejka, ein paar Fohlen, eine kranke Kuh und ein paar Rinder. Opapa stand in der großen Stube mit gefalteten Händen am Fenster, und Oma saß neben ihm und weinte. Wir kleinen Kinder konnten ungestört herumlaufen und alles beobachten. Opapas Lieblingspferd, den Hengst Rinaldo band man hinten an einen Schlitten, dann trib man die Pferde an, alles kam in Bewegung, Das Hornvieh folgte den Schlitten; so verließen alle den Hof – von bewaffneten Soldaten getriben.
Kalter Wind wirbelt den noch lockeren Schnee durch die Luft, als sollte er die Spuren dieser Schandtat verwehren. Opapa fieberte, er ging in Zimmer auf und ab, dann nahm er seinen Pelz; niemand hielt ihn auf, man wusste, dass er nach schweren Stunden es liebte allein zu wandern.
Gegen Abend erhob sich ein richtiger Sturm, aber Opapa kam nicht nach Hause. Niemand legt sich schlafen. Plötzlich hörte man das Gewieher von Rinaldo; alle eilten hinaus auf den Hof und sahen Rinaldo ohne Zaum. Auf seinem Rücken lag bewusstlos unser Opapa, seine Hände umschlangen den Hals des Pferdes.
Opapa lag noch einige Tage krank; in seinem Fieber faselte er etwas von einem Zaun den er entlang gehen musste, um nach Hause zu kommen. Dann redete er mit Rinaldo, er solle sich auf die Knie legen, und noch manches andere. Es ist anzunehmen, dass Rinaldo sich unbemerkt den Zaum abgestreift hatte, um nach Hause zu kommen. Aber wie und wo das Pferd unseren Opapa gefunden und wie der Kranke, steifgefrorene Mann auf Rinaldo aufgestiegen war wird wohl niemand erfahren.
Es folgten schwere Tage.
Unvergesslich blieb mir das Ritual der Speisung. Opapa und Oma thronten ab Ende des breiten Tisches, wo Opapa das Brot verteilte, und jede Mutter bekam den Teil für ihre Kinder. Die Frauen saßen am Alter nach, Opapa liebte eben in allem Ordnung. Doch später, als nach erneutem Raub und Missernte die Lebensmittel knapp wurden und das Getreide aus tiefem Versteck geholt werden musste, speiste jede Mutter ihre Kinder in eigenem Wohnzimmer. Opapa konnte es nicht ansehen, wenn kleine Kinder um Brot baten.
Leben wie Gutsbesitzer. Es war die zweite Hälfte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts <1920er>. Mein Vater Hermann Warkentin <24.09.ca. 1891-????> war Vorsitzender im Dorfsowjet <Dorfrat> Medemtal. Es war die Zeit der von Lenin verordneten NÖP – Periode (Neue Ökonomische Politik – eine Politik, die zeitweise privates Unternehmen gestartet, um schneller die durch Krieg und Bürgerkrieg zerstörte Wirtschaft wieder aufzubauen).
Auch die Mennoniten Am Trakt waren dabei, ihre Wirtschaft wieder in Ordnung zu bringen; zwar waren die Erinnerungen an den Bürgerkrieg noch wach im Massengrab in Köppental waren neun Mennoniten und ein russische Geistlicher beerdigt, als Beteiligte am Hungeraufstand hingerichtet. Aber das Leben ging weiter, und allmählich kam ein gewisser Wohlstand auf. Den Hof zierten junge Pferde; am Morgen standen an der Straße blanke Milchkannen die wurden mit einem langen Wagen in die Käsereien gebracht, dort verarbeitete man die Milch zu Butter und zu dem berühmten „Holländer Käse“; das gab eine beträchtliche Einnahme für die Wirtschaft. Der ökonomische Verfall um die Zerstörung durch Krieg und Bürgerkrieg gerieten allmählich in die Vergessenheit.
Der kamen 1926 eines Tages zwei Bevollmächtigte aus Moskau zu meinem Vater; es waren hochgestellte Parteifunktionäre, „hohe Biester“, wie der Vater erklärte. Vater kam sogar, was er sonst nur selten tat, zur Mutter in die Küche, um die außergewöhnliche Bedeutung der Gäste zu unterstreichen und Mutter zu bitten, ihr Bestes für die Bewertung zu tun.
Die Bevollmächtigten hatten vorher die älteren Mennonitendörfer besucht und waren jetzt also im letzten und jüngsten Dorf. Sie saßen lange mit Vater in der „großen Stube“, prüften Akten und machten Notizen bis spät abends.
Am nächsten Morgen befahl der Vater mir, zwei Pferde vor Opapas Federwagen zu spannen und die Gäste an die Eisenbahnstation Titorenko zu bringen.
Meine Gäste hatten es sich auf dem Hintersitz bequem gemacht und führten ungehindert ihr Gespräch, sie ahnten nicht, dass der zwölfjährige Junge auf dem Vordersitz der die Pferde lenkte, Russisch verstand und dass ihr Gespräch ihn sehr beeindruckte. Der Inhalt ihrer Worte prägten sich tief in sein Gedächtnis ein, und erst später Begriff er die ganze Bedeutung dieser Unterhaltung und die tragische Folgen dieser Inspektionsreise.
„Shiwut kak Pomeschtschiki – Leben wie Gutsbesitzer“, diese Worte waren in dem Gespräch immer wieder vorgekommen; dazu muss man wissen dass der Begriff Gutsbesitzer bei den Kommunisten Hass und Feinseligkeit hervorrief; zwar war die Leibeigenschaft der russischen Bauern bei der sie als Privatbesitz der Gutsherren auch jederzeit verkauft werden konnten, durch Zar Alexander II. aufgehoben worden, doch das Land war bis zu Oktoberrevolution Eigentum der Gutsbesitzer geblieben. Durch die erste Gesetze der jungen Sowjetmacht wurden dann die Gutsbesitzer enteignet, gemäß den historischen Losungen der Kommunistischen Partei „Das Land den Bauern und die Fabriken den Arbeitern“. Und was fanden die Parteifunktionäre aus Moskau nun – schon Jahre nach der Revolution – hier im zentralen europäischen Teil des Sowjertrusslands in den Dörfern der Mennoniten vor? Bauern, die auf eigenem Landgut lebten und wirtschafteten, Gärten bis zu 2 Hektar, Höfe mit Obst und Zierbäumen bepflanzt, feste Gebäude aus gebrannten Ziegeln mit Dachpfannen, hohe Kultur der Landwirtschaft, amerikanische Bindemaschinen, Dreschmaschinen mit Motorenantrieb und Traktoren Fordson und als Zierde der Wirtschaft kostbare Rassetiere – lebender Kapitalismus. Das konnten diese Bevollmächtigten nicht begreifen; ihrer Meinung nach war ein solcher Zustand für eine Sowjertrepublik unzulässig. Man musste diese Frage unbedingt in Zentralkomitee der Kommunistischen Partei besprechen und energische Maßnahmen zur Vernichtung dieser Überbleibsel des Kapitalismus ergreifen. Sie sprachen auch von einem Kommunistischen Manifest und nannten die Namen Karl Marx und Friedrich Engels.
Mennonitendörfer werden Kollektiviert. Und dann kam die Kollektivierung auch in die Mennonitendörfer, sie brachte viel Leid und Armut; alles im täglichen Leben war neu und ungewohnt. Und nicht nur die Menschen litten bittere Not, auch ihre materielle Stütze, das liebe Vieh, schmachtete in den großen schmutzigen Stellen der Kolchose bei kargem Futter und mangelnden Pflege; die Pferde litten bald und Krätze und magerten ab; manche verreckten, andere wurden arbeitsunfähig. Der Mangel an den arbeitsfähigen Pferden hatte bald schlimme Folgen. Die Bauern in der trockenen Wolgasteppe waren immer bemüht gewesen, den Samen im Frühjahr möglichst schnell in die Erde zu bringen, solange sie noch feucht war; nur so konnte man auf eine gute Ernte hoffen. Doch jetzt zog sich die Aussaat wegen des kleinen und geschwächten Pferdebestandes wochenlang hin, und in der getroknetern Erde keimte der Samen nicht, die Felder blieben kahl und verkrautet. Doch „Net Chuda bes Dobra“, sagen die Russen, d.h. etwa „Jede Not bringt auch Hilfe“. Die verwahrlosten Felder wurden bald zum Paradies für Zieselmäuse. Die hungrigen Kolchosniki (Mitglieder der Kollektivwirtschaft) hatten bald begriffen, dass das Fleisch der Zieselmäuse ganz gut schmeckt und eine fette, sättigende Suppe liefert.
Nun war aber jeder Erwachsene Kolhosnik verpflichtet, sein tägliches Arbeitssoll in der Kolchose zu erfüllen; wenn er das nicht tat, wurde er öffentlich gerügt, sein Name erschien auf einer schwarzen Tafel in der Brigade; wer sien Tagessoll übererfüllte, dessen Name kam auf eine rote Tafel; „sozialistischer Wettbewerb“ nannte man das.
So blieb die Jagd auf die Zieselmäuse Aufgabe der Kinder. Früh morgens, wenn die Eltern zur Arbeit gingen, begann auch für sie das Werk. Mit einem Eimer Wasser und einem Stock bewaffnet, marschierten sie ins Feld. Beim Anblick der Kinder verschwanden die grasenden Zieselmäuse in ihren Löchern. Doch ein Schwall Wasser brachte sie wieder an die Oberfläche, wo sie dann mit dem Stock erledigt wurden. Zu Hause zogen die Kinder den Tieren das Fell ab, das konnte man dann auch noch für ein paar Kopeken verkaufen.
Der Lobpreis der Kollektivierung, die als Sieg des Kommunismus gefeiert wurde, verstummte schnell. Elend und Not der Bauern auf dem Lande wirkten sich bald auch in den Städten aus. Das Zentralkomitee Beschuldigte die örtlichen Behörden, sie hätten die Politik der Partei falsch verstanden. Das Zentralorgan der Partei, die „Prawda“ schrieb dazu einen großen Artikel „Golowokrushenie ot Uspechow“ (Kopfschwindel durch Erfolg“). Die Politik der Partei sei es, die Kolchosniki wohlhabend zu machen und die Kolchose bolschewistisch zu gestallten. Jede Bauern Familie durfte nun eine Kuh für den eigenen Bedarf halten, diese Güte wurde allerdings mit einer Abgabe von einigen 100 Litern Milch jährlich besteuert. Bald kam man auf den Gedanken, jeder Familie ein Grundstück von einigen hundert Quadratmetern für den eigenen Garten zu gewähren. Wenn das Soll in der Kolchose erfüllt war, schufteten die Kolchosniki dann in ihrem Garten, um ihre Familien mit Kartoffeln und Gemüse zu versorgen. Im Ganzen war das eine gute Lösung, und bald erhielt jede Familie in Stadt und Land ein Grundstück zwischen 300 und 600 Quadratmetern, um sich selbst mit Obst und Gemüse versorgen zu können: so entledigte sich der sozialistischer Staat der Sorge um das tägliche Brot seiner Bürger.
Zunächst hatte die Kolchosverwaltung in den Händen der Mennoniten gelegen. Doch in einer Sommernacht 1936 wurde die ganze Kolchsverwaltung in Medemtal verhaftet – der Vorsitzende Julius Janzen <(28.01.1895-1937), #1253847>, Wirtschaftsleiter Kornej Wall, Lagerleiter Johann Klassen <wahrscheinlich Johann Klaaßen (ca. 1909-????), #1157817>, Hauptbuchhalter Jakob Franzen, Verwaltungsmitglied Abraham Wall <wahrscheinlich Abram Wall (18.09.1904 – 18.12.1937)>, Farmleiter Albert Kern und Lagerleiter Debus, die letzten schon zwei Zugereiste Nichtmennoniten. Die Gerichtsverhandlung fand hinter verschlossenen Türen statt. Niemand wusste, wessen man sie Beschuldigte. Am 19. Oktober wurden alle sieben erschossen <nach Familienüberlieferungen wurden J. Janzen und A. Wall 1937 erschossen. Ob hier das Jahr 1937 stehen sollte? AW>.
Bedauerlich war das Schicksal der Hinterbliebenen Witwen und Waisen. Julius Janzen hinterließ vier Kinder im Alter von 3 bis 12 Jahren. Seine Frau Helene <geb. Joh. Siebert (13.06.1896-07.04.1980), #1253846> wurde als Gattin eines Volksfeindes ständig verfolgt. Sie floh dann mit ihren Kindern nach Kasachstan zu Verwandten; danach gesellte sie sich zu nomadisierenden Hirten in der Steppe und konnte so später ihre Kinder vor der Trudarmee retten. Sie starb im April 1980. Den Kolchos leitete dann ein Nichtmennonit Engelmann, ein Mensch mit Verdächtiger Reputation. Es gab eine Menge leitenden Funktionen in der Kolchosen, wir Farmleiter, Brigadiere, Lagerleiter; diese Stellen lockten auch Habenichtse und Nichtstuher an, die schnell die politische Situation und das Bestreben der Sowjets begriffen, das Mennonitentum zu vernichten. Wenn das Wort Mennonit zu Anfang der 1930er soviel wie Kulak bedeutete, bezeichnete es später den Volksfeind. Die neue Kolchosverwaltung diente treu den antimennonitischen Bemühungen und nutzte jede Gelegenheit, den unbequemen Mennoniten materiell und politisch zu schaden.
Not und Armut in den ersten Jahren der Kollektivierung auf dem Lande trieben viele Arbeitskräfte in die Industriegebiete, den im Eiltempo Bauten man neue Fabriken. An der unteren Wolga entstanden mächtige Werke für landwirtschaftliche Maschinen wie das Traktorenwerk in Stalingrad und die Mehdrschfabrik in Saratow. Die Mennoniten am Trakt aber blieben in diesen Jahren in ihrer Heimat auf dem Lande, mit Fleiß und Eifer waren sie bestrebt, sich den neuen Verhältnissen anzupassen und Ordnung in den Kolchosen zu schaffen. In den fünf Dörfern Hohendorf, Lysanderhöh, Orloff, Ostenfeld und Medemtal gab es jetzt drei Kolchosen – Steinhard, Bolschewik und Molotow.
Auf das Land kam jetzt neue Technik: Traktoren und Mähdrescher, da war die Sachkenntnis der Mennoniten im Umgang mit Maschinen gefragt; sie arbeiteten als Mechaniker in der Maschinen – Traktoren – Station (MTS), so Johann Juljewitsch Wiens <(03.02.1899 – 12.11.1981), #1254271, mein Großvater. AW>, Jakob Reimer <(19.11.1905 – 02.11.1986)> und andere. Gerhard Dick amtierte sogar als Hauptmechaniker. Doch nach einigen Jahren, als die Technik auf dem Lande beherrscht wurde, entließ man alle Mennoniten aus der MTS – Verwaltung. Gerhard Dyck wurde seines Amtes enthoben und verhaftet, niemand hat ihn je wieder gesehen. Direktor der MTS wurde ein Jungkommunist Weber, Hauptmechaniker ein Kommunist Hergerd und Agronom Filbert. Bald war die gesamte Leitung in den Händen zugereister Nichtmennoniten.
Die MTS ist ein staatliches Unternehmen zur Nutzung landwirtschaftlicher Technik. Da Privateigentum an technischen Geräten verboten war, konzentrierte der Sowjetstaat alle landwirtschaftlichen Maschinen in der Maschinen-Traktoren-Stationen. Die Lysanderhöh-MTS bediente die Mennonitendörfer Am Trakt und noch einige Nachbardörfer, sie verfügte über einige hundert Mähdrescher und andere landwirtschaftliche Maschinen. Die Traktoren wurden den Kolchosen zur Bearbeitung ihrer Flächen geliehen, dafür mussten sie ein bestimmtes Soll aus der Ernte zu festgesetzten Preisen an den Start abliefern, unabhängig vom Ertrag der Ernte. Bei Mißernten oder Dürre blieb den Bauern in der Kolchose oft nicht einmal genügend Getreide für das tägliche Brot.
Das MTS-System ist ein typisches Beispiel für die Epoche des stalinistischen Sozialismus – eine Maßnahme zur Versklavung der Landbevölkerung und zu Verwandlung der Bauern in besitzlose Landproletarier. Ein an dem Putsch am 19. August 1991 Beteiligter, Vorsitzender des Allrussischen Bauernvereins im Obersten Sowjet schreibt dazu: „Der Begriff Bauer ist veraltet. Wir haben jetzt im Dorf einen Arbeiter der Landwirtschaft, der weder ein eigenes Land gut noch eine eigene Wohnung hat. Alles, was er braucht, wird ihm die staatliche Wirtschaft geben, wo er mit Aufwand aller Kräfte arbeiten muss“.
Den Maschinen – Traktoren – Stationen, die zunächst nur die landwirtschaftliche Technik verwalteten, übergab man später auch die politische Verwaltung auf dem Lande. Als Chef der Politabteilung in Lysanderhöh fungierte ein hochgestellter und gebildeter Parteifunktionär aus Moskau, ein Nikonow. Auf Kundgebungen in den Kolchosen erklärte er, dass es die Aufgabe der Politabteilungen auf dem Lande sei, die Kolchosniki wohlhabend und die Kolchosen bolschewistisch zu machen. Wie das in der Praxis aussah, erkannte man bald. Auf einer Kolchosversammlung rügte ein mennonitischer Brigadier die Schlamperei einiger Jungarbeiter (Komsomolzen). Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als Nikonow mit vor Zorn gerötet dem Gesicht aufsprang und mit erhobener Stimme auf Russisch bekannt gab: „In einer bolschewistischen Wirtschaft gibt es keinen Zwang, keine Sklavenarbeit. Alles geschieht zum Wohle der Menschen, – und zu mir, dem Dolmetscher gewand: „Übersetze!“ Der Brigadier, der es gewagt hatte, die neue Ordnung in der Kolchose zu kritisieren, wurde bald darauf des Nachts abgeholt und verurteilt.
Tante Anna Isaak war Obermelkerin in einer Milchwarenfarm. Eines Tages erschien in der Wandzeitung ein Artikel, in dem behauptet wurde, sie verbiete Jugendlichen Melkerinnen die Teilnahme an den Versammlungen der Jungkommunisten.
Sie kam nach Hause und sagte: „Jetzt holt man mich bald“, und dann kamen tatsächlich die NKWD-Leute (Geheimpolizei) und verhafteten sie. Niemand hat sie wiedergesehen, und ihr Schicksal ist bis heute unbekannt.
So wurden durch Repressalien und Verhaftungen die Kräfte der wehrlosen Mennoniten immer weiter geschwächt. Eine illegal durchgeführte Zählung in der Mennonitengemeinden ergab, dass auf jeden männlichen Mennoniten über 18 Jahre zwei Frauen und drei Kinder kamen.
In einer Klasse der Schule in Medemtal, die ich als Klassenleiter betreute, gab es unter 22 Mennonitenkindern nur zwei, die mit Vater und Mutter lebten. Die Väter von zehn Schülern waren entweder erschossen oder schmachteten in Gefängnissen oder Straflagern.
Mennonitendörfer werden entkulakisiert. Kulaken sind nach kommunistischem Begriff Grundbesitzer, die fremde Arbeitskraft ausnutzen, also „Ausbeuter“. Stalin forderte deshalb im Januar 1930 die Auflösung des Kulakentums, und auf dem 16. Parteitag wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet.
So kamen denn eines Tages auch bevollmächtigte Partei männer in Opapas Haus; in ihrer Begleitung war Knals, ein junger Mann aus mennonitischer Familie, der früh seine Eltern verloren hatte. Von seinem Opa aufgezogen und maß los verwöhnt, war er zum flegelhaften Nichtstuer herangewachsen und ein treuer Helfer der kommunistischen Bevollmächtigten geworden.
Man erklärte Opapa, daß sein ganzes Vermögen mit Haus und Hof von Stunde an dem Volke gehöre, er solle mit seiner Familie sofort Haus und Hof verlassen und nie wieder zurückkommen. So wurde mein Opapa Gerhard Wall <(04.07.1856 – 1936), #426078> mit seiner Frau Anna <geb. Dietrich Penner (04.07.1862 – 1931),#4911>, seinem Sohn Hermann <(27.08.1907 – ????)> und dessen Frau <Laura, geb. Ewert (*1912)> und Kind <Sohn Walter (*1930)> vertrieben, entkulakisiert nannte man das. Mit einem kleinen Bündel in der Hand gingen sie in die Steppe und übernachteten in einer Erdhütte, die für Hirten gebaut war. Knals wälzte sich zur gleichen Zeit in Omas Federbett, tat sich in Opapas Keller und Speisekammer gütlich und stolzierte am nächsten Tag in Opapas Sonntagskleidern auf der Straße.
Auf ähnliche Weise wurden 41 Familien <S. Kulakenliste Medemtal und Karagandaliste> aus allen Mennonitendörfern Am Trakt von Haus und Hofvertrieben und ihr Vermögen enteignet. Die meisten suchten vorübergehend Unterkunft bei Bekannten, es war ja schon Herbst, und die Nächte waren kalt. Die Männer mußten dann unter bewaffneter Aufsicht von ihren eigenen Höfen vier Schuppen abreißen und hinter Ostenfeld, außerhalb des Dorfes, wieder aufbauen; diesen Ort nannte man dann ,,Verbrecher kolonie der Kulaken“. Ausgestattet waren die Schuppen mit Blechöfen und ein paar hölzernen Tischen und Bänken aus Brettern gefertigt. Bettgestelle gab es nicht, die Menschen schliefen auf der Erde, Bettlaken trennten die Familien. Die Kolonie wurde streng bewacht; mit Lebensmitteln wurden die Bewohner von Verwandten und mitleidigen Dörflern versorgt; aber das durfte nur mit Erlaubnis und unter Kontrolle der Wachmannschaften geschehen und wurde nach deren Willkür gestattet oder verboten,
Mein Cousin Gerhard Wall, ein zehnjähriger Knabe, wurde einmal von Knals ertappt, als er für Oma und Opapa einen Krug Milch bringen wollte. Knals schleppte den weinenden Jungen in den Dorfsowjet, wo er verhört wurde und versprechen mußte, nie wieder etwas für die Kulaken zu bringen.
Nachdem das Kulakencutor – die Verbrecherkolonie – gebaut war, trieb man die arbeitsfähigen Männer unter Bewachung in einen Wald, dort mußten sie Holz fällen, aus dem in Köppental eine Brücke erstellt wurde; als die Brücke dann fertig war, brachte man die Männer nach Hohendorf; auch dort blieben sie unter Bewachung.
1931 – der Frühling kam und mit ihm der 26. April, an diesem Tag wurden alle Männer, von berittenen Soldaten eskortiert, durch Hohendorf, Lysanderhöh, Orloff, Ostenfeld und Medemtal getrieben; eine Staubwolke umhüllte die Kolonne. Die Leute strömten auf die Straße, um sich von Verwandten und Bekannten zu verabschieden; in der Kolonne waren ja die angesehensten Männer der Mennonitengemeinde. Doch die Begleitsoldaten wurden nervös und schlugen mit Peitschen auf die Männer ein, um sie schneller vorwärts zu treiben. Ein schauerlicher Abschied von der Heimat, ein Abschied ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Vor unserem Hof standen meine Mutter <Marie Warkentin geb. Wall (*ca. 1894)> und Tante Lenchen <Helene Riesen, geb. Wall (*1902)>, “Auf Wiedersehen, Hermann“, riefen sie ihrem Bruder zu. Ein Wiedersehen gab es erst nach 36 Jahren in den Weiten Sibiriens, als Onkel Hermann nach Verbannung und Trudarmee seine beiden Schwester umarmen konnte. Nur sie – zu dritt-waren von Opapas großer Familie übriggeblieben.
Die entkulakisierten Männer kamen zunächst nach Engels, wo sie bei Arrestantenkost schwere Erdarbeiten verrichten mußten. Lebensmittel, die man ihnen von zuhause brachte, wurden zum Teil von der Bewachung gestohlen.
Im Sommer 1931 brachte man die Männer dann nach Kasachstan. An einer Haltestelle der Eisenbahn wurden sie ausgeladen, und dann trieb man sie noch neun Kilometer bis Maikuduk. Hier wurden sie in Zelten untergebracht, und hier sollten sie dann Wohnungen für ihre Familien bauen.
Es dauerte nicht lange, bis die Familien Nachricht bekamen, dass ihre Männer an Ort und Stelle angekommen seien und dass sie bald folgen könnten. Die Frauen packten ihre Sachen, und am 16. Juli ging es dann los. Die karge Habe und von Verwandten gespendeten Lebensmittel wurden auf Wagen geladen. Der Zug ging durch Ostenfeld, Orloff, Lysanderhöh und Hohendorf. „Die Wagen reihe mit den weinenden Menschen erschien wie ein Trauerzug, der zum Tode führte“, so schreibt es Anna Bergmann <Anna Bergmann, geb. Andres (18.08.1887 – 14.02.1933), #1254616> in ihrem Tagebuch. Am Abend des zweiten Tages kamen die Familien im Kantonzentrum Seelmann an, sie wurden bei einem zerfallenen Mühlenhof ausgeladen, hier lebten sie dann unter freiem Himmel eine ganze Woche bei strenger Bewachung. Am 23. Juli brachte man sie zur Anlegestelle an der Wolga, und hier beraubte man die geplagten Menschen noch einmal, Wertsachen wurden weggenommen, Minderwertiges ins Wasser geworfen, sogar Lebensmittel – Mehl und Grütze – nahm man ihnen ab.
Auf einem Schleppkahn ging es dann bis Engels. Dort lebten die Frauen und Kinder noch elf Tage in einem Geräteschuppen; sie litten Hunger und Durst, ihre Kleider waren schmutzig, und nachts war es kalt. Viele – vor allem Kinder – erkrankten; eine Frau starb.
Endlich, am 3. August, wurden alle in schmutzige Güterwagen verladen. Und dann schmachteten die Menschen 14 Tage in vollgepfropften Waggons, von Hunger und Durst geplagt; warme Speise gab es nur dreimal in diesen zwei Wochen – in Pensa, Ufa und Petropawlowsk; beständig fehlte es an Trinkwasser, und die Kleider wimmelten von Läusen. Dazu war es in den verschlossenen Waggons schwül und dumpf, denn die Türen wurden nur selten geöffnet. Am meisten litten die Kinder.
Endlich, am 17. August, wurden die geschwächten Mütter mit ihren kranken Kindern ausgeladen. Da warteten auch schon ihre Männer, jetzt galt es noch, die neun Kilometer bis zu den Zelten zu überwinden; die Stärkeren schafften das noch an demselben Tag; manche konnten die Strecke erst am nächsten Tag zurücklegen. Jetzt – in der wilden Ursteppe – waren die bewaffneten Wächter verschwunden; es schien, als kümmere sich jetzt niemand mehr um die vertriebenen Kulaken. Man hoffte wohl, sich auf diese Weise ihrer zu entledigen.
Menschen – wo sie auch leben – brauchen ein Dach über dem Kopf. Der kalte Winter stand vor der Tür. Alle, die noch einen Spaten halten konnten, gruben Rasenstücke aus, klebten sie mit Lehm zusammen und errichteten so die Wände für die Baracken, sechs Meter breit und zwölf Meter lang. Es fand sich auch etwas Holz von verfallenen Gebäuden, (vor der Revolution gab es hier englische Kupferschächte) und so konnten in einer kleinen Werkstatt Fensterrahmen hergestellt werden. Das Dach bastelte man aus Holz, Stroh und Erde; im September konnte die erste Barakke bezogen werden und im Oktober die zweite, weitere folgten.
Ein großes Problem stellte die Trinkwasserversorgung dar, das Wasser war giftig, „Maikuduk“ bedeutet auf Kasachisch „fettes, giftiges Wasser“, und so erkrankten massenhaft Menschen, vor allem Kinder, an Durchfall; viele starben.
Und auch die Versorgung mit Lebensmitteln war sehr schwierig, von den Kasachen war nichts zu bekommen, sie hatten selber nichts und hungerten auch, denn während der Kollektivierung war auch ihnen das Viech weggenommen und zu großen Kolchos Herden zusammengetrieben. Lebensmittelpakete von Verwandten und Bekannten aus der Heimat, sowie aus Deutschland und Kanada brachten nur etwas Linderung. Aber das wachsame Auge der GPU (Geheimpolizei) schlummerte nicht: Die Kulaken haben ja Verbindung mit dem kapitalistischen Ausland! Das sind ja Spione! Hinter Schloß und Riegel mit ihnen! 1934 wurden acht Personen verhaftet, unter ihnen die Prediger Artur Töws <(06.10.1900-20.10.1938), #132298>, Johann Abramowitsch Wiens <(31.10.1904-29.04.1978), #1254732> und Johannes Penner <(13.12.1892-22.09.1976), #1254919>; später verhaftete man noch einmal acht Personen. Unter den Verhafteten waren 13 Familienväter, die 36 Kinder hinterließen. Weitere 17 Familienväter waren im ersten Jahr verstorben, sie hinterließen 21 Kinder; im ganzen gab es unter den Kindern 18 Vollwaisen.
Und als dann die Verurteilten ihre Frist (drei bis fünf Jahre) verbüßt hatten, wurden manche (Artur Tows, David Fröse <(12.07.1901-15.09.1938), #1254734>, Abraham, Wiens und Julius Bergmann <(24.03.1880-22.07.1965), #1157806>) erneut verhaftet und verurteilt, diesmal für acht bis zehn Jahre.
Und dann kam der Krieg; alle Männer über 16 Jahre mobilisierte man wie alle sowjetdeut schen Bürger für die Trudarmee.
Die Mennonitengemeinde Am Trakt in den 30er Jahren. Der Kampf gegen das Kulakentum war für die Mennoniten zugleich ein Kampf gegen ihren Glauben, gegen Sitten und Gebräuche. Das Kirchengebäude in Orloff wurde in einen Getreidespeicher verwandelt, das Kreuz heruntergeschlagen.
Aber auch in Privathäusern durfte man sich nicht zum Gottesdienst versammeln. Und das wagte man bald auch nicht mehr, vor allem nachdem das Schicksal von Hermann Wall aus Medemtal bekannt wurde; er wurde beschuldigt, in seinem Haus Leute versammelt zu haben, um antisowjetische Agitation zu betreiben. So wurde er mit seinen drei Söhnen Gustav, Hermann und Jakob verhaftet.
Und dann gab es die Fünftagewoche. In der kommunistischen Hymne heißt es „Kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“. Wozu also heilige Wochentage? Sonnabend, Sonntag? Fort damit! So kam es zu einem ununterbrochenen Arbeitsrhythmus, jetzt gab es im ganzen Land außer den staatlichen Feiertagen keinen gemeinsamen Ruhetag. Die Mitglieder einer Familie waren nun an verschiedenen Tagen arbeitsfrei; sie konnten sich nicht mehr an einem Tag zusammenfinden; den Gläubigen war der Sonntag geraubt.
Mit besonderem Eifer ging man gegen die Prediger vor, unter den 41 Familien, die in den Mennonitendörfern entkulakisert wurden, waren drei Prediger, die mit ihren Familien nach Kasachstan deportiert wurden.
Aber auch die anderen Prediger ließ man nicht in Ruhe. Bald kam auch die Reihe an den beliebten Prediger Bernhard Thießen <(21.03.1886 – 28.10.1975),#1184688>. Als die GPU-Leute ihn festnahmen, stimmte er das Lied an „Soll ich des Kreuzes Streiter sein und Jesu folgen nach“, er sang das Lied bis zu Ende, während die GPU-Schergen in seinem Haus wüteten, er wurde verurteilt und schmachtete zehn Jahre in der Verbannung.
Im Folgenden soll das Schicksal zweier Prediger beschrieben werden:
Julius Johannesowitsch Siebert (1887-1943). Siebert wurde 1930 verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt; er verbrachte die Verbannung im fernen Osten, nach acht Jahren kam er frei. Es gab nämlich eine teuflische Verordnung. Um die Arbeitsleistung der Verurteilten zu steigern, gewährte man ihnen Verkürzung der Strafe, wenn sie an einem Tag die Leistung von zwei Tagen erbrachten. Die armen Menschen schufteten dann in Schweiß gebadet, um das Wiedersehen mit ihrer Familie zu beschleunigen. Als Siebert freikam, verbot man ihm, in sein Heimatdorf zurückzukehren; er lebte dann mit seiner Familie in einem deutschen Kolonistendorf. Bald wurde er erneut verhaftet, man beschuldigte ihn, gepredigt zu haben; ein verleumderischer Brief, von unbekannter Hand geschrieben, war der Anlass. Nach sechs Monaten ließ man ihn frei. 1941 wurde Julius Siebert wie alle anderen Deutschen mit seiner Familie nach Sibirien verschleppt, er kam dann zur Trudarmee, in der er 1943 starb.
Traurig war das Schicksal seiner unmündigen Kinder. Der jüngste Sohn Wohlgemut wurde erst nach des Vaters Verhaftung geboren; er sah seinen Vater zum ersten mal nach seinem siebten Geburtstag. Die Gattin Elisabeth Siebert, mit ihren sechs Kindern von Haus und Hof vertrieben, musste als Frau eines “Volksfeindes“ schwere Arbeit in der Hühnerfarm einer Kolchose verrichten; dabei kürzte man ihr oft willkürlich den mühsam erarbeiteten Verdienst. <Emilie Siebert – die Tochter von Julius Siebert, schreibt in ihren Erinnerungen etwas ausführlicher über ihre Familie>
Julius Petrowitsch Bergmann (1880-1965). 1912 wählte die Gemeinde Julius Bergmann zum Prediger. Um das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, fuhr er nach Deutschland, um in Berlin an der Bibelschule zu studieren. Nach Ausbruch des Krieges kam er nach Russland zurück und nahm seinen Dienst in der Gemeinde auf.
Am 1. April 1927 wurde seine Mühle enteignet. Unglücklicherweise brannte sie einige Tage später durch die Nachlässigkeit des neuen Maschinenwarts ab. Julius Petrowitsch wurde sofort verhaftet und als Brandstifter zu fünf Jahren Haft verurteilt. Doch es gab Menschen, die sich für ihn einsetzten. Die Sache wurde von neuem untersucht, und nach fünf Monaten Haft kam Bergmann nach Haus.
Bei der Entkulakisierung war er dann aber einer der ersten, er kam samt seiner Familie nach Karaganda. Der jüngste Sohn, der sechs Monate alte Julius, starb gleich nach der Ankunft;. drei Monate später starb die, siebenjährige Tochter Maria, und nach einem weiteren Monat eine fünfjährige Tochter. Und schon im nächsten Jahr – 1933 – starb auch die Mutter Anna Bergmann. 1934 verurteilte man Julius Petrowitsch zu fünf Jahren Haft, zurück blieben fünf elternlose Kinder: Johannes 16 Jahre, Elisabeth 13 Jahre, Paul 11 Jahre, Anna 10 Jahre, Kornelius 7 Jahre.
Nach fünf Jahren – 1939 – kam Julius Petrowitsch nach Hause. Doch die Freiheit währte nicht lange; schon am 5. März 1940 verhaftete man ihn wieder und verurteilte ihn zu acht Jahren. Erst nach dem Krieg, am 12. März 1948 kam Julius Petrowitsch zu seinen Kindern und Enkeln nach Karaganda, wo er am 22. Dezember 1965 starb.
Die Mennonitengemeinde im Bezirk Karaganda. In Maikuduk versammelten sich die Vertriebenen an Sonntagen, und in den Baracken wurde Gottes Wort gelesen und gebetet. Das passte der GPU nicht, und schon 1934 wurden sechs der leitenden Brüder verhaftet, darunter drei Prediger, die schon Am Trakt eingesegnet waren – Johannes Penner, Artur Töws und Julius Bergmann. Sie wurden zu fünf Jahren, Abraham Wiens und David Fröse zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Peter Wiens <(08.08.1884 – 23.05.1934), #1254723> starb während der Untersuchungshaft. Nach Ablauf der Haftzeit wurden die anderen freigelassen und kamen nach Maikuduk zurück; doch schon bald wurden Artur Töws, Abraham Wiens und David Fröse emeut verhaftet; sie kamen nie wieder zurück, und was mit ihnen geschah, ist unbekannt.
So lebten die Mennonitenfrauen und Greise während des Krieges und in den Jahren danach (Zeit der Sonderkommandantur) in Angst und ohne sich zu Gottesdiensten versammeln zu können. Aber der Wunsch und das Verlangen, Gottes Wort zu hören, wurden immer stärker, darum baten einige alte Brüder den Prediger Johannes Penner, der Gemeinde erneut zu dienen. Er willigte ein, wohl wissend, was das für Folgen haben könnte. Und Gott gab Gnade.
So versammelten sich die Mennoniten am ersten Adventssonntag 1957 wieder zum Gottesdienst; zunächst einmal in zwei Wochen, später jeden Sonntag. Die Andachten wurden in den Wohnungen der Gläubigen gehalten. Die Bemühungen, die Erlaubnis zum Bau eines Gotteshauses zu erhalten und die Gemeinde registrieren zu lassen, blieben zunächst erfolglos.
Dann endlich – 1975 – wurde die Gemeinde registriert, und die russische Brüdergemeinde erlaubte den Mennoniten, sonnabends und sonntags zwei Stunden in ihrem Haus Andachten zu halten. Auch an Freitagen durften abends in diesem Haus Singstunden durchgeführt werden.
Und 1984 kam dann für die Mennoniten die Erlaubnis, ein eigenes Bethaus zu bauen. Im Frühling 1985 begann die Arbeit. Am Bau beteiligten sich alle Gemeindeglieder, Männer und Frauen, etwas mehr als 400 Menschen. Zur Einsegnung des
Hauses waren aus vielen Gemeinden Gäste gekommen. Mit Predigt, Liedern und Gedichten, wurde der himmlische Vater gepriesen.
Nach der Auswanderung der meisten Mennoniten aus Karaganda wurde das Haus später der Baptistengemeinde übergeben.
Zunächst hatte die Gemeinde keinen eingesegneten Ältesten. Dann kam aus Kirgisien der Älteste Johann Penner und segnete den inzwischen schon gewählten Jakob Thießen und fünf weitere Prediger ein, das waren die Brüder Heinrich Borgen, Johann Wiens, Julius Siebert <(17.06.1925 – 22.05.1996), #1006965> und Pötluer. Jakob Fröse <(15.02.1905 – 20.09.1988), #1253853> wurde zum Diakon eingesegnet; dies geschah am 27. November 1966.
Im Januar 1977 wurde Julius Siebert zum Ältesten gewählt und später von Jakob Thiessen eingesegnet. Im April 1980 wanderte Thiessen nach Kanada aus.
Julius Siebert hat als Ältester kein leichtes Leben gehabt; er war ständig unter der Kontrolle der NKWD und wurde häufig besucht und angerufen; er stand bis zu seiner Auswanderung 1991 der Mennonitengemeinde in Karaganda vor.
Ade, liebe Heimat Am Trakt! In dem kleinen Dorf Medemtal, dem jüngsten und ärmsten der Mennonitendörfer Am Trakt, hatten einmal 41 Mennonitenfamilien mit 111 erwachsenen Männern gelebt. Durch Entkulakisierung und Verfolgung verlor das Dorf 33 Männer, von denen elf erschossen wurden; (in den anderen Mennonitendörfer waren die Verluste noch größer).
Und dann kam der 28. August 1941, der Tag, an dem die Vertreibung beschlossen wurde. Alle Mennoniten mit Frauen und Kindern wurden danach in die Weiten Sibiriens verbannt und mussten in den Lagern der NKWD ihr Leben fristen.
Gleich nach dieser Vertreibung verloren alle deutschen Dörfer der Wolgarepublik also auch die Mennonitendörfer – ihre deutschen Namen. Aus Lysanderhöh wurde Kalinino, zu Ehren des Vorsitzenden des Obersten Sowjets Kalinin, der das Todesurteil der Wolgadeutschen Republik unterzeichnet hatte. Medemtal hieß jetzt Molotowo, Ostenfeld Woroschilowo, Köppental Kirowo, Fresenheim Tschapaewo. Die ehemaligen Dörfer Lindenau, Hohendorf und Orloff wurden keines Namens gewürdigt. Nach dem Krieg fand man in Medemtal kein einziges Haus mehr.
Herbst 1955 – zwei Jahre nach Stalins Tod – besucht Bundeskanzler Konrad Adenauer Moskau. Die Russlanddeutschen leben jetzt schon zehn Jahre unter strenger Sonderkommandantur: Ohne Genehmigung aus Moskau durften sie den Verbannungsort nicht verlassen. Sie waren verpflichtet, sich jeden Monat bei ihrem Kommandanten im Gebäude der NKWD mit eigenhändiger Unterschrift zu melden und damit zu bestätigen, dass sie noch lebten und am Ort waren. Eigenwilliges Verlassen des Verbannungsortes wurde mit langjährigem Gefängnis bestraft.
Nach Adenauers Besuch, als wir uns wieder einmal bei der Kommandantur meldeten, erklärte man uns, dass wir von Stunde an freie Bürger seien, wir brauchten uns nicht mehr zu melden, könnten unseren Wohnort verlassen, dürften aber nicht in die ehemalige Heimat zurückkehren. Und dann gab man uns diskret einen Zettel zur Unterschrift. Damit sollten wir bestätigen, dass wir uns von unserem ehemaligen Haus, Hof und Eigentum lossagten und keine Anforderungen an den Staat stellen würden. Mit zitternder Hand unterzeichnete man.
Ade, liebe Heimat Am Trakt! Was nun? Nach jahrelanger Verbannung und Sklavenarbeit hinter Stacheldraht war uns nichts geblieben als ein paar Lumpen auf dem Leib und eine geschwächte Gesundheit. Groß war die Sehnsucht nach der Familie, nach Frau und Kind, Vater und Mutter, Bruder und Schwester. Man wollte alle, die noch am Leben waren, aufsuchen und die Familie neu aufbauen.
Viele der Mennoniten aus Sibirien fanden Aufnahme bei Verwandten und Bekannten in Kasachstan, bei den einst vertriebenen Kulaken vom Trakt. Hier entstand eine Mennonitengemeinde mit eigener Kirche. Doch später, durch Auswanderung nach Deutschland zerfiel auch diese Gemeinde.