Erinnerungen von Emilie Wall, geb. Siebert

Diese Erinnerungen habe ich von Peter Wall bekommen. Emilie Wall war seine Mutter. Ihre Eltern waren Julius Siebert (09.03.1887-1943), GRANDMA #1015425 und Elisabeth, geb. Korn. Pauls (ca.1888-????), GRANDMA #1015424. Emilie Wall beschreibt hier ihre Kindheit in Ostenfeld, Am Trakt und die Kriegsjahre in Sibirien, Gebiet Tomsk. Ich habe zu einigen Personen, die im Text erwähnt wurden, in <> Daten hinzugefügt. AW

 

Es war einmal 

von Emilie Wal (geb. Siebert)

1 Vorwort

Geschrieben von einer einfachen Frau mit nur Grundschulbildung. Sie möchte aber ihren Enkelkindern mit einfachen Worten etwas aus ihrer Kindheit erzählen.

Geboren am 26. Februar im Jahre 1929 im Dorf Ostenfeld, Lysanderhöher Kanton, in der Autonomen Sozialistischen Sowjet Republik der Wolga-Deutschen (ASSRdWD).

Diese Erinnerungen darf man nicht auf Jahr und Tag prüfen, weil die Zeit schon zu weit zurückliegt, es gibt nur ein Ungefähr. Aber was geschrieben ist, ist alles wahr.

2 Erzählungen von Geschwistern und Mutter

Die Winde im Februar wehen,
sie heulen im Schornstein so sehr.
Und als ob Schlangen sich winden,
wirbelt Pulverschnee hin und her.

(Aus dem Russischen übersetzt)

„Дуют ветры в феврале,
Воют в трубах громко.
Змейкой вьется по земле
Легкая поземка.“

(Самуил Маршак)

Emilie als junge Frau in Sibirien

Im Jahr 1929 war der Februar sehr stürmisch. Besonders am 26. jagte der Wind wie wild durch die Steppe. Das war ein Heulen und Pfeifen. Mit großer Geschwindigkeit jagte er dahin. Kein Wunder, da war ja auch kein Hindernis. Kein Strauch, kein Baum. Er meinte wohl er sei der Herr der Steppe. Doch sieh da, es stellte sich ihm plötzlich ein Dorf in den Weg, namens Ostenfeld.
Das gefiel ihm gar nicht. Er rüttelte wütend an den Türen, Fensterläden, Dächern und Scheunen. Wehe, wenn etwas nicht nagelfest war. Dann fuhr er mit schrillem Pfiff in die Schornsteine, von dort wieder mit hohlem Ton zurück, das war schauerlich mit anzuhören. An diesem Tag erblickte in der Familie von Julius und Elisabeth Siebert das elfte Kind das Licht der Welt. Es war ein ganz mickriges Mädchen, mit dünnen Beinchen, faltigem Gesicht und es piepste wie ein Mäuschen. Aber die Eltern nahmen es liebevoll auf, nannten es Emilie, wickelten es in Windeln und Deckchen, legten es in einen Korb, stellten es ganz nahe an den Ofen, den wärmsten Platz, den es in der Stube gab. Der Vater seufzte: Ob ihr Leben auch so stürmisch sein würde? Am nächsten Tag durften die Kinder ihr neues Schwesterchen begrüßen. Die Jüngsten bewunderten es. Ani sagte: „Julius, schau mal, welch kleine Fingerchen und weiche Härchen. Mama, darf ich mal bisschen streicheln?“ Die älteren Schwestern dachten wohl: „Oh, oh, da gibt es wieder Windeln zu waschen.“ Der älteste Bruder, Hans, stand dabei mit unbeweglicher Miene und steifem Hals. Mutter gefiel der Blick nicht, mit dem er seine neue Schwester betrachtete. Ob die Kleine je einen Weg zu seinem Herzen finden wird?
Vater sagte zu Hans: „Geh mal nach Onkel Peter < Peter Siebert (15.01.1886-17.09.1933), GRANDMA #132300. AW> (Vaters Bruder und Hansens Lieblingsonkel) und sage ihm, dass du jetzt sechs Schwestern hast.“ Hans ging, drückte die Mütze tief in die Stirn, denn er musste noch tüchtig gegen den Sturm ankämpfen. Auf sein Klopfen öffnete der Onkel die Tür: „Oh Hans, du, in diesem Sturm? Guten Tag, aber komm schnell herein, ich schließe noch schnell die Tür. Ja Hans, solchen Sturm haben wir schon lange nicht gehabt.“ Hans schwieg. Der Onkel schaute ihn an und fragte: „Hans, wolltest du etwas sagen?“ Da stieß er hervor: „Schun wada eine Schwasta (Schon wieder eine Schwester).“ Der Onkel lachend: „Ja Hans, ich weiß, du hättest lieber einen Bruder gehabt. Da kann man nichts machen, das verstehst du doch schon, bist 18 Jahre und bald erwachsen. Pass mal auf, ob diese kleine Schwester dir vielleicht noch zu großem Nutzen sein wird.“  Ob ich ihm von großem Nutzen geworden bin, weiß ich nicht, aber er wurde mir zu großem Nutzen, denn im Jahr 1930 wurde Vater verhaftet und da musste er Vaters Stelle an mir vertreten.
Wie im Fluge waren fünf bis sechs Monate verstrichen. Mama arbeitete im Garten, zwischendurch ging sie mal nachsehen, was ihre jüngste Tochter macht. Sie öffnete die Tür ganz leise, was sie da sah ließ ihr Herz schneller schlagen. Hans hatte sich über die Wiege gebeugt und lächelte seiner kleinen Schwester zärtlich zu. Die kleine zappelte mit Händen und Füßen, gab auch gurgelnde Töne von sich und bettelte, um genommen zu werden. Mutter schloss leise die Tür und ging mit leichtem Herzen an ihre Arbeit, es ist ja alles gut geworden. Und im Jahre 1931 bekam Hans doch noch einen Bruder. Somit waren wir jetzt neun lebende Kinder, drei sind im Kindesalter gestorben:
Elisabeth *1910, im Kindesalter gestorben
Hans      *1911 – † 1988
Helene   *1912 – †1984
Marie     *1914 – †1943
Elisabeth *1916 – †1986
Ernstiene *1918 – † 1972
Gustav     *1920, im Kindesalter gestorben
Anna       *1923 – †2017
Julius       *1925 – † 1996
Martha     *1927, im Kindesalter gestorben
Emilie         *1929 – †2019
Wohlgemut *1931 – † 2017

Es war ungefähr in den Jahren 1934–1935. Nach dem Zusammenbruch der Zarenregierung, nach der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg, brach auch die Wirtschaft zusammen. Die Bauern waren enteignet, kein Pferd, keine Kuh noch Schwein oder Schaf, auch kein Huhn war mehr da. Die Ställe waren leer. Wir spielten Versteck in den leeren Ställen. Die Kolchose (Kollektivwirtschaft) war schon organisiert, die Leute sollten in den Kolchosen arbeiten und ihre Nahrungsmittel von der Gemeinschaft bekommen. Die Kolchosen wurden aus Moskau dirigiert, aber die großen Kerle, die dort am Ruder saßen, verstanden nichts von Saat und Ernte. Das Getreide und auch der Samenweizen war den Bauern genommen worden, weil in den Städten die Leute schon hungerten. Was jetzt? Irgendwann und irgendwie wurde dann doch noch etwas gesät, aber schon zu spät. Das Land war schon zu trocken, so gab es auch eine sehr schwache Ernte. So und so viel musste noch dem Staat abgeliefert werden. Die Leute bekamen nur ganz wenig von der Ernte zu sehen.

3 Die Verhaftung des Vaters

Julius Siebert

Ende der zwanziger Jahre fingen die Verhaftungen an. Es wurden Menschen gesucht, die bereit waren, falsches Zeugnis zu geben, auf Grund dessen der Angezeigte verurteilt werden konnte. Unser Vater war Prediger und wurde im Jahr 1930 als einer der Ersten darauf angesprochen. Er wurde ins NKWD (später KGB (Geheimdienst)) gerufen und ihm wurde angeboten: „Wenn du für uns arbeiten wirst, bleibst du Zuhause. Wenn nicht, kommst du ins Gefängnis. Überleg es dir gut, du hast eine große Familie. In zwei Wochen erwarten wir eine Antwort.“
Nach zwei Wochen ist Vater mit Hans nach Engels gefahren. Vor dem Gebäude des NKWD sagte er zu Hans: „Ich geh jetzt in diese Tür rein und komme nicht mehr raus. Nach zwei Stunden gehst du rein und fragst, wo ich geblieben bin.“
Nach längerer Zeit ging Hans in die gleiche Tür rein und fragte nach seinem Vater. Sie stellten sich unwissend und antworteten ihm: „Er ist nicht hier.“ Hans ließ nicht locker und sagte: „Er ist aber hier reingegangen.“ Dann sagten sie zu ihm: „Ah, du suchst den Julius Siebert? Er kommt nicht mehr. Geh Nachhause und sag, dass ihr euch in Engels irgendwo getrennt und nicht mehr zusammengefunden habt.“
Erst nach acht Jahren kam Vater zurück.

Lauwe 1939. Julius Siebert nach seiner 8-jährigen Haft mit Frau Elisabeth geb. Pauls und den jüngsten Kindern Sohn Wohlgemut und Tochter Emilie

Soweit aus den Erzählungen von Geschwistern und der Mutter.

4 Erste Erinnerungen

Wie im Nebel, aber gut sichtbar, sehe ich zwei Häuser stehen im Abstand von ca. 100 Metern, mit gemeinsamem Hof, mit Turnstange und Rundschaukel. In diesen Häusern wohnten zwei Brüder: Peter und Julius (unser Vater) Siebert. Aber zu dieser Zeit waren die Väter schon nicht mehr da. Unser Vater war schon verhaftet und Onkel Peter geflohen nach dem Kaukasus. Am Flüsschen Kuban hatte er sich mit seiner Familie angesiedelt. Dort starb er, auch seine älteste Tochter Marie. Wie komisch oder unmenschlich es auch klingen mag, die ganze Verwandtschaft atmete erleichtert auf, als sie erfuhr, dass Peter gestorben sei. Man hörte so manches „Gott sei Dank, dass er noch einen natürlichen Tod gestorben ist“, denn es wurde immer noch nach ihm gefahndet.
Hier wird die Sicht schon etwas klarer. Diese beiden Häuser gefielen den Sowjets für Schulen. Es mussten ja neue Schulen eingerichtet werden, mit neuen sowjetischen Programmen. Eines Tages kam Hans mit dem Wagen auf den Hof gefahren und sagte: „Ma, wir müssen unser Haus räumen, denn sie wollen Schulen daraus machen. Sie haben nur erklärt, dass es sehr passend sei, zwei große Häuser mit gemeinsamem Hof als Schule zu nutzen.“ So wurden im Haus von Onkel Peter die Klassen eins bis vier und in unserem die Klassen von fünf bis sieben eingerichtet. Später ging ich auch in diese Schule. Kurzum, unsere ganze Habseligkeit wurde aufgeladen. Wolli und ich saßen oben und schauten fröhlich nach allen Seiten. Was das zu bedeuten hatte, wussten wir nicht (wir waren zwei und vier Jahre alt). So zogen wir in ein Haus, wo schon zwei Familien wohnten. Da ging es jetzt lustig zu, denn die anderen Familien hatten auch Kinder.
Unlängst las ich ein Buch mit dem Titel: „Gottes Raben fliegen noch“. Unsere Raben mussten auch fleißig fliegen. Immerhin ist in den folgenden acht Jahren niemand des Hungers gestorben, obwohl in der Bevölkerung sehr viele Menschen starben. Aber zur Hungersnot kam auch noch das Leid, als Kinder eines sogenannten Volksfeindes verachtet zu werden. Meine älteren Geschwister waren schon erwachsen, aber nicht würdig in der jungen Sowjetunion zu arbeiten (sie sollten ausgemerzt werden). Aber Gott sei Dank, dass größte Ruder der Welt hält ein anderer in der Hand und lenkt die Völker wie Er will. Doch wenn die Menschen nicht so wollen wie er will, bereiten sie sich selbst den größten Schaden.
So kam es das Hans, Helene, Elisabeth und Marie ein ganzes Jahr rumlungerten und sich schämten, auf die Straße zu gehen. In dieser Zeit waren sie auch psychisch angeschlagen. Eines Tages brach Elisabeth zusammen. Sie lag nur noch, wollte nicht essen noch trinken, alles Zureden der Mutter half nichts. Sie starrte nur mit hohlen Augen nach oben. Da kochte Mama eine extra Suppe und versuchte, sie dazu zu überreden: „Sieh mal, Lieschen“, sagte sie zärtlich, „solch schöne Suppe mit dicken Riebeln, nur für dich gekocht.“ Da schlug sie mit der Hand nach dem Teller und hätte beinah die kostbare Suppte vergossen. Das sah Hans. Er nahm der Mutter den Teller aus der Hand, ging zu Elisabeth und sagte: „Jetzt horch mal, Schwester, was ich dir sage: Wenn du nicht essen wirst, so wirst du sterben, das weißt du doch. Was soll ich Papa sagen, wenn er kommt und du nicht mehr da bist?“ (Ich vermute, dass Vater ihm die Familie ans Herz gelegt hat). Da schrie sie laut mit unnatürlicher Stimme: „Pa!“ und fing an zu weinen. Hans ließ sie ein Weilchen weinen, dann sagte er: „Na siehst du, jetzt nimm deine Suppe und iss, dass du wieder zu Kraft kommst.“
Ein Wunder war geschehen: Lieschen aß ihre Suppe, legte sich hin, schlief lange und schlief sich gesund.
Langsam war es Winter geworden. Wie schon erwähnt, wohnten wir nicht mehr in unserem Haus. Hans durchstöberte den Dachboden des uns zugewiesenen Hauses und fand eine Tarine (einen Kochtopf) mit gerösteter Gerste. Da lasen wir immer die helleren Körnchen heraus, bis der Topf leer war. Das dauerte vielleicht eine Woche. Eines Tages kam Ernstiene mit einem hartgefrorenen Huhn nach Hause. Mama schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: „Wo hast du das her?“ „Ich habe es auf Neufelds ihrem Misthaufen gefunden.“ „Und was willst du damit?“ „Na, natürlich essen.“ „Aber Ernstinchen, das kann man doch gar nicht essen.“ Sie: „Doch Mama, das kann man essen, ich mache das ganz alleine.“ Nach zwei Stunden zog schon ein Fleischgeruch durch die Stube und wir zogen mit Behagen diesen Duft durch die Nase. Es lief alles gut ab. Das Fleisch wurde genossen, niemand hatte sich vergiftet.
Aber bald war Wolli dran. Er wurde immer stiller, saß auf seinem Stühlchen am Tisch, nickte nur noch mit dem Kopf und sagte bei jedem Nicken: „Ete (Essen).“ Hans saß in einer Ecke und lass in einem Buch. Ich denke, es war die „Weltgeschichte“, die las er besonders gern. Er redete auf Wolli ein: „Du siehst doch, Mama hat den Topf schon auf dem Herd, bald ist die Suppe fertig.“ Aber das „Ete, Ete“ ging weiter. Da sprang Hans auf, packte Wolli bei den Schultern, schüttelte ihn, gab ihm einen Klaps und rief: „Hör doch endlich mal auf, das ist ja nicht mit anzuhören“. Wolli hob langsam den Kopf und schrie: “Ete!“ Ich sah noch, wie Hans die Tränen in die Augen stiegen, dann verließ er fluchtartig die Stube.
Am Abend dieses Tages sagte unsere schwergeprüfte Mutter: „Kinder, heute bleibt ihr alle zu Hause, auch du Hans. Ich muss unbedingt mal ins Dorf gehen.“ Niemand wiedersprach. Ansonsten gingen die älteren Geschwister am Abend hin und wieder aus zu ihren Freunden oder Verwandten. Da bekamen sie manchmal etwas zu essen oder brachten einen Laib Brot mit. Mama nahm ihr großes Umschlagtuch um die Schulter und ging. Nach geraumer Zeit kam sie zurück mit freudig flackernden Augen (diese flackernden Augen hatte nur Hans von ihr geerbt) und sagte: „Hans, ich war bei Tante Käthe <Käthe Siebert, geb. Jak. Fröse (09.03.1900-10.02.1943), GRANDMA #1253843. AW> (sie war die Frau von unserem Onkel Kornelius <Kornelius Siebert (02.12.1884-31.01.1938), GRANDMA #1253844. AW>), sie sagte in der Käserei (Molkerei) kann man Molke bekommen, das wird besser sein als nur die Wassersuppe. Und tatsächlich brachte Hans am nächsten Tag einen Eimer Molke. Er sagte zu mir: „Miluschchen, jetzt trinken wir mal erst von der Molke.“ Oh, das schmeckte… „Dort haben sie mir gesagt, ich könnte jeden Tag einen Eimer voll bekommen“. Am nächsten Tag zeigte Mama uns die Molke, darauf hatte sich eine weiße Schicht gebildet. „Das ist Fettgehalt, von nun an werden wir jeden Tag zweimal Molkesuppe essen, ihr werdet sehen, eure Glieder werden kräftiger werden“, sagte sie.
Es war richtig so, als ob wir kräftiger wurden, die Molke hatte ein Wunder getan. Aber irgendwann war ich an der Reihe: Ich war immer müde und wollte nicht aufstehen. Da sah meine älteste Schwester Helene eines Tages eine Maus. Sie hatte sofort einen Plan und führte ihn auch aus. Sie stellte eine Falle auf, die Maus geriet tatsächlich hinein, ihr wurde das Fell abgezogen und es gab eine köstliche Fleischbrühe für mich. Sie goss davon in ein Tässchen und sagte: „Dies trinkst du heute, den Rest morgen zwischen den Malzeiten.“ Dann zeigte sie mir so etwas wie ein kleines Stückchen Fleisch und sagte: „Das ist ein Mauseschinken, den anderen geben wir Wolli, aber die Brühe bekommst du und wirst wieder froh, ja?!“ Ich konnte nur mit dem Kopf nicken und genoss meine Mausefleischbrühe. Ich war noch im Vorschulalter. „Danke, liebe Schwester!“ Dieses rufe ich dir nach, die du schon lange in der Ewigkeit beim Herrn bist.
Nach einem Jahr, als Mama anfing mir Zöpfchen zu flechten, da wurde ich geneckt von meinem Bruder Julius. Er meinte, sie sähen wie Rattenschwänzchen aus. Ich heulte: „Es sind keine Rattenschwänzchen.“ Ich lief zu Hans, er ließ meine Zöpfchen durch seine Finger gleiten und sagte: „Nein, nein, das sind keine Rattenschwänzchen, das sind Mäuseschwänzchen, weil du mal eine Maus gegessen hast.“ Dabei guckte er mich so freundlich an, dass ich mich gar nicht mehr ärgern konnte und sah wie er über meinem Kopf mit dem Finger meinem Bruder Julius drohte.
Als ich mal ungehorsam war, Mama nicht gehorchen wollte, dann rief Hans mit der Stimme eines Vaters: „Miluschchen, komm mal her.“ Ich ging langsam mit dem Finger im Mund (das war ein Übel, das ich lange nicht lassen konnte, aber bis zur Schule schaffte ich es doch) auf ihn zu, er drückte mich an seine Seite oder ließ mich auf seinen Knien reiten, dann sagte er: „Weißt du auch, warum du so ungehorsam bist? Das ist, weil du mal bei großem Sturmwetter geboren wurdest, aber das wird sich schon mit der Zeit geben. Von heute an wirst du immer der Mama gehorchen, ja?!“ Ich sage: „Ja!“ Ob es immer so gewesen ist, weiß ich nicht, aber der Entschluss war gefasst.
Wie bekannt, bleibt ja die Zeit nicht stehen. So verging auch dieser schreckliche Winter. Irgendwann fragte ich: „Mama, du hattest doch gesagt, du hast kein Mehl mehr, aber du kochst immer noch Suppe.“ „Weist du, die Raben waren gestern wieder da, von welchen ich dir erzählt habe“ antwortete sie. „Die dem Elias Brot brachten, als er am Bach Krit lebte. Da schickte Gott einen Raben, der ihm Brot brachte und ein Engel sagte, er solle essen und trinken, sich stärken und weiterleben. So macht Gott es auch mit uns, auf das wir essen und weiterleben können.“ „Aber warum kommen sie immer am Abend? Wenn ich am Tage draußen bin und ein Rabe vorbeifliegt, gucke ich immer nach oben, ob er nicht ein Stück Brot fallen lässt für mich.“ Da nahm Mama mich in den Arm und erklärte mir, dass es unsre lieben Verwandten und Bekannten sind, die uns nicht im Stich lassen. Unser Vater war ja der Erste, der verhaftet wurde, daher auch die große Armut. In den anderen Familien, wo der Vater noch da war, ging es doch noch etwas besser, weil sie aus dem Kolchos doch etwas Getreide bekommen hatten, eine Kuh stand bei manchen auch schon wieder im Stall. Sie teilten gerne mit uns. Ja, in größter Not sind die Menschen barmherziger, das weiß ich aus eigener Erfahrung, da zählt nur der heutige Tag und nicht was morgen oder übermorgen kommen wird. „Der Engel des Herrn lagert sich um die, die ihn fürchten und hilft ihnen aus.“ (Psalm 34, 8)
Es war Frühling geworden. Hans ging ins Kontor der Kolchose. Dort sagten sie ihm, in diesem Jahr dürften sie auch arbeiten. Das war eine große Freude im ganzen Haus. Hans, Helene, Elisabeth und Marie dürfen arbeiten: Hurra, dann gibt es ja im Herbst wieder was zu essen! Aber Hans meinte: „Heute müssen wir aber erst auf Pifferjagt gehen, um dass wir heute was zum Essen haben.“ Die „Piffer“, wie wir sie nannten, waren die Ziesel Mäuse. Sie sind etwas größer als Ratten, haben hellbraunes Fell und können wunderbar pfeifen. Sie wohnen in Getreidefeldern. Sie graben einen Korridor schräg in die Erde, vielleicht zwei Meter lang, dann gibt es die Stube und dann kommt das Loch, das auch der Eingang wird, senkrecht hoch. Das anfängliche Loch, wo die Erde rausgeschleppt wird, wird zum Schluss fest verschlossen. Im Winter lebt die ganze Familie unter der Erde und die Jungen werden erwachsen. Im Frühling verlassen sie die elterliche Behausung. Die Jünglinge gehen auf Brautschau aus. Da hört man die werbenden Pfiffe. Wenn sie ein Mädchen gefunden haben, wird eine eigene Behausung gebaut. Wenn gegen sie nicht gekämpft wurde, fügten sie der Ernte einen großen Schaden zu. Die Halme wurden unten abgeknabbert, die Körner in den Mund gestopft und heimgetragen für die junge Generation. Für den Winter musste auch gesorgt werden.
Also wurde eine Expedition zusammengestellt. Hans an der Deichsel des Wagens (er war das Pferd). Elisabeth und Helene schoben den Wagen mit dem Fass Wasser. Ich trottete nebenher. Da sagte Helene: „Was, du willst auch mit?“ Ich piepste: „Ja.“ „Du bist ja so klein und schwach und der Weg ist weit, stachlig und stopplig“, denn wir gingen alle barfuß. Und sie meinte, ich sei so „muckrig“. Ich schaute mit dem Finger im Mund auf Hans und Hans auf mich. Dann sagte er: „Ach lass sie doch mitkommen, sie wird es schon schaffen, wenn sie auch piepst wie ein Sperling, aber sie ist zäh.“ Da sprang mein kleines Herz vor Freude, ich hätte ihn umarmen können. Aber dazu war keine Zeit. Los ging es über Stock und Stein und Stoppelfeld. Endlich fanden wir ein Loch. Hans untersuchte es und meinte: „Er ist zuhause“. Jetzt wurde Wasser ins Loch gegossen, gurgelnd lief es hinunter. Auf einmal war das Loch voll. Hans meinte: „Jetzt hat der das Loch mit dem Hinterteil zugestopft.“ Wir warteten vielleicht fünf Minuten, dann ging das Wasser weg. Jetzt wurde es spannend. Hans goss noch etwas Wasser nach, dann hielt er seine Hand ganz nahe ans Loch und wartete. Und tatsächlich, es erschien ein nasser Kopf. Hans packte ihn am Genick, ein Schlag auf den Kopf, das Messer in die Gurgel, das Blut spritzte nach allen Seiten. Er fasste ihn an den Hinterbeinen, ließ das Blut auslaufen und warf ihn in den Wagen. Das ging alles sehr schnell. Ich hatte noch nie gesehen, wie man ein Tier tötet und zitterte am ganzen Leibe. Hans schaute auf mich und lachte: „Na, Miluschchen, Angsthase, was?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das musst du überwinden.“ Da nickte ich. Das war meine erste und letzte Pifferjagt, ich wollte nicht mehr mit. Dieses Mal fingen wir noch mehr und es gab ein gutes Mittagessen.
Im Sommer arbeiteten die Geschwister dann in dem Kolchos mit Freuden, bei schwerer Arbeit und schmaler Kost. Es gab etwas Brot und mittags wurde auf dem Feld eine Suppe gekocht. So wurde es langsam Herbst. Zu jener Zeit wurde das Getreide noch in Garben gebunden und zu je sechs Garben auf einen Haufen gesetzt. Später wurde es dann zusammengefahren und gedroschen. Die Ernte ging dem Ende zu. Eines Tages, es war schon dunkel, zog Hans seine Arbeitskleider wieder an und wollte gehen. Da fragte Mama: „Hans, wo willst du jetzt noch hin?“ „Ich will stehlen gehen.“ „Nein Hans, das wirst du nicht.“ „Doch, das werde ich von jetzt an, stehlen und lügen, so wie ich kann. Meinst du, ich will nochmal so einen Winter erleben?“ „Aber Hans, in der Bibel steht, dass Stehlen Sünde ist.“ „Ja Mama, das weiß ich, aber da steht auch, dass dem Ochsen, der drischt, soll man nicht das Maul zubinden.“ „Das stimmt, Hans, aber wir werden doch bald Weizen auf die Einheiten bekommen. Ihr habt doch den ganzen Sommer gearbeitet. Dann wird der Winter nicht so schlimm werden, wie du meinst. Du sagtest doch immer, die Ernte sei ganz gut.“ „So, jetzt horch mal, Mama, was ich dir sage: Die Ernte ist ganz gut, aber es muss so viel abgeliefert werden, für die Arbeiter bleibt nichts mehr übrig.“
Also Hans ging stehlen! Und Mama saß zuhause und betete. Eine, zwei Stunden, ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Er brachte auch einen Eimer voll Weizen und schwärmte: „Jetzt werde ich jede Nacht einen Eimer voll holen, dann gibt es in einer Woche einen Sack voll. Mutter, verstehst du was ein Sack Weizen für uns bedeutete?“ „Natürlich weiß ich das, aber…“ „Keine Angst Mutter, es klopfte hinter jedem Haufen, aber keiner hat keinen gesehen.“
„Oh!“ Mit Schrecken sah Hans am nächsten Tage, dass die Garben zusammengefahren wurden zum Dreschen. Ich nehme an, das war die Antwort auf Mutters Gebet.
Der Winter nahte so langsam, die Bäume standen blätterleer, die Vögel waren schon alle südwärts gezogen. Es sah alles so öde und leer aus in der Natur. In den Vorratskammern sah es genau so öde und leer aus… Man merkte schon, dass auch in diesem Winter Schmalhans Küchenmeister sein würde. Hui, jetzt tobte schon der Winter. Aber der Frost war noch nicht sehr stark. Die Kinder tummelten sich mit ihren Schlitten auf den Straßen. Nein, dieser Winter wurde nicht so schlimm wie der vergangene. Etwas Weizen hatten sie doch noch für ihre Arbeit bekommen. Helene, Elisabeth und Marie kamen in die Milchfarm als Melkerinnen. Sie mussten zehn Kühe dreimal täglich melken. In der Farm waren über 100 Kühe, die sie den Leuten weggenommen hatten.
Ja, die Not macht erfinderisch! Elisabeth war die „Erfinderin“. Sie nahm ein „Kruschka“ (Becher) mit. Beim Melken tranken sie dann heimlich Milch, so viel sie wollten. Den Becher versteckten sie im Kuhtrog. Natürlich blühten sie auf und das fiel auf. Da wurde der Mann, der den Stall reinhielt, beauftragt aufzupassen. Er hat es auch herausgefunden, denn er fand den Becher im Trog einer Kuh. Er war keiner der unseren, sondern ein Zugereister. Sie sagten dann: „Der Mistkerl hat uns verraten“. Was jetzt? Sie sinnierten, wie sie wieder zu der Milch kommen könnten. Elisabeth, die Findige, nahm einen langen Strohhalm und sog die Milch hoch, während sie molk. Sie jubelten: „Hurra, wir haben gewonnen!“
Eines Tages fragte Hans: „Wie denkst du, Mama, Tante Käthe (die dritte Frau unseres Onkels Kornelius, unseres Vaters ältesten Bruders) hat mich gefragt, ob ich für sie nach Engels circa 60 Kilometer gehen wolle, da gibt es ein Geschäft, da kann man für Goldschmuck Reis oder Hirse eintauschen. Sie hat eine Brosche, da ist etwas Gold dran. Könnte ich da gehen? Sie will mir etwas Reis geben, falls ich etwas bringe.“ Mama stimmte zu. So ging Hans den nächsten Tag mit der Brosche in der Tasche und ein Schlittchen hinter sich herziehend nach Engels und kam einige Tage später zurück. Oh, welche Freude, Tante Käthe gab ein Säcklein Reis! Wenn ich jetzt schätze, waren es drei bis vier Kilogramm. Hans funkelte mich an und sagte: „Nun Miluschchen wirst du einen dicken Brei bekommen“ (natürlich nur mit Wasser gekocht, nicht mit Milch). Aber Mutter sagte: „Nur heute, nachher gibt es nur Suppe“. Wir aßen unseren Brei mit behagen, nur Julius jammerte: „Ich kann ihn nicht essen.“ Mama meinte: „Alle essen, nur du willst den gesunden Brei nicht essen.“ „Nicht das ich nicht will, ich kann nicht, der Magen dreht sich um.“ Mama redete ihm gut zu: „Sieh mal, Hans ist so weit gegangen, hat den schönen Reis geholt und du kannst ihn nicht essen.“ Nein, er konnte ihn wirklich nicht essen. So er dem Teller näherkam, würgte er schon. Dann schickte Mama Ani mit einem Glas Reis zu Tante Käthe, um ihn für Hirse umzutauschen.
Dann warf Hans sich auf die Bank und meinte: „Ich hab gar keinen Marks mehr in den Beinen. Ist ja auch kein Wunder.“ Dann fragte er: „Mama, wie viel Jahre leben wir nun schon nur auf Wasser? Nur gut, dass man für Wasser nicht auch noch arbeiten muss.“ „Ach Hans, erzähle uns lieber mal, wie es dir in der Stadt ging?“ „Das war ganz einfach, ich fragte wo der Torgsin (Juwelier) ist. Dort kontrollierte ein Mann, wie viel Karat Gold an der Brosche war, schrieb mir einen Zettel, mit dem ging ich in ein anderes Zimmer, dort wog man mir den Reis ab und ich konnte gehen.“ Hans ruhte sich ein paar Tage aus, dann sagte Mama: „Hans, ich habe auch so eine Brosche wie Tante Käthe ihre. Würdest du nochmal nach Engels gehen und für uns Reis holen?“ „Oh, das tu ich gerne, Mama“. Am nächsten Tag marschierte Hans wieder in die Stadt. Im Laufe der Zeit gingen auch die Trauringe und sonstiger Schmuck denselben Weg. So kamen wir durch den Winter.
Eines Tages kam Mamas Cousine zu Gast mit einem Hündchen. Als sie wieder gehen wollte, war das Hündchen verschwunden. Es wurde eine Suchaktion angestellt, aber alles Suchen half nichts. Der Hund blieb verschwunden und Hans auch. Na ja, alles klar. Als er wiederkam, fragte Mama: „Hans, was hast du getan?“ Hans mit schroffem Ton: „Wir hungern und sie läuft mit einem fetten Hund rum!“ Ja, unser lieber Hans war schon etwas verwildert und verroht. So reihte sich Tag an Tag, Monat an Monat, Jahr an Jahr. Ich weiß nicht, wie viele Jahre so vergangen waren: Eins, zwei, drei?
Es war wieder Sommer geworden. Mama hatte Mohrrübensuppe gekocht. Aber ich konnte sie nicht essen. Da schwammen die Mohrrüben Scheibchen in der Suppe und Fett sah man auch. Aber da ging es mir wie Julius mit dem Reis. Alle waren schon vom Tisch gegangen, nur ich saß noch da und starrte in den Teller. Mama setzte sich zu mir und fragte: „Warum kannst du die Suppe nicht essen? „Oh, ich kann das Fett nicht essen.“ Dann erklärte sie mir: „Die Mohrrüben sind sehr Vitaminreich und das Fett ist Butter. Tante Käthe hat ein Stückchen gebracht, ich habe bisschen reingelegt, das gibt dir Kraft. Du musst doch nächstes Jahr zur Schule, aber deine Beinchen sind so dünn, da muss noch Fleisch dran wachsen, dass du auch laufen kannst. Du willst doch gerne zur Schule?“ Oh ja, das wollte ich. „Na, siehst du, jetzt geh und iss deine Suppe.“ Ich schüttelte den Kopf. Sie: „Was willst du immer noch nicht?“ Sie drehte ein Handtuch zum Strick und verhaute mich regelrecht. Dann ging ich zum Tisch und fing an aus Wut zu essen, mit geschlossenen Augen. Ich hatte vielleicht fünf Löffel gegessen, da kam auch schon alles wieder zurück. Da erschrak meine liebe Mutti. Sie nahm mich auf den Schoß, streichelte und küsste mich und sagte: „Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm ist, du brauchst, solange du lebst, keine Mohrrübensuppe mehr essen.“ Da war ich reichlich getröstet und konnte wieder lachen. Aber ob ich etwas anderes zu essen bekommen habe, weiß ich nicht. Bis heute kann ich keine fetthaltigen Speisen essen, ist ja auch weiter nicht schlimm. In meinem Alter ist ein Haferbrei gesünder als Klopse, Katlety oder Fleischbrühe. Später in Karaganda, als wir eigene Schweine hatten, aß ich ganz gerne Griebenschmalz. Brot mit Griebenschmalz, dünn bestrichen.
Als die ersten, schwersten Jahre der Hungersnot überstanden waren und es langsam aufwärts ging, hieß es auf einmal: „Hans will heiraten.“ Das mein 24 Jahre alter Bruder auch einmal heiraten könnte, war mir noch nie in den Sinn gekommen. Aber jetzt stand ich vor der Tatsache. Nach der Hochzeit zogen er und seine junge Frau ins Nebenzimmer, wo gerade die Familie Bergmann ausgezogen war. Jetzt wandte ich mich an meinen vier Jahre älteren Bruder Julius. Mit ihm wurde es erst richtig lustig. Da ging es über Stock und Stein, auf Bäume, Zäune und Dächer. Ach, wenn unsere liebe Mama gewusst hätte, wo er mich überall mitschleppte, sie hätte gewiss einen Herzschlag bekommen. Aber zum Glück ist alles gut gelaufen. Wenn auch manchmal mit zitternden Knien und bebendem Herzen.
Zum Beispiel sagte er: „Komm, heute klettern wir auf diesen Baum.“ „Oh nein, nein, das kann ich nicht.“ „Doch, komm nur, ich helfe dir auf den ersten Ast, dann geht’s weiter.“ Als ich erst glücklich auf dem ersten Ast saß, schwang er sich an der anderen Seite hoch und lockte jetzt auf den zweiten. „Stell dich auf die Füße, mit den Händen halte dich am Stamm fest.“ Doch meine Knie schlotterten und das Herz raste. Endlich versuchte ich es jedoch und es gelang. Ich stand auf dem zweiten Ast. „So, jetzt gib mir deine Hand, ich ziehe dich auf den dritten.“ Ich aber schrie: „Ich habe Angst!“ „Bist du ein Angsthase? Du musst dieses Jahr zur Schule, da darf man keine Angst haben.“ Er wusste ja, womit man mich locken konnte, denn die Schule war meine große Freude, aber bis dahin waren es noch zwei Monate. Ach, wie oft habe ich auf dem dritten, vierten, auch fünften Ast gesessen. War das eine Wonne, so hoch in der Luft zu schweben! Ein sanfter Wind weht durch das Haar, niemand sieht dich, aber du siehst alles. Als wir es eine Weile so getrieben hatten, war es nicht mehr interessant, es musste etwas anderes ausgedacht werden.
Eines Tages sagte Julius: „Heute klettern wir aufs Dach.“ „Ich nicht.“ „Doch, du auch. Du hast doch gesehen, dass ich schon auf dem Dach war?“ Ja, das hatte ich. Kurzum, eine Leiter wurde herbeigeschleppt und genau dahingestellt, wo die Sprossen auf dem Dach zum Schornstein führten, für den Schornsteinfeger, aber nicht für ein Kind, das noch nicht zur Schule geht. Die Leiter hoch ging es einigermaßen, aber wie aufs Dach kommen? Mit viel Mühe und Angst saß ich endlich auf der ersten Dachsprosse. Jetzt kam das Kommando: „Fasse jetzt mit den Händen die zweite Sprosse. So, jetzt zieh die Füße hoch.“ Ja, schließlich saß ich tatsächlich reitend auf dem Dach und hielt mich krampfhaft fest. Dann rüttelte er an meinen Armen und forderte mich auf, sie zu lockern: „Und schau auf zu mir.“ Ich schrie: „Ich kann nicht, mir schwindelt.“ „Gut, dann warte ein Weilchen. So, jetzt schaue auf zum Himmel.“ Ich schaute auf, aber der Himmel drehte sich im Kreis. Julius hatte mir vorgeschwindelt, dass man von dem Dach aus den Himmel beinahe anfassen kann, die Sterne und den Mond am hellen lichten Tag sehen kann. Aber ich sah nur einen hellblauen Himmel, der sich bewegte. „Jetzt schau nach unten, was siehst du?“ Ich heulte: „Nichts sehe ich, ich will runter, da unten ist alles dunkel.“ Er merkte wohl, dass es kein Spaß mehr war und sagte: „Jetzt klettern wir runter.“ Ich auf den Sprossen, er neben mir her und hielt mich fest. Endlich kamen wir unten an. Ich warf mich auf die Erde, die sich im Kreis drehte. Er tröstete mich mit den Worten: „Warte nur ein Weilchen, dann hört sie wieder auf sich zu drehen.“
Solche halsbrecherischen Kunststücke wurden über Mittag gemacht, wenn Mama ihren Mittagsschlaf hielt. Das war das erste und letzte Mal, dass ich auf einem Hausdach saß. Irgendjemand hatte es der Mutter zugetragen und meinem lieben Bruder wurde es streng verboten, mich je wieder auf ein Dach zu schleppen. Das Interessante an der ganzen Sache war, je gefährlicher das Unternehmen, desto größer wuchs er als Held in meinen Augen und die gegenseitige Liebe schweißte uns zusammen fürs Leben. Bis jetzt war ja alles gutgegangen. Er tat es ja aus Liebe. Ich sollte ja alle Sehenswürdigkeiten der Welt zu sehen bekommen und den Genuss der Gefühle auskosten, die man hat, hoch oben im Baum sitzend oder auf dem Dach.
Aber er konnte auch ganz schön brutal sein. Zum Beispiel als Hans heiratete, brachte seine Frau eine Kuh mit. Das war ein Reichtum (denn wir hatten ja nichts, noch nicht mal eine Henne). Wo eine Kuh ist, da muss auch Futter für den Winter her. Hans hatte aus der Kollektivwirtschaft (Kolchos genannt) etliche Fuhren Stroh gebracht. Julius sagte: „Komm wir gehen ins Stroh und machen uns eine Höhle und dann erzähle ich dir eine schöne Geschichte.“ Oh ja, Geschichten hörte ich gerne. Aber vorsichtshalber sagte ich: „Aber keine gruselige.“ Er meinte: „Nein, nein, eine ganz einfache Räubergeschichte.“ Von denen hatte ich schon eine ganze Menge gehört. Also gingen wir, krochen ins Loch, er stopfte das Loch von innen zu und meinte: „Dass es auch warm ist.“ Und dann fing er mit den Schlittschuhen an, die er noch vom Eislaufen bei sich hatte, eine scharfes Geräusch zu machen und sagte dabei mit hohler Stimme: „Messer wetzen, Messer wetzen,… “ Ich fragte: „Was willst du machen?“ „Dich schlachten“ sagte er. Ich schrie aus vollem Halse, im nu war ich beim Loch und draußen. Er hielt mich aber am Bein fest: „Ich hab ja nur Spaß gemacht.“ „Du wolltest ja eine Räubergeschichte erzählen.“ „Ja, tu ich doch gerade“ und sang wieder sein „Messer wetzen“. Ich sagte: „Wenn du nicht aufhörst, sag ich es der Mama.“ Aber zu meinem Lob muss ich sagen, dass ich ihn nie verpetzt habe.
Meine erste Freundin hieß Lisette Bartsch. Sie war zwei Jahre älter, ging schon zur Schule und wohnte direkt über der Straße. Ihr Vater war gehbehindert und Schuster. Ich war oft drüben, aber Letti (so wurde sie genannt) nur selten bei uns. Kein Wunder, da gab es auch nichts Interessantes. Bei ihnen dagegen war alles interessant. Onkel Bartsch hatte verschiedene Hammer, Zangen, Nägel, Pinnen, Pechdraht und es roch so gut nach Leder. Ich fragte natürlich immer: „Wozu brauchst du dieses oder jenes, wie, wozu und warum?“, wie Kinder so fragen. Meine Fragerei ging ihm bestimmt auf die Nerven. Wenn Letti Zuhause war, durften wir Seifenblasen machen. Er fertigte uns die Flüssigkeit aus Seifenpulver.
Im Frühjahr 1937 war ich wieder mal bei Onkel Bartsch zu Gast. Er fragte: „In diesem Jahr kommst du doch in die Schule.“ Ich: „Ja, das stimmt!“ „Aber mit diesen Schuhen kannst du doch nicht zur Schule gehen.“ „Mama meint, ja.“ „Nein, nein, das geht nicht, gib sie mal her, ich mache sie dir zurecht.“ „Aber ich muss doch noch nach Hause gehen“. „Ja, aber laufe nur schnell und immer da wo kein Schnee mehr liegt und sage deiner Mama, ‚Onkel Bartsch hat es erlaubt‘, denn wo du läufst ist die Erde immer warm, das sage ich dir. Und übermorgen kommst du und holst deine Schuhe.“
Ich erzählte Mutter die ganze Geschichte, sie schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts. Am angesagten Tag ging ich meine Schuhe holen. Da standen sie schon fix und fertig. Ich erkannte sie nicht. Der Absatz war wieder auf seinen Platz gerückt, gewichst, neue Schnürsenkel, welche Pracht! Es war ein Wunder geschehen und das hat Onkel Bartsch vollbracht. Überglücklich rannte ich los. Mama fragte: „Hast du auch ,Dankeschön‘ gesagt?“ Oh, das hatte ich vor lauter Freude vergessen. „Jetzt gehst du und fragst was es kostet und gibst dem lieben Onkel einen Kuss“. Ich rannte wieder los. Von der Tür aus rief ich schon „Onkel Bartsch, was kostet es?“ „Aber Miluschchen, das ist doch nicht der Rede wert.“ „Und Dankeschön sollte ich sagen und dir einen Kuss geben.“ Die große Freude hatte mir die Zunge gelöst, dass ich alles wie am Schnürchen sagen konnte. Er räusperte sich, dann schaute er über die Brillengläser mit Schalk in den Augen und fragte: „Ja, willst du das?“ Da legte ich meine Arme um seinen Hals, drückte ihn ganz fest und gab ihm einen Kuss. Er saß ja immer auf seinem Schemel, so dass ich ihn erreichen konnte. Ich sah nur noch wie ihm die Augen feucht wurden, da war ich auch schon wieder draußen. Mama meinte: „Na, du bist ja schon wieder da.“ „Ja, Onkel Bartsch hat geweint.“ Dann habe ich auch geweint, aber warum, weiß ich nicht.

5 Erinnerungen aus meiner Zeit im Grundschulalter

Mein erster Schultag war am 1. September, 1937. Ich ging schon ungeduldig in meinen Schuhen, die mir Onkel Bartsch zurechtgemacht hatte, auf und ab und wartete bis Julius seine Freunde kamen, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Mama hatte gesagt: „Die Milusch nimmst du bei der Hand, sonst kommt sie euch nicht nach, ihr lauft ja immer so schnell.“ Julius nahm mich gehorsam an der Hand und los ging es im Dauerlauf. Ja, ja, im Laufen hat mein Bruder mich trainiert, vom ersten Schultag an. Bis zur Schule waren es circa zwei Kilometer.
Die Jungen hatten selbstgebastelte Ranzen aus Holz. Statt Riemen über den Schultern waren Seile befestigt. Weil sie aus Holz waren, rutschte der Inhalt hin und her. Sie hatten ihren ganzen Besitz hineingepackt: Bücher, Hefte, Federhalter, Tintenfass, Nägel, Draht, ja, noch ein Stückchen Holz, da musste Julius noch ein Pferdchen zum Schnitzen drauf malen. Das Schnitzen war das beliebteste Hobby der Jugend in jener Zeit. All diese Gegenstände rutschten im Ranzen hin und her. Das gab beim Laufen eine fröhliche Begleitmusik. Anfänglich war ich sehr stolz, dass ich mit den großen Jungen gehen durfte, aber schon bald jammerte ich, denn ich hatte Stiche in der Seite. Aber Julius meinte: „Es macht nichts, wir sind schon bald dort.“ Aber ich wusste, dass wir erst auf der Hälfte waren und krümmte mich vor Schmerz und konnte nicht mehr laufen. Als die Jungen es merkten, taten sie langsamer. Ich war ihnen dankbar, kannte sie ja alle: Heinrich Pauls (unser Cousin) <Heinrich Pauls (09.03.1923-09.03.1996), GRANDMA #1254377. AW>, Hermann Fast (der Lange), Hermann Fast (der Kurze) und Jakob Albrecht <Jakob Albrecht (09.08.1928-08.03.2007). AW>.
Im Sturm der Zeit wurden sie alle zerstreut, in alle Richtungen, die meisten sind schon gestorben, mein Bruder Julius auch. Unlängst traf ich einen von ihnen bei uns in der Kirche in Allmersbach. Ich erkannte ihn sofort. Ich stellte mich vor, erzählte ihm von Julius. Er konnte sich kaum erinnern. An mich schon gar nicht. Schade!

6 Mein Bruder Julius

Am 21. April 2003, Ostermontag, im Gottesdienst mit freien Beiträgen, hatte jemand einen Beitrag vom Fischen und Angeln. Da fiel mir ein Ereignis aus meiner Kindheit ein. Hier schreibe ich es nieder zur Erinnerung an meinen Bruder Julius:
Im Sommer 1938 kam unser lieber Vater aus achtjähriger Haft frei. Er durfte aber nicht in den Lysanderhöher Kanton (später Rajon) kommen, wo wir wohnten. So gedachte er, uns zu sich in den fernen Osten, Magadan, Bucht Nagaewo, kommen zu lassen. Er hatte sich dort bei den Behörden erkundigt, es war möglich. Wir bekamen aber keine Erlaubnis. Dann kamen lange Zeit keine Briefe, weil das Meer zugefroren war, so dass die Schiffe nicht gingen, Flugzeuge gab es noch keine, oder sie wurden nicht für Post genutzt. Dann erhielten wir ganz unverhofft einen Brief im März aus einem nicht weit von uns entferntet Dorf Lauwe. Der Brief fing so an: „Lauwe, den 5. März“. Da kann man sich vorstellen wie Mutter erschrak. Papa schrieb: „Ja, ihr Lieben, ob ihr es glaubt oder nicht, ich bin nur noch 40 Kilometer von euch entfernt, kommt so schnell wie möglich.“ Er hatte sich dort ein Stübchen gemietet (ca. 20 Quadratmeter könnten es gewesen sein).
Den 15. März waren wir startbereit. Mama und wir zwei Jüngsten, Wolli und ich, fuhren früh morgens los. Es fuhr ein Pferdefuhrwerk in diese Richtung. Unser ältester Bruder hatte es besprochen, dass wir mitfahren durften. Abends waren wir an Ort und Stelle. Von dem Wiedersehen und der Begrüßung schweige ich. Papa hatte uns noch nicht erwartet. Er dachte nicht, dass es so schnell gehen würde. Er hatte auf einen Brief gewartet. So kamen wir für ihn ganz unerwartet. Ja, da sah der Vater zum ersten Mal seinen jüngsten Sohn, acht Jahre alt, und der Sohn seinen Vater. Ich konnte mich auch nicht an ihn erinnern, ich war nicht ganz zwei Jahre alt, als man ihn uns nahm. Ich liebte meinen Pa (so nannten wir ihn jetzt) sofort und unterordnete mich seinem Willen. Nicht so Wolli. Es ist ihm auch nicht zu verdenken, er hatte ja seinen Vater noch nie gesehen. Sein ältester Bruder Hans war 20 Jahre älter als Wolli. Na ja, er war ja nur der Bruder und ihm konnte man sich widersetzen. Aber ich war so glücklich und fühlte mich so geborgen, als ob mir die ganze Welt nichts mehr anhaben konnte. In der Schule wurde man ja als Kind eines Volksfeindes oder Verräters des Vaterlandes verachtet. Das ging nicht gut. Etliche Kinder hatten ja noch Väter (nicht Mennoniten), sie waren Kommunisten und hatten alle Rechte.
Später kamen Anna und Julius noch. So wohnten wir jetzt sechs Personen in einer Stube von 20 Quadratmetern einige Monate, aber es ging. Nach den ersten Tagen der Begrüßung langweilte Julius sich schon. Da ging unser Pa zu den Nachbarn. Er wusste, dass sie auch Jungens in seinem Alter hatten. Er bat sie, Julius zum Angeln mitzunehmen. Ja, das wollten sie gerne. Papa besorgte irgendwie eine Angel und los ging‘s.
Es waren fünf bis sechs Jungens. Sie teilten sich in zwei Gruppen. Jede Gruppe ging an einen anderen Angelplatz. Die ersten Tage kam er ganz begeistert nach Hause. Aber nach einer Woche meinte er, die Kunst des Angelns schon genügend erlernt zu haben, um sich selbstständig zu machen. So geschah es auch. Ich bettelte mitgehen zu dürfen. Ich musste erst feierlich versprechen, mich ganz still zu verhalten. Das tat ich gerne, ahnte aber nicht, wie schwer es ist, ganz stille zu sein, wo es doch in den Zehenspitzen kribbelte, wo man doch barfuß durch den warmen Sand laufen möchte. So ging ich denn vom ersten Tag seiner Selbstständigkeit mit. Julius hatte schon eine Angelstelle gesucht, weit von den anderen entfernt. Wir mussten zwar einen Kilometer weiterlaufen, aber das machte uns nichts aus. Dafür waren wir alleine. Julius sagte: „Die haben alle keinen Grips im Kopf.“ Doch wohl haben sie ihn recht verärgert. Sie waren ja die Lehrer und er der Lehrling. Kurzum, ich war glücklich, dass ich dabei sein durfte. Abends gingen wir Würmer für die Angel suchen. Man musste an einem feuchten Ort nach ihnen suchen.
Am nächsten Tag, sehr früh, gingen wir los. Ich trug stolz eine Dose mit Würmern, Julius die Angel und sonstige Zugehörigkeiten. Am Angelplatz angekommen durfte ich helfen, die Angel vorzubereiten. Ich reichte Julius die armen Würmer, er streifte sie Kunstgerecht auf die Haken, es waren ihrer fünf bis sechs. Es waren nicht so einfache Angelruten mit nur einem Haken, nein, es waren ganz besondere. Da war ein Stock, ungefähr 75 Zentimeter lang und 4 Zentimeter im Durchmesser. Dann war eine Schnur, 20 bis 30 Meter lang. Am Ende der Schnur waren fünf bis sechs Haken, im Abstand von 15 Zentimetern und ganz am Ende wurde ein Stück Eisen angebunden, das wurde dann möglichst weit ins Wasser geworfen. Der Stock wurde in die Erde gerammt, oben auf den Stock legte man ein Steinchen. Wenn das Steinchen sich bewegte, da wusste man, ein Fisch hat angebissen.
Überglücklich kamen wir mittags nach Hause mit reicher Beute. Papa lobte und lobte uns und wir waren stolz wie ein König, wenn er eine Schlacht gewonnen hat. Hätten wir ein weißes Ross gehabt, wären wir siegesbewusst durch die Straßen geritten. Oh, da wurde gebraten und die berühmte Ucha (Fischsuppe) gekocht. Das hatte Vater im fernen Osten gelernt. Es schmeckte alles wunderbar. So ging es eine Woche lang. Immer der Reihe nach: Angeln, braten, essen, loben, stolz sein. Trugen wir doch zum Unterhalt der Familie bei. In der zweiten Woche rümpfte ich schon die Nase: „Mama, wie riecht denn der Fisch heute so komisch“, es waren doch dieselben Fische wie immer, der Karpfen, das Rotflösschen. Da half alles Jammern nichts. Mama sagte: „Wenn du sie heute nicht willst, isst du sie morgen.“ Den nächsten Tag ging Papa zu unseren Nachbarn und bot ihnen Fische an. Sie nahmen sie gerne, es waren ältere Leute. Sie gaben Papa als Entgelt ein Stück Butter. Oh, das war ein Fest als wir zum Abendbrot Butterbrot aßen und Prips (Landkaffee) dazu tranken. Papa hat mit ihnen einen Vertrag geschlossen: Butter für Fische. Der Tausch ging gut. Die Fische wurden erst gesalzen, dann auf einen Draht gespießt und an der Sonne getrocknet. Jeder Fischtag fing ganz gleich an: Ich mit meiner Dose, er mit Eimer und Angel. Mein Bruder war sportlich, er liebte zu laufen und ich musste mithalten, obzwar es mir gar nicht gefiel.
Ein verhängnisvoller Tag fing wie alle anderen an, nur das Wolli, unser jüngster Bruder, bei uns war. Er lief hier und dorthin, scheuchte die Vögel und lief den Mäusen nach. Für dieses alles hatten wir Großen keinen Blick. Wir zitterten vor Vorfreude die Angel zu werfen. Das war schnell getan. Wolli und ich liefen noch ein Weilchen hin und her, ließen Steinchen auf dem Wasser hüpfen, dann mussten wir aber stille sein. Wir legten uns in den Sand, der noch von gestern warm war. Die Sonne ging gerade auf, es sah aus, als ob sie aus dem Wasser stieg. Die Wolga war schätzungsweise ein Kilometer breit. Über uns wölbte sich ein wolkenloser Himmel, die erste Lärche stieg hoch und lobte trillernd ihren Schöpfer. Wir lagen und freuten uns an der Natur und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Da erscholl plötzlich ein leiser Pfiff. Das war das Zeichen, wir rannten los. Ich schaute sofort nach dem Stock. Der Stein war verschwunden. Das geschah nur selten. Ich wusste: Da haben etliche angebissen, oder vielleicht auch ein großer. Julius zog schon an der Schnur, sie um die Hand wickelnd, wir beide standen, die Hände auf die Knie gestützt und wagten nicht zu atmen. Die Schnur ging von links nach rechts, von rechts nach links. Ja, das war ein unruhiger Fisch, das merkt man, wenn man schon ein erfahrener Angler ist. Da, was war das? Das Wasser wurde trüber, Gras und Schlamm kam an die Oberfläche. Es gab gewaltige Wellen. So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Plötzlich teilte sich der Schlamm. Ein sehr großer Fisch war zu sehen. Er bewegte sich mit starken Stößen hin und her. Wir zwei superklugen schrien aus vollem Halse: „Jestj!“ (Das heißt so viel wie: „Den haben wir!“). Nein, wir hatten ihn nicht. Noch ein Ruck und uns zum Spott schlug er mit dem breiten Schwanz aufs Wasser und fort war er. Und wir beide erstarrten beinah wie Salzsäulen und wagten uns nicht zu bewegen. Unser großer Bruder warf uns einen drohenden Blick zu. Sein Gesicht war rot wie eine Tomate, die unseren weiß wie Kreide. So standen wir Auge in Auge. Kein Wort wurde gesprochen. Ist ihm ja auch nicht zu verdenken, dass er so böse war. Ihm war ja eine große Beute entgangen. Das wäre doch ein Ruhm gewesen!
Während wir noch standen und zitterten, wickelte er die Angel zusammen. Ich fragte ganz schüchtern: „Was, du willst schon nach Hause?“ Er: „Nimm deine Dose und komm.“ Ich tat gehorsam was er gebot, ging neben ihm her mit hängendem Kopf und gebührendem Abstand. Als wir nach Hause kamen, fragte Mutter erschrocken: „Julius, was ist passiert?“ Er: „Nix“ und schlug die Tür hinter sich zu. Dann schaute sie mich an, ich heulte los und erzählte alles was geschehen war. Mama nahm mich in den Arm, sprach tröstend: „Ach, das ist ja gar nicht so schlimm, morgen geht ihr und holt andere Fische.“ Ich schrie laut: „Aber der große, der große Fisch!“ Dann die Mutter: „Ach so ist das. Dann beruhige dich erst mal, dann reden wir weiter.“ Aber wir haben nie darüber geredet. Vielleicht hat sie mit Julius geredet. Ich hütete mich den ganzen Tag in die Nähe meines Bruders zu kommen. Gegen Abend kam Julius pfeifend mit dem Spaten in der Hand und sagte zu mir: „Komm, Würmer suchen.“ Ich mit leiser Hoffnung in der Stimme: „Gehen wir morgen?“ Er: „Klar, was denn?“ Ich schaute ihn verwundert an, aber er wandte sich ab, ich denke, er hat sich geschämt.
Am nächsten Morgen, ganz früh, weckte er mich leise, um niemanden im Schlaf zu stören. Wir schliefen ja alle in einem Zimmer. Ich nahm meine Dose, er seine Angel und los ging’s. Er war sehr freundlich zu mir auf dem Wege, dass mein kleines Herz schmolz wie Schnee in der Sonne. Ich hüpfe fröhlich neben ihm her wie ein Eichhörnchen, mal auf einem Bein, mal auf dem Anderen und plapperte drauflos, was sonst gar nicht meine Eigenschaft ist. Was er gedacht hat, weiß ich nicht. In einer knappen Stunde waren wir an Ort und Stelle. Er holte sein Taschenmesser aus der Tasche, ließ es aber fallen. Ich bückte mich blitzschnell, reichte es ihm mit strahlenden Augen. Da lachte er laut und sagte: „Hör bloß mal auf damit.“ Ich lachte auch. Der Bann war gebrochen. Weiter ging alles sehr schnell. Die Angel wurde geworfen und wir beide saßen nebeneinander wie liebe Geschwister, die nie zanken, ja sind Freunde fürs Leben geworden. Wir saßen ganz glücklich beisammen, beobachteten wie die Wolga ihre Wellen dem Kaspischen Meer zu wälzt. Ein Dampfer zog seine Bahn stromaufwärts, die Möwen umkreisten ihn in der Hoffnung, vielleicht etwas Essbares zu ergattern.

Oh Wolga, lieber Wolgastrand,
wo einst meine Wiege stand.
Ach, wie lieb ich dich so sehr.
Liebt dich jemand denn noch mehr?

(Aus dem Russischen übersetzt)

„О Волга!.. колыбель моя!
Любил ли кто тебя, как я?“

(H.A.Некрасов)

Der Fischer

Saß ein Fischer an dem Bach, wollte Fischlein fangen.
Doch sah er den ganzen Tag leer die Angel hangen.
Endlich zuckt es an der Schnur, Fischlein zappelt bebend.
Golden rötlich hing es da, flehte um sein Leben:
„Lieber Fischer, lass mich los“, sprach’s mit glatten Worten.
„Lass mich in der Wellen Schoß, bis ich groß geworden.“
„Fischlein, das kann nicht gescheh‘n, da hilft kein Beklagen,
ließ ich dich nun wieder los, müsst ich vieles wagen.
Doch weil du so niedlich bist und so jung am Leben, sei dir eine kleine Frist noch von mir gegeben.
Als ein Jahr vergangen war, gedacht es seiner Worte:
Stellte sich zum fangen ein, an demselben Orte.

Aber alles klagen und betteln half nichts. Das Fischlein landete in der Pfanne. Als wir unsere Norm erfüllt hatten, liefen wir fröhlich nach Hause. Mutter empfing uns lächelnd. Sie hatte verstanden. Niemand hätte dann gedacht, dass der junge Fischer noch einmal Menschenfischer werden sollte. In seiner Kindheit hat jemand gesagt: „Entweder wird er Räuberhauptmann oder Missionar.“ Ja, der Herr kommt ans Ziel mit den Seinen, wenn der Weg auch lang und beschwerlich ist.

7 Die zweite Verhaftung des Vaters

Diese herrliche Zeit dauerte nicht lange. Nur vier Monate. Eines Nachts wurde ich vom Lampenlicht geweckt. Ich sah zwei fremde Männer in Uniform. Auf dem Tisch stand ein Kästchen mit Briefen und Fotos, in dem sie herumwühlten. Ich wusste sofort, was das bedeutete. Ich schloss die Augen und wagte sie nicht wieder zu öffnen. Ich hörte wie Mutter sagte: „Ich werde die Kinder wecken.“ Papa aber sagte: „Nein, lass sie schlafen, morgen erzählst du ihnen alles und du bleibe auch drin.“ Dann war er ein Weilchen stille und sagte: „Elisabeth, das ist auf nimmer Wiedersehn.“ Ich konnte durch die Wimpern sehen, wie er sie noch kurz umarmte und hinaus ging, begleitet von den beiden Milizen. Man hörte nur noch das Brummen eines Motors und dann war es still. Fort war er. Ihm wurde zu Last gelegt, dass er Andachten abgehalten habe. Dem war aber nicht so. Er hatte nur mit einem alten Mann freundlich geredet und ihn zu Hause besucht. Nach zwei Wochen fuhren wir wieder zurück zu unserem Bruder Hans.
Jetzt merkten wir erst, dass er bespitzelt wurde, aber Gott sei Dank, nach vier Monaten war er wieder Zuhause. Es war ein Wunder geschehen. Ich weiß zwar nicht, wer in jener Zeit die rechte Hand Stalins war, aber dieser hatte die Sache durchschaut und sagte: „Genosse Stalin, ich habe eine Frage, vielleicht müssten wir weniger Männer verhaften, es sind nur noch wenige, die in der Landwirtschaft arbeiten können und unser Land ist groß.“ Dann sagte der große Genosse: „Na, wenn du meinst.“ So einfach war das. Dann wurde das Gesetz so geändert, dass der Kläger zum Gericht kommen musste und öffentlich seine Klage erzählen. Diese wäre, dass der Genosse Siebert schon wieder eine Versammlung abgehalten habe. Aber der liebe Mann kam nicht zum Gericht. Daraufhin wurde Pa freigelassen.
Da kam ein Wächter mit einem Schlüsselbund, rasselte mit dem Schlüssel vor der Tür und sagte verächtlich: „Dich kriegen wir noch, klar?“ Pa: „Das weiß ich.“ Aber dann schmeichelte jener ihm mit verschiedenen Worten: „Sieh mal, wie gut der Richter ist, er hat dich freigelassen, komm!“ Pa blieb stehen. Er: „Na, was stehst du, du bist frei!“ Pa ging langsam Richtung Tor und tatsächlich, der Wächter schloss das Tor auf und Pa ging hinaus. Aber er zitterte an Leib und Seele, denn es war schon geschehen, dass sie dann von hinten geschossen hatten, doch er ging langsam weiter. Es geschah nichts, das Tor schloss sich langsam. Jetzt ging es um die Ecke, dort waren etliche Bäume und eine Bank. Er setzte sich, betete und weinte vor Freude, bis er sich beruhigt hatte. Dann schaute er sich um und wusste, wo er sich befand. Nicht sehr weit war ein Einkehrhof, wo Leute aus den Dörfern unentgeltlich einkehren konnten. Er erkundigte sich, ob Leute aus den Dörfern Ostenfeld, Lysanderhöh und Hohendorf auch hier einkehren würden? Ja, natürlich, die kennt man schon von weitem, sie sind freundlich und fluchen nicht. Pa freute sich sehr über solche Nachricht. Er blieb zur Nacht da. Am nächsten Tag kamen tatsächlich Leute aus Ostenfeld, sogar bekannte, da war die Freude groß.
Ma und ich gingen gerade nach Wasser. Ich weiß nicht, warum ich ihr immer nachlief, hatte wohl Angst um sie. Es kam ein Mann von der Straße her, da sagte ich: „Ma, guck mal ob dat nich de Pa is.“ Sie sagte: „Ja“, aber sie hatte die Leier in der Hand. Ich nahm ihr die Leier ab und sie ging ihm entgegen. Es gab eine kurze Begrüßung. Pa nahm Mamas Hand und führte sie ins Haus, ich mit dem Eimer Wasser hinter ihnen. Als wir drin waren sagte Pa: „Na, wo ist denn unsere fleißige Wasserträgerin?“ Dann wurde ich auch begrüßt.

Elisabeth Siebert (geb. Pauls), als junge Frau

Ich durfte immer neben der Mutter stehen. Ich weiß nicht warum, vielleicht weil ich viel kleiner war als die anderen. Vielleicht fühlte sich Mutter dann auch nicht so einsam. Deshalb wurde ich von den anderen geneckt, weil ich an Mamas Schürzenbändel hing. Wenn Ma Besuch hatte, durfte ich auch dabei sein. Ich saß in einer Ecke und spielte mit meinen Puppen. Wenn jetzt in meinem hohen Alter meine Geschwister mich fragen. „Woher weißt du das alles? Dann antworte ich: „Das hab ich noch von der Zeit, als ich bei Ma am Schürzenbändel hing.“

8 Der Krieg

Der 22. Juni 1941 war ein Tag wie alle anderen. Ein hellblauer wolkenloser Himmel wölbte sich über unser Dorf. Mittlerweile war ich 12 Jahre alt und musste Schweine hüten. Noch vor Sonnenaufgang stand ich bei meiner Schweineherde und beobachtete das großartige Naturschauspiel. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen und durchflutete allmählich die ganze Steppe. Ich stand und staunte ob dieser Pracht. Wenn die Sonne sich drei Handbreit über der Erde erhoben hatte, durften die Schweine ihr Frühstück einnehmen. Es gab Molke mit Abfällen von der Mühle. Dann lief ich nach Hause, um mein wohlverdientes Frühstück zu essen. Ein Stück Roggenbrot und ein Glas Ziegenmilch. Das schmeckte wunderbar. Mama war gerade von der Nachbarin gekommen, wo sie die Ziegenmilch geschleudert hatte. Der Mann von dieser Nachbarin war Mitglied in der Dorfversammlung und hatte seiner Frau unter Schweigepflicht erzählt, dass Krieg ausgebrochen sei. Mama erzähle es der anderen Nachbarin. Und so geschah es, dass Papa es auch schon wusste, als er von der Arbeit mittags Nachhause kam. So einfach funktionierte das. Am Nachmittag wurden die Dorfbewohner zusammengetrommelt, ins Verwaltungshaus zu kommen. Ein hoher Parteifunktionär mit militärischer Haltung und wichtiger Miene erklärte, dass das faschistische Deutschland unsere liebe Heimat überfallen habe. Aber wir würden unser Vaterland verteidigen, nach der Devise: „Einer für alle und alle für einen“. Er fragte noch: „Alles klar?“ Die Männer nickten nur mit den Köpfen. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Denn wer weiß, vielleicht ist es nur eine Falle, um herauszufinden, wie die Deutschen reagieren würden. So begann der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Der Tag hatte so schön angefangen, und jetzt… Ich stand allein auf dem Hof und war traurig. Ich beobachtete den Sonnenuntergang. Wie am Morgen die Strahlen immer kräftiger wurden, verblassten sie jetzt, bis es dunkel war. In meinem Herzen auch. Es war Krieg. Ja, Krieg! Krieg! Unfassbar. Deutschland hatte den Krieg angefangen. Wir unschuldigen Kinder taten uns auch zusammen und diskutierten über den Krieg. Wir dachten: „Deutschland ist doch ein christliches Land. Sie haben noch ihre Kirchen, Pastoren, Prediger und Bibeln. Darin steht geschrieben: ‚Du sollst nicht töten‘. Sogar ihre Feinde sollen die Christen lieben.“ Uns war das ja schon alles genommen worden. In den Schulen wurden wir kommunistisch erzogen und mussten die „Internationale“ singen. Darin stand, dass es keinen Gott gibt. Diese Strophe versuchten wir nicht zu singen. Bei solcher Gelegenheit wurde mein Bruder verraten, als sein Nachbar sagte: „Der Julius singt net, er mach nor des Maul uf un zu.“ Es gab aber keine schlimmen Folgen. Am nächsten Tag, dem 23. Juni stand es in der Zeitung „Prawda“ („Die Wahrheit“) mit großen Buchstaben: „KRIEG MIT DEUTSCHLAND“.

9 Die Aussiedlung

Es war weder eine Falle noch ein Betrug, nur eine unheimliche Stille lag in der Luft. Hin und wieder fuhr ein Militärauto durchs Dorf, was das zu bedeuten hatte, wusste niemand. Eines Tages, als Pa von der Arbeit kam, hielt ihn Herr Felsing auf (er war unser Nachbar und ein Mitglied des Dorfrates) und sagte: „Veddr Siebert, der Dejtsche ist ja schon bei Stalingrad. Wan ich ein guter Werfer wär und hätte einen guten Stein, dann könnte ich schon bis hin werfen. Ja, bald werden wir schon die Kanonen knallen hören.“ Pa stand nur da und blickte ihn gleichgültig an und sagte: „Na ja, ich muss mal Ham und mein Abendbrot esse“. Er wandte sich ab und ging. Ich fragte ihn: „Warum hast du denn nichts gesagt?“ Pa sagte: „Ja, was sollte ich denn sagen?“ Ich sagte zu ihm: „Du hättest sagen sollen, dass unsere ruhmreiche Rote Armee Hitler nicht bis nach Stalingrad lässt.“ Pa lächelte nur und ging weiter. Dann sagte er: „Ach, Kind, das verstehst du nicht.“ Dann fuhr ich auf: „Ich bin jetzt schon zwölf Jahre alt und du denkst immer, ich verstehe nichts, aber ich verstehe es sehr gut.“  Auch 1937, als Ma spät abends, wenn es dunkel war, am Fenster stand und durch einen kleinen Spalt beobachtete, auf welchen Hof der “schwarze Rabe“ (das Polizeiauto) heute fahren und die Männer auf nimmer wiedersehen abholen würde, das verstand ich auch. Jetzt waren wir zu Hause angekommen. Pa aß sein Abendbrot. Mama meinte: „Ist etwas passiert, weil du so schweigsam bist?“ „Nein passiert ist nichts, aber wir werden in der nächsten Zeit mancherlei erleben.“
Na gut, dachte ich, vielleicht verstehe ich es doch nicht so richtig. Nach etlichen Tagen kamen wieder Militärautos. Sie wurden verteilt in den Dörfern. Auf den wichtigsten Stellen in der Kolchose wurden Soldaten mit Gewehren aufgestellt. Beim Pferdestall, an der Hühnerfarm, an der Kuhfarm, am Getreidespeicher und am Brunnen. Damit die Bewohner ja keine schlechten Streiche machen sollten. Zum Beispiel das Wasser im Brunnen vergiften.
Am 28. August kam das Schreckliche: In den Zeitungen stand es klipp und klar: Die Wolgarepublik wird ausgesiedelt. Wir hatten gerade gefrühstückt und Pa hielt die Zeitung in der Hand. Alle schwiegen betroffen. Herr Felsing kam ganz aufgeregt und sagte: „Herr Siebert, habt ihr schon gehört, nun sollen alle ausgesiedelt were?“ Pa sagte: „Ja.“ „No, des is doch gar net möglich.“ „Warum net? Es is doch Krieg mit Deutschland.“
Da kam ein Postbote und brachte ein Telegramm von unserer Schwester Ernstine (Tienchen), welche als Lehrerin in einem anderen Dorf arbeitete. Ihr Mann sei bereits einberufen worden. Er war ein Militärmann und musste sich sofort stellen. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Sie schrieb im Telegramm: „Pa, hole mich bitte ab, ich will nicht allein in die Welt hinausfahren. Ich möchte mit euch fahren.“ Nach einer Weile sagte Pa: „Elisabeth, es ist das Beste, du fängst heute an zu backen, zweimal am Tag, am Abend und am Morgen. Wer weiß, wie lange wir noch Zeit haben. Vielleicht geht es schon morgen oder übermorgen los. Gesagt, getan. Pa fuhr los und Mama machte Teig. Anna und ich packten alle Wintersachen in Säcke. Über einen Tag war auch Tienchen mit Erwin, ihrem acht Monate alten Sohn, schon da. Ich freute mich sehr, dass Erwin wieder da war. Ich hatte ihn liebgewonnen, er war acht Monate alt. So wurde er unser Brüderchen. Die Leute, die eine Kuh hatten, mussten sie abliefern. Sie bekamen eine Quittung, nach der sie dann am neuen Wohnort eine Kuh bekommen sollten. Etlichen gelang es auch eine Kuh zu bekommen, anderen wiederum nicht. Vielleicht waren sie nicht tapfer und durchsetzungsfähig genug. Genau so ging es mit dem Getreide.
So vergingen die Tage mit Packen und Backen, bis es hieß, am 10. September solle es los gehen. Wir legten uns zum letzten Mal in unserem Lehmhäuschen schlafen. Ach, es war ja gar nicht unser Lehmhäuschen. Es gehörte der Käserei, wo Pa arbeitete, seit er aus dem Gefängnis zurück war und uns seitdem als Unterkunft diente. Am nächsten Tag, das heißt am 11. September, hörte man schon Räder rollen. Jetzt rafften wir unsere Sachen schnell zusammen und standen vor der Haustür. Die Wagen waren auch schon da. Es war eine lange Reihe. Die Wagen fuhren abwechselnd links und rechts auf die jeweiligen Höfe. So kam auch zu unserer Hütte ein Wagen. Das Laden ging schnell. Ein Kasten und vier Säcke. Fertig. Wir warteten bis alle geladen hatten. Es war eine unheimliche Stille. Dazu das Heulen der Hunde. Die Katzen zogen die Schwänze ein und Miauten. Oh, das war eine schreckliche Situation. Kein Weinen, kein Geschrei war zu hören. Die Menschen sahen sich nur mit angsterfüllten Augen an. Nicht umsonst wurden die Mennoniten „die Stillen im Lande“ genannt.
Vielleicht nach etwa einer Stunde ging es endlich los. Ich hatte mich an Papa geschmiegt, Mama nahm Wolli bei der Hand. Auf dem Wagen saß Tienchen mit Erwin, die anderen gingen hinten nach. Wir kamen noch am selbigen Tag an der Station Besimjanaja (Plattdeutsch: Besena) an. Am nächsten Tag wurden wir in Waggons eingeladen. Es dauerte ungefähr zwei Stunden, bis sich alles beruhigt hatte. Dann hieß es: „Einsteigen, Einsteigen, schnell, schnell!“ Pa schnappte mich und schwupp war ich im Waggon, danach Wolli. Er half auch Ma rauf. Die größeren mussten sehen, wie sie raufkamen. Weil es Viehwaggons waren, gab es keine Treppen. Deshalb war es schwierig raufzukommen. Die Türen wurden zugemacht. Dann war es so weit. Noch drei schrille Pfiffe, die Räder bewegten sich erst langsam, bis nur noch ein „Tuck, Tuck, Tuck“ zu hören war. Denn an jeder Stelle, wo die Schienen zusammenkamen, gab es ein Tuck. Man merkt es auch hier in Deutschland, sobald ein Güterzug vorbeisaust, gibt es ein großes Getöse. Wenn man mit einem ICE fährt, geht es natürlich ganz leise und man merkt gar nicht, wie der Zug sich in Bewegung setzt.
Es gab auch einen Sanitärwagen, wo kranke Leute untergebracht wurden. In diesem war auch meine Schwester Marie. Denn sie war gelähmt und konnte nicht mehr gehen. Sie hatte einen dreijährigen Sohn Albert und ihren Mann Heinrich Töws <(18.03.1912-15.01.2005), GRANDMA #1254484. AW>. Wir besuchten sie jeden Tag. (Sie starb im Jahr 1943 in Sibirien, mit 27 Jahren. Ihr Mann Heinrich heiratete später eine russische Frau). An Krankenschwestern und Pflegern fehlte es nicht. Auch ein Kind wurde in dem Waggon geboren. Als es soweit war, ging einer der Begleiter an jeden Wagen und fragte: „Ist vielleicht eine Hebamme im Wagen?“ Er brauchte nicht lange suchen. Denn Johanna Fröse (Tante Hannchen) <Johanna Fröse, geb. Wilh. Warkenti(e)n (13.04.1896-28.02.1980). AW>,  kannte der ganze Trakt, sie war Hebamme.
Sie war die Schwiegermutter meiner Schwester Anna. Ihr Mann < Hermann Joh. Fröse (1895-23.04.1920). AW> war Lehrer und starb noch bevor das erste Kind geboren war. Ja, was jetzt mit der alleinstehenden Frau machen? Da beschloss der Dorfvorsteher, sie auszubilden als Hebamme. Das war auch das Beste, was sie tun konnten. Denn der ganze Trakt hatte keine Hebamme. So wurde sie für ein Jahr auf Kosten der ganzen Gemeinde nach Saratow geschickt. Es ging auch ganz gut, denn sie wurde sehr gelobt und geachtet. Auch in Sibirien hat sie noch ein Weilchen in ihrem Beruf gearbeitet. Aber dann wurde es ihr verboten. Alle Frauen sollten ins Krankenhaus gebracht werden. Die Entfernung von unserem Dorf war zwölf Kilometer. Dort im Krankenhaus wurden auch unsere ersten drei Kinder geboren.
Nun ja, der Zug zockelte so langsam weiter. Dann wurden wir auch manchmal auf ein Abstellgleis geschoben, für ein paar Stunden oder auch einen halben Tag. Manchmal standen wir auch einfach an einer Station und ließen die Züge vorbeiflitzen. Mal waren es Güterzüge, manchmal waren es auch verwundete Soldaten, einige mit verbundenen Köpfen, anderen fehlte ein Bein oder Arm. Das war kein tröstender Anblick.
Jetzt stellt euch nur einmal vor: Ein Zug mit vierzig Wagen bekommt an einer Station Mittagessen. Es gab Hirsebrei, obendrauf sogar etwas Fett, war das nicht gut gemeint? Es gab für jeden Wagen einen Eimer voll. Da jammerten die Leute: „Oh, doch net Heschekasche (Hirsebrei), die kammr doch net esse.“ Unser Pa schöpfte von der Hirsebrei eine große Schüssel voll ein und sagte: „So liebe Leute, ich habe mir so viel genommen, wie ich brauche für meine Familie. Wenn noch jemand will, bitteschön. Wenn nicht, dann trage einer von euch denn Rest in die Steppe und schütte ihn dort aus. Ich mache es nicht. Aber ich will euch sagen, in einem halben Jahr währt ihr herzlich froh, wenn ihr solchen Brei bekommen würdet.“ Alle schwiegen und schauten sich bestürzt an, denn er hat mit einer Stimme geredet, die zu verstehen war, denn er war der Verantwortliche des Wagens. Alles schwieg, Männer, Frauen, auch Kinder. Endlich erhob sich ein junger Mann, vielleicht dreißigjährig, recht flappsig, stützte seine Hand auf die Knie, machte einen krummen Buckel und sagte mit einer spöttischen Stimme: „No ja, wann dr Veddr Siebrt sat, do muss mr esse gehe.“ Aber wir aßen noch zwei Tage an unserem Brei.
Pa erklärte uns alles genau, wie es kommen würde und so geschah es auch. Den Brei bekamen wir zweimal. In Novosibirsk gab es Borsch. Die Suppe bestand aus Wasser, etlichen Krautblättern, etlichen Kartoffelstückchen und Pilzen. Ja, nach der Suppe griffen alle. Ein alter Mann ließ sich sein Schüsselchen hochreichen, rührte es mit dem Löffel um und meinte: „Liebe Leute, bald sind wir am Ziel.“ So war es auch. Die nächste Station war Tomsk. Noch eine kleine Strecke, dann hieß es: „Tugan, alle aussteigen!“
In einer Stunde waren alle ausgestiegen. Der Zug fuhr ab. Die Soldaten, die uns begleitet hatten, winkten uns noch zu. Die Männer gingen in ein Büro, dort wurde ihnen gesagt: „Morgen kommen die Fuhren aus den Dörfern und holen euch ab.“ Jetzt war es gerade Mittag. Frauen und Kinder wurden in der Schule untergebracht. Wolli und ich gehörten auch noch zu den Kindern, so dass wir in der Schule nächtigten. Mama saß auf dem Fußboden, wir kuschelten bei ihr. So verbrachten wir die lange, lange Nacht. Am nächsten Tag kamen tatsächlich Wagen, um die Fritzen, Faschisten oder Hitlerleute abzuholen.

10 In Sibirien

26. September 1941. Jetzt waren wir in Sibirien. Pa ging zu der Stelle, wo die Wagen verteilt wurden. Wir waren neun Personen und bekamen zwei Wagen mit je einem struppigen Pferdchen mit hängendem Kopf vor dem Wagen eingespannt. Die Wagen wurden schnell beladen. Eine große Kiste, wie sie früher modern waren, und fünf Säcke, das war schnell getan. Das war all unser Hab und Gut. Die Sonne stand schon tief. Wir nahmen Abschied von unseren Leidensgenossen und vorwärts ging es in den Wald. Als die Sonne unterging, kamen wir auf eine Wiese. Da standen zwei Schober Heu. Zwei Russen hackten Äste von den Bäumen und lehnten sie an die Schober an, legten etwas Heu darauf und fertig war das Schlafzimmer. Helene, Anna, ich und Wolli legte uns zur Ruhe. Für Mama, Ernstine und Erwin war auch gesorgt. Marie, Elisabeth und Hans waren schon verheiratet und kamen in andere Dörfer. Papa und Julius saßen noch lange mit den Männern am Feuer. Dann gingen sie auch zur Ruhe. Die Russen legten sich neben dem Feuer auf die Erde. So wird’s warm, meinten sie. Als alles still wurde, hörte ich Erwin weinen und ich weinte dann auch mit ihm. Eine Flasche Milch hätte ihm gewiss gutgetan. Helene schimpfte auf mich: „Sei doch endlich mal still!“ „Ich kann nicht, ich habe Angst, dass er stirbt. Er ist mir doch wie ein liebes Brüderchen.“ Helene sagte ärgerlich: „Ich gehe und sehe nach.“ Als sie zurückkam rief Wolli: „Lebt er noch?“ „Ja, ja, er lebt noch.“ Dann wurde es still im Lager.
Am anderen Morgen frühe wurden wir geweckt. „Schnell, schnell!“, rief Pa: „Die Onkels haben schon für uns Tee gekocht! Guten Kräutertee.“ Aber der schmeckte scheußlich. Pa drohte mit dem Finger, Ma winkte mit der Hand und schlürfte ihren Tee, ob wohl oder übel. Ich musste höflichkeitshalber auch etliche Schlucke nehmen. Dann lief ich in den Wald.
Wie oft wurden wir gefragt, ob wir Hitler gesehen hätten. Anfänglich haben wir ihnen erklärt, dass wir keine Hitlerleute sind, sondern Bürger der Sowjetunion. Das konnten sie nicht glauben. Die Klügeren unter ihnen sagten: „Sie sehen ja gerade so aus wie wir.“ Wenn ich nach zwei oder drei Jahren im Vertrauen gefragt wurde, ob ich Hitler wirklich nicht gesehen hätte, fragte ich zurück: „Hast du vielleicht Stalin gesehen? Nein? Ich auch nicht. Weder Hitler noch Stalin.“
Bei der ganzen Aussiedlung ließ man endlich mal Gerechtigkeit walten. Egal ob Bauer, Lehrer, Arzt, Künstler, Sänger, Musikant, Steinhauer, Wissenschaftler, Christ oder Kommunist. Ja, die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen wurde aufgelöst. Das war doch gerecht, oder?
Die Männer mit denen wir fuhren waren höchstens achtzehn bis zwanzig Jahre alt und froh, dass sie noch nicht an die Front mussten. Darum tranken sie in großer Gemütsruhe ihren Tee. Endlich standen sie auf, holten ihre Pferde und los ging‘s, nach gestriger Ordnung, über Stock und Steine. Die Pferde merkten wohl, dass es Heimwärts ging, denn nach guter Nachtruhe hingen die Köpfe nicht mehr so tief. Es war schon dunkel, als wir in unserem Bestimmungsort ankamen. Uspenka hieß das Dorf. Die Straßen waren Menschenleer, wie ausgestorben. Da meinten die Onkels: „Wir waren im Pferdestall, dort ist ein Wächter, bei dem könnt ihr übernachten.“ Gesagt, getan. Die Pferde wurden in den Stall gebracht. Pa redete noch etwas mit dem Wächter, dann winkte er uns zu und wir gingen im Gänsemarsch in unser Nachtquartier. Neun Personen. Der Älteste dreiundfünfzig Jahre alt, der Jüngste zehn Jahre. Der Mann holte zwei arme voll Heu und wir legten uns darauf schlafen.
Am nächsten Morgen wurde ich früh geweckt. Ich war noch ganz schläfrig. Aber da standen schon zwei Männer an der Tür und glotzten, ob die Deutschen auch wirklich Hörner haben. Ihnen hatte man es so gesagt. Nach einem Weilchen sagte der Eine: „Die sehen ja gerade so wie wir.“ Dann kam der Vorsitzende zu Pa und sagte: „Komm, ich zeige dir, wo ihr wohnen werdet.“ Die Frau, bei der wir wohnen sollten, murmelte etwas von den Fritzen. In Deutschland hießen damals viele Männer Fritz, deshalb wurden wir so genannt. Außerdem sei ihr Mann an der Front, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Jetzt fing Pa an mit ihr Russisch zu sprechen. Da lächelte Sie schon etwas. Pa sagte, wir wären auch Bürger der Sowjetunion und sie brauche vor uns keine Angst zu haben. Er sah die Unordnung auf dem Hof und sagte: „Wir werden dir helfen das Holz zu sägen.“ Sie sagte: „Dann komm mal rein und sieh dir die Stube an.“ Pa schaute kurz in die Stube und sagte: „Charosch (Gut).“ Er holte uns ab und so zogen wir in unser neues Heim, wo wir fünf Jahre friedlich mit der Frau lebten. Wir richteten uns ein, so gut es ging. Auf dem Fußboden hatten wir Alle Platz. Pa fragte, ob sie nicht Stroh habe, um die Strohsäcke zu stopfen. Sie sagte; „Nein, aber auf dem Feld ist noch. Geht nur zu dem Vorsitzenden, er erlaubt es gewiss.“ Ma kochte schnell eine Suppe, wir aßen und gingen zur Ruhe, denn wir waren alle sehr müde. Wir hatten kaum eine halbe Stunde geschlafen, da sagte Wolli: „Hu! Da kriecht etwas über meine Hand!“ Bald meldete auch ich mich. Pa schimpfte ein bisschen und meinte: „So schlaft doch endlich. Morgen früh ist die Nacht am Ende!“ Nach einer Weil sagte Ma: „Julius, schläfst du?“ Er: „Nein.“ „Aber da bewegt sich etwas auf der Decke. Ich hol Streichhölzer, dann werden wir sehen, was da los ist.“ Ma schrie auf: „Oh, Wanzen!“ Pa mahnte: „Nicht lautwerden, sonst kann die Frau nicht schlafen. Zerdrückt sie einfach mit dem Finger, wo ihr sie findet, auf Kissen, Decken.“ Die Bettwäsche war voller Blutflecken. Nächsten Tages sagte Pa zu der Frau, sie hieß Schura, dass die Wanzen uns so gequält hätten. Sie lachte und meinte nur: „Euer Blut ist doch wohl süßer als unseres.“ Sie meinte noch, wir sollten morgen einen Wermut holen und ins Bett legen, dann kämen sie nicht. Am nächsten Abend holte Pa Wermut, es gab ein gutes Wermutaroma. Wir legten uns früher schlafen, um endlich mal ausschlafen zu können. Aber: Oh weh! Da plumpste etwas von der Decke, nochmal und nochmal. Pa machte Licht und lachte: „Die Biester sind aber klug“, meinte er. „Schaut einmal hin.“ Sie krochen tatsächlich die Wand hoch, an der Decke weiter und ließen sich auf unsere Betten fallen.
Nach einem Tag Ruhe ging Pa ins Dorf, um sich mit den Leuten bekannt zu machen. Da kam ihm eine Frau entgegen, er grüßte sie freundlich und sagte: „Sie wissen doch gewiss, dass Deutsche ins Dorf gekommen sind. Ich bin der Vater der Familie, aber wir sind nicht aus Deutschland, denn wir sind Bürger der Sowjetunion, wie auch ihr. Sie machte nur: „Oh!“ „Haben sie einen Mann?“ Sie: „Nein, habe ich nicht.“ „Dann kann ich ihnen helfen. Ich kann Filzstiefel versohlen, Beile und Sägen schärfen, auch Stiele machen, wenn es nötig ist. Das wurde schnell bekannt im Dorf und die Frau meinte, dann könne er ja gleich mitkommen. „Haben sie Instrumente?“ „Ja, habe ich“.
Was er da sah war Haarsträubend, sagte Pa. Gegen Abend kam er endlich Heim. Ma hatte sich schon sorgen gemacht, vielleicht hätte ihn ein Russe erschlagen. Aber Julius meinte ganz keck: „Unser Pa lässt sich doch nicht von einem Russen erwürgen. Er sagt auch immer, dass Russen seine Freunde sind, man darf sie nur nicht angreifen.“ Er kam mit strahlenden Augen und einem Brot im Arm. Die Frau hätte gefragt, was sie schuldig sei, er, dass er das nur zur Bekanntschaft gemacht hätte. Sie: „Nein, das geht nicht, du hast alles so schön gemacht, Geld habe ich keins, aber ein frisches Brot kann ich dir geben.“ Er bedankte sich reichlich und ging frohen Herzens nach Hause. Das war der erste Arbeitstag in Sibirien.
Am anderen Morgen kam der Brigadier und sagte: „Ihr habt schon zwei Tage geruht, jetzt geht es an die Arbeit. Wie heißen sie?“ „Jurij Ivanowitsch.“ „So, Jurij Iwanowitsch, jetzt nehmen Sie alle ihre arbeitsfähigen Kinder und kommen mit mir.“ Tienchen blieb Zuhause. Erwin war gerade neun Monate alt, Wolli und ich noch zu klein. Es gingen Papa, Julius (er war 16 Jahre alt), Anna und Helene. Das war schon eine ganze Brigade. „Du und dein Sohn bleibt hier, die Ställe müssen für den Winter renoviert werden.“ „Ja, wo kann ich denn Beil und Säge, Hammer und Nägel finden?“ Es wurde nichts gefunden. Pa sagte zu Julius: „Laufe schnell und hole alles was wir aus der Wolgarepublik mitgebracht haben, aber Nägel habe ich keine.“ „Ich hole“ sagte der Brigadier und lief ab, kam auch bald zurück, aber sie waren viel zu klein. „Genosse Brigadier…“ „Ich heiße Ivan Petrowitsch“ „Das müssen doch lange und dicke sein!“ „Ah, ich laufe noch einmal und schaue nach.“ Und tatsächlich, er brachte ein Kästchen mit guten Nägeln.
Mit allem hin und her war es Mittag geworden. Unsere Mädchen gingen mit den Frauen Kartoffel ausgraben. Es war Ende September und es gab schon Nachtfröste. Die Frauen lobten sie, weil sie so flink und geschickt gearbeitet hatten. „Aber Morgen bringt ihr Eimer und Spaten mit, dann wird es noch schneller gehen.“ Als alle Arbeiter abends nachhause kamen, holte Pa tief Atem und sagte: „Der erste Arbeitstag in Sibirien, aber es ist ein Wunder, dass die überhaupt noch am Leben sind, da geht alles so langsam…“
Am nächsten Tag ging die Truppe ohne gerufen wieder zur Arbeit und bei Zeit, wie es sich gehört, bei Sonnenaufgang. Aber, oh weh, es war noch keiner da. Doch ein Junge lief schnell über die Straße zum Brigadier und sagte: „Der Hitler mit seinen Soldaten ist schon zur Arbeit gegangen.“ Der Mann schimpfte und sagte, das Wort wolle er nicht mehr hören, es seien gute Arbeiter.
Meine Schwestern gingen heute mit Spaten und Eimer zur Arbeit und hatten ein paar Handschuhe mitgenommen. Wer grub, zog die Handschuhe an, der andere scharrte mit bloßen Händen in der kalten Erde. Die Frauen lobten: „Oh, ihr habt Handschuhe, aber die sind doch zu schade, die sind doch nur für Sonntag.“ Pa hatte auch schon bekannt gemacht, dass Frau und Tochter gute Schneiderinnen seien. Ma war erschrocken und sagte: „Aber Julius, ich kann doch nicht für andere Leute nähen, das ist nicht meine Gabe!“ „Nun, meine liebe Frau, was ist denn deine Gabe?“ Sie etwas schnippisch: „Kartoffel schälen und Kartoffel habe ich nicht.“ „Morgen kommen schon die ersten Kunden“ meinte Pa „und du solltest nur ihre Blusen und Röcke sehen, dann würdest du nicht mehr sagen, ich kann das nicht‘“. Dieses Gespräch hörte Tienchen und sagte: „Warte Ma, morgen, wenn die Kunden kommen, werde ich nähen“. Aber sie konnte es auch nicht besser, als sie es von der Mutter gelernt hatte.
Tatsächlich kam am nächsten Tag eine Frau mit einem Bündel unter dem Arm und stand schüchtern an der Tür. Tienchen fragte sie, ob sie etwas wollte. Sie sagte: „Ich bin die Frau, bei der euer Vater gestern den ganzen Hof in Ordnung gebracht hat und er sagte, dass seine Frau und Tochter Nähen könnten. Nun, ich bin gekommen und frage, ob ihr mir eine Bluse und Rock nähen wollt.“ „Na, dann kommen sie mal her an den Tisch, dann zeigen sie mal was sie dahaben.“ Was da zum Vorschein kam: Selbst gesponnene, auch selbst gewebte Leinenstoffe, ein Stück war kariert, weiß mit rot, das andere hellgrau gebleicht.
Wie wurde gebleicht? Man hatte im langen Winter mit viel Mühe und Arbeit vielleicht zehn Meter Stoff gewebt. Den legte man auf den blendend weißen Schnee und ließ ihn zwei bis drei Wochen liegen. Gut war, wenn sich noch etwas Schnee auf den Stoff legte.
So, jetzt gehen wir ans Nähen: Tienchen holte das Zentimeterband und fing an zu messen. Die Frau fragte verwundert, was das sei. „Das ist zum Messen, wie lange der Rock sein soll.“ Die Frau sagte: „Charascho, charascho. Ja, wann kann ich kommen meine neuen Sachen holen? Übermorgen?“ Die Frau kam zur rechten Zeit, musste anpassen, drehte sich hin und her und freute sich, wie hübsch sie aussah. Dann fragte sie endlich, was sie schuldig wäre. Tienchen sagte, einen halben Eimer Kartoffeln, das reiche gerade mal zum Essen für uns. „Gut“ sagte sie, aber sie gab es nicht gern.
Es war ein Wunder geschehen: Es lief wie ein Lauffeuer durchs Dorf, das Wunder von der schönen Bluse und dem Rock und noch sogar mit einer Maschine genäht, welche wir aus der Wolgarepublik mitgenommen hatten. Jetzt gab es Arbeit genügend. Aber nach unserer Meinung waren sie geizig mit der Zahlung. Sie wollten nur Sauerkraut geben.
„Ja wissen sie, wir haben eine Kuh, ein Schwein und Hühner, die müssen alle mit Kartoffeln gefüttert werden.“ „Ach so“, sagte Pa „uns wollt ihr nur Sauerkraut geben, das geht nicht. Für das, was meine Frau genäht hat, ist ein halber Eimer Kartoffel das mindeste.“ Am anderen Tag kam sie mit einem kleinen Eimer, der nur knapp halb voll war. Gut das Pa noch da war. Er schaute in den Eimer, sah die Frau an, aber mit solchem Blick, dass sie errötete und ging, ohne ein Wort zu sagen. Ma schüttete die Kartoffel in eine Schüssel und sagte: „Auf Wiedersehen“.

11 In der Schule

So verging der Winter. Wolli und ich gingen zur Schule. Ich in die vierte Klasse, Wolli in die Zweite. Es wurden mehrere Klassen in einem Raum unterrichtet und es gab in der Schule nur eine Lehrerin. In meiner Klasse waren nur ein Junge und zwei Mädchen. Ich war jetzt die vierte Schülerin.
In einer Geographiestunde behandelten wir die großen Flüsse Russlands. Die Lehrerin fragte: „Wer kann mir die Wolga zeigen?“ Sie drehte die Tafel rum, da war eine große Karte angebracht. Alle schwiegen. „Milja, kannst du sie mir zeigen?“ Ich ging zur Tafel, fing in der Nähe von Moskau an, fuhr mit dem Finger immer weiter nach unten. „Und hier fließt sie ins Kaspische Meer“. Die Lehrerin sagte: „Richtig! Das ist Miljas Heimat, deshalb weiß sie es so gut. Sie hat eine schöne Heimat gehabt, mit grünen Wiesen, vielen Blumen, großen Feldern. Sie arbeiteten in den Kolchosen, wie auch wir lieferten sie viel Getreide an den Staat. Jetzt aber leben sie bei uns. Wir müssen freundlich zu ihnen sein.“ Diese Worte waren Balsam für mein heimwehkrankes Herz.
Wie bekannt, bleibt die Zeit nicht stehen. Wir schrieben schon 1942. Da hatte die Lehrerin eine komische Idee: „Ich werde uns allen die Haare abschneiden, ich habe eine Haarschneidemaschine, denn es kommt bald eine Kontrolle, ob wir Läuse haben. Tatsächlich kam sie am nächsten Tag mit einer Glatze. Sie meinte: „Wir Lehrer sollten ein Vorbild sein und das habe ich getan. Also wer ist der Erste?“ Die Jungs sprangen auf, es wurde einem nach dem anderen die Haare geschnitten. Die Mädchen zögerten noch, aber es ging ohne Gnade und Barmherzigkeit. So rief sie alle der Reihe nach zu sich. Alja, Walja, Manja, Tanja, Dascha. „Milja hat keine Läuse, das weiß ich.“ Ja, das war unsere liebe Fjodorowna. Mir wurden die Haare nicht geschnitten.
Diese Zeilen schreibe ich für Enkel und Urenkel. Wenn man unser Leben dort verstehen will, muss man auch die Kleinigkeiten erwähnen: Der Winter verging so langsam, es wurde Sommer, da kam eines Tages die Lehrerin zu uns und sagte: „Ihr seid jetzt in Sibirien und da müsst ihr alle Möglichkeiten, die die Natur euch bietet, ausnutzen. Also Milja und Wollik (Wolli), nehmt euch jeder einen Eimer und wir gehen Pilze sammeln.“ Mama nickte nur mit dem Kopf und wir beide waren froh wie der Mopps im Haferstroh, denn wir waren noch gar nicht im sommerlichen Wald gewesen. Sie erklärte uns geduldig, wofür jeder Pilz zu gebrauchen sei. Solange wir im Tannenwald waren, waren die Pilze oben grünlich und unten weiß. Das waren Salzpilze. Sie erklärte auch gleich, wie man sie für den Winter einsalzt, es gab aber einen großen Mangel an Salz. Am nächsten Tag führte sie uns in einen Birkenwald. Darin waren ganz andere Pilze, größer und dicker, die gefielen uns auch besser. So ging sie drei Tage mit uns. Am vierten Tag sagte sie: „So Kinder, jetzt geht ihr alleine, ich setze mich unter die Birke und werde lesen, ich habe mir ein Buch mitgebracht.“ Es gab aber auch Giftpilze, da fragten wir uns, welche die richtigen seien. Ungefähr in einer Stunde waren wir fertig. Sie kontrollierte und tatsächlich: Kein Giftpilz war dabei. Wir waren stolz auf unsere Arbeit. So hatten wir zum Winter zwei Eimer Salzpilze und einen Eimer trockene Pilze.
Jetzt waren wir selbstständig geworden. Wir gingen fleißig jeden Tag nach Pilzen. Zwei Eimer waren gar nicht so viel. Bis man sie gesäubert hatte, war es nur noch die Hälfte. Einen Tag gab es Salzpilze, am nächsten Tag Trockenpilze. Tienchen hatte sich bei den Frauen befragt, wie man das macht. Es klappte ganz gut. Aber an dem Tag, wo die Pilze getrocknet werden mussten, war es schwierig. Es musste das Blechöfchen angezündet werden, man legte die Pilze mit dem oberen Teil nach oben. Kaum war es warm geworden, da wurde es lebendig auf dem Ofen, wegen Würmern, die in den Pilzen lebten. Heute schaudert es mich auch, aber damals war das ganz normal. Die Würmer sind gestorben und im Winter gab es Pilzsuppe.
Eines Tages, als wir genügend Pilze hatten, sahen wir, dass sich Leute an einem kleinen Häuschen versammelten. Man sagte uns, das sei ein Laden. Wir hatten noch nie gesehen, dass da etwas verkauft wurde. Jetzt sagten die Leute, wir hätten Glück gehabt, die wollten Pilze kaufen. Wir gingen hinein und verkauften unsere Pilze und bekamen dafür ein Kilogramm Salz. Oh Freude und Wonne, das Salz war rar. Wir hatten schon seit zwei Wochen ohne Salz unsere Brennnesselsuppe gegessen. Wir marschierten wieder zurück in den Wald, holten nochmal jeweils einen Eimer Pilze. Als Mama uns sah, kam sie weinend gelaufen. „Oh seid ihr wieder da! Ich dachte die Wölfe oder ein Bär hätten euch gefressen.“ „Oh nein, Mama, schau mal, was wir gebracht haben: Es ist Salz! Jetzt können wir wieder unsere Brennnesselsuppe essen.“
Aber Gott hat so viel in die Natur hineingelegt, dass man beinah alle Blättchen essen konnte. Da gab es das Heimkraut, es heißt auch Acker-Schachtelhalm oder Zinnkraut, so heißt es auch noch heute im Deutschen. Das war das erste Grün das zum Vorschein kam. Da kamen die Mädchen, luden mich ein zum Pestiki (Samen von dem Kraut) essen. Interessanterweise kamen die Blüten als erste zum Vorschein. Sie waren so groß, wie ein Nagel vom kleinen Finger. Wir pflückten jede eine Handvoll, gingen nach Hause, aßen, lachten und freuten uns des Lebens. Die Luft war sauber, denn es gab kein Auto, keinen Traktor und auch kein Flugzeug, auch das Wasser im Fluss war sauber. Das sind die guten Seiten Sibiriens. Von den vielen Insekten und Plagegeistern schweigen wir. Vielleicht berichte ich davon später mal.

12 Die Köchin

So rückte auch langsam die Heuernte heran. Es wurden ungefähr zehn bis zwölf Frauen mit Sensen ins Feld geschickt. Das war eine sehr schwere Arbeit. Das Graß war hoch und dick gewachsen. In zwei Tagen war es trocken, dann wurde es mit Harke und Rechen zu kleinen Haufen angehäuft. Später wurden für den Winter große Haufen zusammengefahren. Aber da musste eine Brigade zusammengestellt werden. Meine Schwester Tienchen sollte Koch werden, weil sie als Lehrerin gut rechnen konnte. Sie sträubte sich aber. Der Brigadier ließ nicht nach: „Das wirst du schon schaffen, wir erklären dir, wie das geht.“ „Ja, wie groß wird die Brigade denn sein?“ Er zählte so zehn bis zwölf Personen. „Und was soll gekocht werden?“ Er sah die verantwortliche Frau an. „Gerstengrütze.“ „Und wie viel auf eine Person?“ Die Frau runzelte die Stirn und sagte „200 Gramm, also zwei Kilogramm. Aber das ist zu wenig. Sie nehmen ja noch jeder eine Flasche Milch mit, dann langt es.“ „Und wie geht’s weiter?“ „Komm nur, ich zeige dir, wie es mit einem großen Kessel und einer Stange gemacht wird. Ja, nimm deine kleine Schwester mit.“ So fuhren wir los.
Als wir an Ort und Stell kamen, war noch niemand da. Tienchen fragte, wo denn seine Leute seien. Er: „Das Heu ist noch etwas nass, aber sie kommen bald.“ Der Brigadier hieß Andrej, er baute das Gerüst auf, der Kessel wurde angehängt, Wasser und Grütze reingetan, sogar Salz, obwohl es rar war, und Feuer darunter gemacht. Ich musste mit einer Schaufel rühren. Pa hatte eine gemacht: Einen Meter lang und 20 Zentimeter breit. Das musste sein, weil ich ja nahe am Feuer stand. Tienchen ging Holz holen. Sie warnte mich noch davor, zu nahe ans Feuer zu gehen und die Grütze nicht anbrennen zu lassen. Als Tienchen kam war mir schon ganz bange, denn mir war schon ganz heiß geworden und das Gesicht glühte. Jetzt schickte sie mich nach Holz, denn dort in dem Wäldchen sei es nicht so heiß. Ich holte zwei Bündel Holz, das war auch genug. Der Brei war schon schön dick geworden. Ich dachte, dass er doch schon fertig sei. Tienchen sagte: „Nein. Denn je länger er kocht desto mehr wird es.“ Als der Brei endlich fertig war, musste ich die Leute zum Mittagessen holen. Als diese endlich da waren, ging es lustig zu. Jeder holte sein Holzschüsselchen und Holzlöffel bei, reichten es Tienchen, sie schöpfte reichlich ein. Die Frauen sahen sich lächelnd an, aßen drauflos. Eine flüsterte leise: „So viel.“ Eine ältere Frau saß neben mir. Sie sagte: „Reiche mal deinen Teller her.“ Ich reichte ihn ihr. Sie goss etwas Milch in meinen Teller, worüber ich sehr froh war. Tienchen sagte: „Reicht noch einmal eure Schüsselchen, ich verteile noch was übriggeblieben ist. Den großen Topf kann Milja auskratzen“. So ging es noch etliche Tage.

13 Arbeitslager (Trudarmee)

Im Jahre 1942 wurden viele in die Trudarmee (Arbeiterarmee als Ersatz zum Militärdienst für Deutschstämmige) einberufen, so auch Julius im Alter von 17 Jahren. Als Papa Julius fortgebracht hatte, dauerte es nicht mehr lange, dann musste auch er weg. Die Leute redeten viel, dass das Jahr 1942 das schwerste Jahr sein würde. So war es auch. Im Oktober mussten Papa, Lenchen und Anni in die Trudarmee. Eine Woche durften sie noch Zuhause bleiben, dann ging es los. Ein sehr schwerer Abschied: Papa, Lenchen und Anni verabschiedeten sich mit Mama, Tienchen und Erwin. Wolli und ich durften ein Stück mitgehen.
Papa hat die Trudarmee nicht überlebt. Er starb im Jahr … in … Die Geschwister kamen nach und nach zurück, manche nur halb am Leben.

14 Hirtenzeit und Himbeerkrankheit

Im Sommer musste ich die Kühe vom Kolchos zusammen mit einer Frau hüten. Ich fürchtete mich, denn sie hatte eine Männerstimme, aber sie war ganz freundlich: „Es ist ja Himbeerzeit, sie mal da ist ein Himbeerstrauch voller schon reifer Himbeeren!“ Leider wurde es bald Abend und ich musste die Kühe nachhause treiben, aber ich habe die Frau am ersten Tag liebgewonnen, vor welcher ich mich so gefürchtet hatte. Ich hatte noch viele Himbeeren gegessen. Als ich nachhause ging, rief sie mir noch nach: „Komm morgen wieder!“
Am nächsten Morgen ging ich ganz freudig zu meiner Tante Wera. Sie rief schon von weitem: „Heute gehen wir an eine Stelle, wo noch mehr Himbeeren sind!“ Dieser Tag fing schön an, aber sollte ganz traurig enden: Bis Mittag aß ich fleißig Himbeeren, aber dann schmeckten sie nicht mehr und der Kopf schmerzte. Tante Wera rief mich und fragte: „Was ist mir dir, bist du krank?“ „Nein krank bin ich nicht, aber der Kopf schmerzt.“ „Hast du schon gegessen?“ „Nein.“ „Komm, setz dich neben mich, hier hast du ein Stückchen Brot und eine Flasche mit Wasser aus dem Flüsschen, dann wird es wieder besser werden.“ So war es auch, ich aß noch meine zwei Kartoffeln, legte mich in den Schatten und schlief ein, denn die Kühe hatten sich zur Ruhe begeben. Nach einer Weile weckte mich Tante Wera: „Sie mal, die Kühe sind schon weit weg! Lauf und bringe sie zurück.“ Und los ging es. Sie rief noch: „Schneller, dann wird es dir wieder besser gehen!“ Nein es wurde nicht besser. Ich aß immer noch Himbeeren, sie schmeckten auch wieder, aber der Kopf brummte und die Hände und Beine zitterten.
Endlich war es Abend, wir durften die Kühe nachhause treiben. Als wir ins Dorf kamen sagte Tante Wera: „Lauf nachhause, sonst bleibst du auf der Straße liegen.“ Jetzt bemerkte ich, dass Menschen und Häuser tanzten, alles bewegte sich, nur ich stand stille. Als ich mich ausgeruht hatte, ging ich weiter. Endlich war ich Zuhause angekommen und warf mich auf die Pritsche. Mama kam gelaufen, rüttelte und schüttelte mich, alles half nichts. Später erzählte sie, wie sie sich bemüht hatte, mich aufzuwecken. Sie nahm eine Schüssel mit kaltem Wasser und wusch mir das Gesicht. Es sei heiß und rot gewesen. Dann merkte sie, dass die Hitze nachgelassen hatte, aber wach wurde ich nicht. Dann gab sie mir mit einem Löffel Wasser in den Mund. Ich habe geschluckt. Noch etliche Löffel und ich machte die Augen auf. Ma wollte mit mir reden, aber die Augen fielen wieder zu.
Am nächsten Tag kam unsere Babuschka. Sie wohnte gegenüber und kam jeden Abend zu uns und unterhielt sich mit unserem Papa. Sie wurde unsere liebe Babuschka. Sie leistete uns immer Beistand, bis wir Uspenka verließen. Ich merkte, dass sie da war und freute mich. Dann sagte sie: „Die stirbt.“ Ich dachte, das wäre gut. Ich sei noch jung und habe noch nicht gesündigt, dann währe ich ja beim Heiland im Himmel! So dachte ich.

Er wurde arm, wir wurden reich
Er macht uns Königskindern gleich
Was alle Welt für Unsinn hält
Ist Gottes Gnade für die Welt

15 Die Wanderung

Das Jahr 1943 war ein sehr schweres Jahr. Es waren schon viele russische Männer unseres Dorfes im Krieg gefallen – eine traurige Zeit.  Wir bekamen einen Brief von unseren Geschwistern, die circa 80 Kilometer entfernt von uns wohnten: Marie, die Frau von unserem Bruder Hans mit vier Kindern, und unsere Schwester Elisabeth, die Frau von Dietrich Wall, mit drei Kindern und Helene Wall, unverheiratet. Es war große Not, die Männer waren im Arbeitslager (Trudarmee). Diese Armen fragten, ob sie einige ihrer Kinder zu uns über den Winter schicken dürften. Unsere liebe Mama sagte sofort zu. Sie meinte, um eine Kartoffel käme es nicht drauf an. Bruno Wall, der Sohn unserer Schwester Elisabeth, kam zu uns, Lida (Hulda) Siebert, die Tochter von Hans, kam zu Tante Marie Warkentin <Marie Warkentin, geb. Gerh. Wall (*ca. 1894). AW>, Lida war die Großnichte von dieser Tante.
Eines Abends kamen wir mit der Familie Warkentin zusammen, um zu besprechen, wie man das machen könnte, aber an diesem Abend kamen wir zu keinem Beschluss. Nach etlicher Zeit kam Mama wieder auf die Rede, dass es doch bald Zeit wäre und sich jemand auf den Weg machen müsste, sonst würde es zu spät im Herbst werden. Ich meldete mich gleich und sagte, ich könnte doch mal hinlaufen und nachsehen, wie es dort aussähe. Sie lächelte, sagte aber zuerst nichts. Dann: „Du stellst dir das ganz einfach vor.“ Ich nickte. „Na dann komm doch mal her und wir wollen besprechen, wie wir es am besten machen könnten.“ Sie hatte Tränen in den Augen. Ich sagte: „Mama, du weißt, dass ich gut laufen kann.“ „Ja, Laufen kannst du gut, das weiß ich, aber dass die Fußsohlen schmerzen werden, weiß ich auch. Willst du nicht lieber Wolli mitnehmen?“ Ich schrie auf: „Oh, nur das nicht! Er wird heulen, dass er nach Hause will.“
„Mama, jetzt hör mal was ich sage: Morgen reibst du Kartoffel und backst mir eine Tüte Draniki (Kartoffelpuffer) und das reicht.“
Und Mama nähte an einen Kissenbezug Griffe dran, so dass es eine Tragetasche wurde. Am nächsten Tag ging es los. Wir verabschiedeten uns kurz, Mama begleitete mich bis zum Wald und sagte: „Pass schön auf. Erst muss man langsam gehen und später kann man dann schneller gehen.“ Ich sagte: „Mach dir keine Sorgen, du sagst doch immer, wenn man betet, dann erhört Gott uns. Und ich werde auch beten.“
Es war wahrscheinlich August 1943 als ich losging. Ich schaute mich gar nicht mehr um. Ich wusste, dass ich durch Ulanowka gehen musste, dort wollte ich übernachten. Wenn mir jemand begegnete, fragte ich, ob der Weg nach Ulanowka geht. So ging ich den ganzen Tag. Zwischendurch aß ich einen Dranik. Den Weg kannte ich eigentlich gut, weil ich von dort schon öfters Post geholt hatte (es waren 30 Kilometer). Die Sonne neigte sich, ich ging immer schneller. Jetzt musste ich ein Nachtlager suchen. Man hatte mir gesagt, ich sollte nicht gleich ins erste Haus reingehen. So machte ich es auch und ging etwas weiter. Ich klopfte an, es machte eine alte Frau auf, rief mich herein. Ich fragte, ob ich übernachten könnte. Dann fragte sie mich erst aus, wohin und woher. Ich wollte weiter nach Roschdestwenka. „So weit?“ hat sie sich gewundert. Auf einmal sagte sie: „Du bist doch eine Deutsche?“ Da dachte ich: Jetzt geht es los. Aber sie hat kein abfälliges Wort gesagt, ging in die andere Stube, brachte einen großen Pelz, warf ihn auf den Boden und sagte: „Hier kannst du schlafen“.
Nach einer Weile rief sie mich in die Küche, gab mir Draniki, Milch und einen Löffel Schmand. Ich schlief dann sofort ein. Als ich morgens wach wurde, wirtschaftete die Babuschka schon in der Küche. Als ich sofort gehen wollte, hielt sich mich zurück und machte mir wieder Draniki mit Milch. Ich reichte ihr die Hand, hielt die ihrige fest und küsste sie. Sie schaute mich erstaunt an und ihr kamen die Tränen. Dann kamen mir auch die Tränen, ich lief fort. Dies war der zweite Tag, es war schön und sonnig, die Vögel zwitscherten und sangen ihre Morgenlieder.
So ging es von Dorf zu Dorf. In einem Dorf fragte ich, ob es noch weit bis Chaldeewo war. Ein alter Mann sagte: „Noch zwei bis drei Stunden.“ Dort musste ich wieder ein Nachtquartier suchen. Aber ich wusste, dass dort Leute aus unseren Heimatdörfern wohnten. Meine erste Frage war: „Wohnen hier Deutsche im Dorf?“ „Ja, da wohnen Neufelds“, war die Antwort.
Die Frau Neufeld kannte ich von Zuhause: Frau Peter Neufeld <Peter Neufeld (1906-1969), #1254786, seine Frau Lilli, geb. Jul. Wiens (30.04.1911-09.1993), #1254765. AW>. In der Nachbarschaft wohnten Johannes Neufelds <Johannes Neufeld (12.05.1884-25.03.1936), #1254389. Er hatte vier Töchter – Elisabeth (02.04.1922-19.08.2012), Renate/Nadja (11.10.1925-09.11.2011), Anna (01.07.1928-19.09.1988), Helene (10.03.1930-03.08.1983). AW>. Die hatten drei Mädchen. Da durfte ich übernachten.
Den dritten Tag ging es ziemlich bergab. Die Müdigkeit zeigte sich trotzdem bald. In Osinowka wollte ich zur Nacht bleiben. Da wohnten auch Bekannte aus unserem Heimatdorf: Familie Wall, mit deren Tochter besuchte ich die Schule zusammen in einer Klasse. Ich wusste aber nicht, in welchem Haus sie wohnten. So musste ich wieder nach Deutschen fragen. So kam ich zur Familie Fröse. Helene Fröse hatte ein Kind, darum war sie Zuhause. Sie kochte für mich eine Molkensuppe. Die hat so gut geschmeckt! Ich hatte schon so lange nichts gekochtes gegessen, unterwegs nichts getrunken. Als die anderen Frauen von der Arbeit im Kollektivgarten nach Hause kamen, luden sie mich ein, über Nacht zu bleiben, aber ich wollte ihnen keine Umstände machen, weil sie so alt und ausgemergelt aussahen.
So entschloss ich mich, die letzten sieben Kilometer bis zu meinem Endziel (das Dorf Petrowka) noch zu bewältigen. Die Sonne war nur eine Handbreit über dem Horizont, also noch eine Stunde bis zur Abenddämmerung. Da musste ich mich aber beeilen! Als ich näher zum Dorf kam hörte ich Stimmen: Die Kühe wurden nachhause getrieben. Meine Schwägerin Marie stand am Heuhaufen, um die Kühe nicht ranzulassen. Ich begrüßte sie. Sie sah mich ganz verwundert an und sagte nach einer Weile: „Ja, Milusch! Bist du das? Wo kommst du denn her?“ Wir begrüßten uns herzlich und ich zog mit ihnen den Kühen nach ins Dorf. Meine Schwester Lieschen war mit den Kindern Zuhause. Die Kinder schrien: „Sie kommen, es sind aber drei Frauen!“ (Schwägerin Helene war auch dabei). Da sagte Armin, der Älteste: „Das ist ja Tante Milusch!“ Sie kamen rausgestürmt, großer Jubel und Trubel.
Es gab frische Kartoffel, so hatten wir was zum Essen. Aber sie waren noch ärmer als wir. Es war eng im Haus (drei Frauen und acht Kinder auf ca. 50 Quadratmeter). Ich schlief ganz an der Tür. Es zog von draußen. Darum bekam ich die wärmste Decke. Ich konnte nicht schlafen, alles juckte. Morgens merkte ich dann, dass die Decke voll Läuse war. An denen waren sie reicher als wir. Wo Armut ist, sind auch die Läuse und Wanzen, weil es keine Wechselkleidung und keine Kraft, gegen das Ungeziefer zu kämpfen, gibt.
Am nächsten Tag ging ich mit Helene Kühe hüten. So konnte Marie Zuhause bleiben und im Garten arbeiten. Helene war früher Lehrerin. Sie hatte viele Bücher gelesen. So erzählte sie mir zwei Wochen lang Geschichten.
Jetzt wurde es aber Zeit für die Rückreise. Wie sollte man da vorgehen? Ich sollte ja die zwei Kinder mitnehmen. Da ergab es sich so, dass Helene einen Laib Brot bekommen hatte. Sie sollte mit anderen Leuten 50 Kilometer weit gehen, um Baumstämme als Flöße den Fluss abwärts treiben zu lassen (Lesosplav), wo diese später abgefangen und weiterverwendet wurden. Da sagte sie: “Morgen gehen wir mit den Kindern los. Die Stämme sollen selber schwimmen.“ Uns wurde noch zusätzlich zu dem Laib Brot etwas Essen eingepackt und so ging es los. Den ersten Tag gingen wir nur acht Kilometer bis Osinovka. Die Kinder, genau wie wir, barfuß, ein paar Höschen, ein Kleidchen. Sie waren todmüde.
Am zweiten Tag schafften wir 20 Kilometer. Zur Nacht waren wir bei Familie Neufeld. Da bekamen wir Abendbrot und Frühstück. Es gab schon frische Kartoffeln. Die Kinder jammerten: „Wann sind wir endlich da?“ Da mussten wir noch zwei Tage wandern. Manchmal nahmen wir sie huckepack. Aber lange konnten wir sie nicht tragen. Zum großen Unglück hatten wir uns verirrt. Ich war auch am Ende. Ich sagte: „Wollen uns hier in den Heuhaufen einwühlen bis Morgen früh.“ Aber Helene sagte: „Nein, nein“. So schleppten wir uns weiter, bis wir aus der Ferne das Spielen einer Ziehharmonika hörten. Da wussten wir, dass wir in der Nähe eines Dorfes waren. Bei den Russen war es üblich, dass die Jugend jeden Abend auf der Straße tanzte und sang.
Als wir das Dorf erreichten, stand aber nur noch ein Liebespärchen am Zaun. Da sagte Helene: „Milusch, geh du und frag, wo hier Deutsche wohnen, du kannst besser russisch als ich.“ „Über die Brücke, dann das erste Haus“, sagten sie. Ich sagte zu Helene: „Aber Deutsch kannst du besser, wenn wir ankommen, sprichst du.“ Helene klopfte am Fenster und eine Frau fragte: „Wer ist da?“ „Wir sind auf der Durchreise mit zwei Kindern. Wir würden gerne bei euch übernachten.“ Sie wunderte sich sehr, nahm uns aber freundlich auf, gab uns noch was zu Essen. Die Kinder schliefen sofort ein, wir bald auch. Als wir morgens aufwachten, roch es köstlich nach gekochten Kartoffeln. Wir bekamen davon und bedankten uns herzlich. An dem Tag kamen wir bis Ulanowka, da übernachteten wir noch einmal. Noch eine Tagesreise und noch eine Übernachtung in Petropawlowka. Die Kinder konnten wir morgens gar nicht aufwecken, so müde waren sie. So gingen wir erst am Nachmittag los und erreichten doch noch unser Dorf. Mama freute sich sehr und weinte überschwänglich. Sie dachte, ich wäre Wölfen oder Bären zum Opfer gefallen. Bruno blieb bei uns und Hulda ging mit Helene zu Tante Maria Warkentin. Die Kinder haben ihre Oma (meine Mama) hier zum ersten Mal gesehen. Ihnen ging es hier sehr gut. Tienchen nähte für Bruno aus Stoffresten gute Kleider. Circa 8 Monate blieben sie bei uns. Dann kamen ihre Mütter und holten sie mit einem Kinderschlitten nach Hause. So brauchten die Kinder nicht zu laufen.

16 Schluss

Wir lebten von unserem Garten, hauptsächlich von Kartoffeln, diese gediehen sehr gut.
Mit der Zeit verbesserte sich die Lage. Der Krieg ging zu Ende, ich wurde erwachsen und habe geheiratet. Bis 1956 waren wir unter Meldepflicht (Kommandantur). Das bedeutete, dass wir uns jeden Monat bei der Behörde melden mussten. Wir durften ohne Erlaubnis das Dorf nicht verlassen. Das führte zu Problemen, denn wenn wir in ein Nachbardorf gehen wollten, mussten wir den Kommandanten fragen, der wiederum in einem anderen Dorf wohnte. Dank den Bemühungen von Konrad Adenauer wurde dieses Gesetz 1956 geändert.
Nachdem dieses abgeschafft wurde, konnten wir 1958 nach Karaganda ziehen. Dort lebten wir 35 Jahre. 1993 wanderten wir nach Deutschland aus. Und jetzt leben wir schon 25 Jahre in Deutschland und sind dankbar für die Wege, die Gott uns geführt hat. Wir haben es erlebt was geschrieben steht in Ps.37, 5: „Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen“.

Emilie als alte Frau, vielleicht beim Nachsinnen über ihr Leben
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