Erinnerungen von Helene Wiens, geb. Wall

Diese Erinnerungen wurden 1998 in der Zeitschrift „Der Bote“ veröffentlicht. Ich habe sie aus einzelnen Blättern zusammengefügt. Scheinen aber nicht vollständig zu sein. A.W.

Mein Name ist Helene Wall. Ich wurde als drittes Kind in der Familie von Dietrich und Helene Wall (geborene Toews) im Jahr 1919 am 7. Juni im Dorf Medemtal geboren. Als die Revolution ausbrach, war mein Vater wie alle anderen Sanitäre nach Hause zurückgekehrt und wurde nun als Vorsitzender im Dorf Medemtal gewählt. Sein Vater war Großbauer, wohl der Reichste im Dorf. Er besaß viel Pferde, Kamele, Kühe und Kleinvieh. Wenn die Knaben des Dorfes beim Spiel fragten, wieviel Pferde hat Ohm Wall, war die schlagfertige Antwort: 99 und einen Schimmel. Wie viele es in Wahrheit waren, weiß ich nicht. Auch sie hatten kein Brot, denn alle Bauern waren sich einig, das Getreide zur Aussaat hinzu schütten. Aber täglich kochte meine gute Tante Tine einen großen Kessel Suppe, Inhalt sechs Eimer, für die Armen. Im Laufe des Tages wurde der Kessel geleert.
Das war der Anfang vom Elend, denn bis dahin waren es nur die Armen aus den umliegenden Dörfern gewesen. Jetzt war auch in den Städten kein Brot mehr zu bekommen, und die junge Sowjetregierung wußte sich weiter keinen Rat, als von den Bauern auch das Letzte herauszupressen. Doch die Bauern wussten, wenn wir unseren Samen hergeben, dann haben wir im nächsten Jahr keine Hoffnung auf Ernte. So beschlossen sie, den Samen zu verstecken.

2. Die Kommissare.

Als der Hunger in den Städten überhand jnahm und die junge Sowjetregierung Angst bekam, daß es einen Aufstand geben könnte, schickten sie Kommissare in die Dörfer, um Getreide einzusammeln. Am schlimmsten waren sie in den Mennonitendörfern am Trakt. Die herrlichen Wirtschaften, die Ordnung, welche in den Dörfern herrschte, da mußten die Leute doch leben wie die Maden im Speck. Hier wollten sie nun einmal zeigen, wer sie in Wirklichkeit waren. In das mittlere Wolgagebiet, den Trakt mit eingeschlossen, waren Winow, ein Mann in den dreißiger Jahren und ein junges Studentchen, Kulakow geschickt worden, um Getreide zu organisieren. Mit einem Revolver bewaffnet, mit welchem Winow beständig den Leuten vor der Nase herumfuchtelte, dachten sie den Leuten Angst einzutreiben. Doch die Bauem blicben fest. Sie gaben nichts raus. Winow war ein flammender Kommunist, der in seinem Haß gegen die „Ausbeuter“, wie erdie Mennoniten nannte, keine Grenzen kannte. Er dachte nicht daran, welche Mühe es die Mennoniten gekostet hatte, bis sie zu diesem Wohlstand gekommen waren. Er sah auch jetzt nicht ihren Fleiß und ihre Barmherzigkeit den Hungernden gegenüber. Er sah nur die schönen Wohnungen und ihre Einigkeit, und dieses brachte ihn zur Tollwut. Er sah, daß auch sie kein Brot hatten, aber das rührte ihn nicht. Er wollte um jeden Preis auch das Letzte aus ihnen herausholen, welches ihm nicht gelang. Menschlich mit den Leuten zu reden hatte er, wenn er es überhaupt mal gekonnt, total verlernt. Mit dem Revolver in der Hand drohte er alle zu erschießen, wenn sie nicht mit Getreide herausrücken würden.
Da die Hausuntersuchungen nichts ergaben, nahm er sich die Vorsitzenden vor. Im Dorf Lysanderhöh war Peter Siebert der Vorsitzende. Er war gebürtig aus Ostenfeld. Seine Frau, gewesene Marie Toews, stammte aus Lysanderhöh. Da nun ihre Mutter Witwe und die Brüder eingezogen waren, bat sie, daß die Kinder zu ihr ziehen möchten, um die Wirtschaft zu führen. Peter konnte dieses um so leichter, da sein Bruder Julius, mit welchem sie zusammen die Wirtschaft führten, im Hause blieb. Peter galt als einer der stärksten Männer am Trakt. Er war nicht nur stark, sondern hatte auch einen festen Willen und war stets für Gerechtigkeit. Gewiß empörte ihn die Art und Weise, mit welcher Winow seine Forderungen stellte. Immer wieder hatte er ihm gesagt, daß die Bauern alles abgeliefert hatten, aber Winow gab sich nicht zufrieden. In seiner Wut drohte er alle zu erschießen. Jetzt war Peters Geduld am Ende. Die Zornesader auf der Stirne schwoll an, welches ein bedenkliches Zeichen war. Als er noch krebsrot wurde, dachte Winow: „Jetzt habe ich ihm Angst eingejagt“ und hob drohend den Revolver. Das war aber für Peter zuviel. Mit einem fest entschlossenen Griff packte er Winow am Kragen seiner Lederjacke. Der Mann vergaß, daß er einen Revolver in der Hand hatte. Mit einem Ruck schlüpfte er aus seiner Lederjacke und ehe Peter sich versah stand er schon auf der Straße. Da fiel ihm ein, daß er seine Waffe gebrauchen konnte, und mit starker Stimme rief er von der Straße: „Ja was arestuju!“ („Ich verhafte euch!“) Darauf erhielt Siebert eine Einladung vor das Revolutionskomitee in Selmann. Viele rieten ihm ab zu fahren. Aber furchtlos wie er war, sagte er nur: „Wenn man eingeladenwird, muß man die Einladung annehmen.“ Sein Bruder Julius, der ein sehr sanftmütiger und friedvoller Mensch war, warnte ihn, sich nicht vom Zorn hinreißen zu lassen. Peter versprach alles Beste. Ja, er hatte sogar den festen Vorsatz, sich bis aufs Äußerste zu beherrschen.
So kam er nach Selmann. Man wies ihm ein Kabinett an, wo man bereits auf ihn warte, wie man ihm anzuverstehen gab. Als Peter die Tür öffnete, umfaßte er mit einem Blick seine Lage. Mitten im Zimmer stand ein Tisch, hinter welchem der Vorsitzende des Revolutionskomitees saß. An jedem Ende des Tisches saß ein Kräftiger Bulle mit einem guten Schlaginstrument. Vor dem Tisch stand – ein Stuhl. ,,Bitte setzen Sie sich!“ lud man ihn freundlich ein. Ruhig trat Peter auf seinen Stuhl zu, packte ihn mit beiden Händen, so daß er in den Fugen krachte und fixierte sein Gegenüber einen nach dem andern. Der Vorsitzende hatte es auf einmal sehr eilig, das Zimmer zu verlassen, ebenso beeilten sich seine Helfershelfer. Peter, allein im Zimmer geblieben, sagte zu sich: „Anscheinend ist die Besprechung zu Ende.“ Ruhig wie er das Zimmer betreten hatte, verließ er es wieder. Von niemandem aufgehalten fuhr er nach Hause. Aber die Kommissarenplage war hiermit nicht beseitigt. Auch war diese nicht die einzige Sorge.
Das Frühjahr stand vor der Tür, das Land musste bearbeitet werden, aber fremde Arbeitskräfte durften nicht angenommen werden, obzwar es Hunderte gab, die nur für die Kost gerne gearbeitet hätten. Es durfte nicht sein. So versammelten sich die Männer wieder einmal in Lysanderhöh, um ihre Lage zu überdenken. Zufällig fuhr Cornelius Wiens aus Ostenfeld vorbei. Als er sah, daß da eine Versammlung war, lenkte er das Pferd auf den Hof und betrat das Zimmer. Kaum hatte er Platz genommen, als zwei Tschekisten eintraten und nach Kondrat Kondratjewitsch Wiens fragten, ob er nicht anwesend sei, denn für ihn sei ein Haftbefehl vorhanden. Der Vorsitzende, Peter Siebert, überblickte die Anwesenden. „Nein, ich kann ihn nicht sehen“ (er hieß Corne Korneliusowitsch); auch die anderen schüttelten die Köpfe zum Zeichen, daß sie ihn nicht sahen. Die Tschekisten mußten unverrichteter Sache wieder abfahren. Nach ihnen verließ auch C. Wiens das Haus. Nun wußte er, daß er gesucht wurde, und konnte rechtzeitig fliehen.
Doch nicht nur am Trakt herrschten die Kommissare, auch in den umliegenden Dörfern war es furchtbar, wie die sogenannten Kommunisten mit den Menschen verfuhren. Da brach der Bürgerkrieg aus. Die Bauer scharrten sich zusammen. Vor allem wollten sie die Kommissare aus der Welt schaffen. Der Aufstand begann in den nichtmennonitischen Dörfern. Sie kamen über Fresenheim und zogen durch alle Dörfer, auch durch den Trakt. Die Menschenmassen nahmen in jedem Dorf zu. So kamen sie in das letzte Dorf Medemtal. Hier machten sie halt.
Noch in der Nacht erhielt Dietrich Wall (mein Vater), welcher in Medemtal Vorsitzender war. die Nachricht. daß die Weißen, wie man sie zum Unterschied von den Roten nannte, im Anmarsch seien.
Noch vor Tagesanbruch erhob sich Dietrich leise und kleidete sich an. ,,Wo willst du hin?“ fragte ihn seine Frau Helene. Ich muß schnell zu Sinners eilen, denn die Weißen rücken heran, und du weißt, daß Manuel und Jakob erst vor einigen Tagen von den Roten weggelaufen sind; es könnte leicht ein Mißverständnis entstehen und die beiden könnten in falschen Verdacht kommen. (Dieses hat Johannes Sinner, ein Bruder der oben Erwähnten, nach 50 Jahren mir selbst erzählt.) Dietrich ging, um sie zu warnen, nicht längs der Straße, um keinen Verdacht zu erregen, sondern hinter dem Dorf, damit ihn niemand sehen konnte. (Sinner sagte: „Dein Vater hat jenesmal meinen Brüdern das Leben gerettet!“)
Gegen Mittag kamen die Weißen auf dem Grundstück des Großbauern Gerhard Wall, Vater von Dietrich Wall, an. Es war eine unabsehbare Menschenmenge. Sie tobten und brüllten, und aus dem Chaos von Stimmen konnte man nur immer den Ruf hören: ,,Tod den Kommissaren!“ Beinahe schien es unmöglich, die aufgebrachte Menschenmenge zu beruhigen. Endlich trat Stille ein.
Irgendjemand aus der Menge trat hervor und rief mit lauter Stimme: „Die Kommissare müssen sterben!“ „Sie müssen sterben!“ brüllten alle wie aus einer Kehle. Dietrich Wall trat vor: ,,Brüder“, sagte er mit fester Stimme, „wir dürfen kein Blut vergießen. Denkt daran wie es in den Geboten steht: Du sollst nicht töten! Aber wir wollen sie festnehmen und gefangen halten, bis wieder Ruhe im Land ist.“
Jemand wußte, daß sich die Kommissare in dem Kanal, welcher die Grenze zwischen dem Land der Mennoniten und dem der Kolonier bildete, versteckt hielten. Aber wie ihnen beikommen? Alle hatten Angst. Sie waren stark bewaffnet. Lange beriet man hin und her. Niemand wollte sich den Kugeln der Kommissare aussetzen. Endlich sagte Dietrich Wall: „Wenn ihr mir versprecht, daß wir sie festnehmen und einsetzen werden, bis wieder Ruhe im Land ist, dann bin ich bereit, sie zu holen.“
Einmütig wurde beschlossen, sie nur festzunehmen. So ritt Dietrich zum Kanal. Er brauchte nicht lange suchen. Sie machten nicht einmal einen Versuch, auf ihn zu schießen. Dietrich forderte sie auf, mit ihm zu kommen. Ohne Widerrede folgten sie ihm. Die Kommissare waren es wohl schon müde, sich zu verstecken. Die Nacht war kalt, und zu essen hatten sie auch nichts.
Als Wall mit den Kommissaren ankam, hatte sich das Blättchen gedreht. Wieder brach der kaum bekämpfte Haß gegen die Blutsauger, wie man sie nannte, aus. Fest entschlossen sie dem Zorn des Volkes nicht preiszugeben, führte Wall die Gefangenen in sein kleines Wohnhaus. Aber die Menschen drangen nach; sie vergaßen, daß sie Menschen waren. Wie Bluthunde stürzten sie sich immer wieder auf die Gefangenen. Dietrich Wall war ein sehr starker Mann. Mit aller Wucht warf er sich den Eindringenden entgegen, aber es half.nichts. Die Übermacht war stärker. Sie drängten immer mehr ins Zimmer. Noch deckte er mit seinem Körper die Kommissare, aber wie lange würde er standhalten?
Da schrie einer aus der Menge: „Wenn du sie nicht freigibst, bist du ein Verräter!“ Wall taumelte zurück, man hatte ihn einen Verräter genannt. Wie treu hatte er bisher ihre Sache vertreten, nun schalt man ihn einen Verräter. (Oft, wenn wir abends mit Mama uns an das Furchtbare erinnerten, fragte ich: „Wo waren denn die anderen Mennoniten, warum ließen sie denn Papa allein?“ Dann sagte Mama: „Kind, du kannst es dir nicht vorstellen, wie schrecklich es war, die wütende Menschenmenge und Papa allein!“) Ja, wo waren die anderen Mennoniten? Hatten sie selbst Angst bekommen?
Der Gefangene Winow saß dem Anschein nach ruhig und spielte mit seinem Revolverkettchen, welches mit Draht durchflochten war. Wütend stürzte sich Abram Wall auf ihn zu, entriss ihm das Kettchen und haute ihm über den Kopf, daß die Haut platzte (er hatte eine Glatze). Fest schaute Winow ihn an und fragte: „Warum schlägst du mich?“
Noch einmal versuchte Dietrich die Menschen zu überreden keinen Mord zu begehen, aber es war umsonst. Sie wurden zum Tode durch Erschießen verurteilt. Der letzte Wunsch sei euch gewährt.“
„Meine letzte Bitte ist, daß Dmitri Jegorowitsch Wall uns auf dem letzten Weg begleiten möchte.“ Sofort stand Wall auf und stellte sich neben ihn. Winow faßte seinen rechten Arm, Kulakow nahm seinen anderen Arm. Er weinte wie ein Kind:
„Dmitri Jegorowitsch“, schluchzte er, ,,Rettet unser Leben, ich hab eine gläubige Mutter.“ Winow sagte nur: „Die Roten werden siegen, wir werden es dir danken!“
Wall antwortete nur: „Ich habe alles versucht, ich bin machtlos.“
„Dann laßt uns gehen!“ und ruhig erhobenen Hauptes ging Winow in den Tod. Wenn er auch viel Jammer verursacht hatte, so war er doch kein Feigling.
Nach der Hinrichtung kehrte Dietrich in sein Heim zurück. Er setzte sich an den Tisch, legte die Hände vors Gesicht und weinte wie ein Kind. Helene legte zärtlich den Arm urn seine Schulter: ,,War es so schlimm?“ fragte sie.
Dietrich stöhnte auf: „Ach, hätte ich an ihrer Stelle sterben können; ich war bereit, und sie nicht.“
Das war das Ende der Kommissare. 

3. Die Verhaftung. 

Drei Wochen waren seit diesem traurigen Ereignis vergangen. Seit diesem Tage sah man auf Dietrichs Gesicht nie wieder ein Lächeln. Ernst verrichtete er seine Arbeit zu Hause und als Vorsitzender. Die Dorfbewohner kamen nach wie vor zu ihm, um sich Rat zu holen.
Es war Mitte April. Helene sagte beim Mittagessen: „Ich habe schon 15 Eier gesammelt, ich könnte heute schon eine Glucke setzen, was meinst du?“
„Ach,“ sagte Dietrich, es ist noch so früh im Jahr, wollen lieber die Eier essen, ich habe Verlangen danach.“ Dann ging er wieder zur Arbeit.
Helene schaute ihm lange nach. Was war es nur, daß sie diese heimliche Unruhe nicht loswerden konnte. War es wieder der schreckliche Traum, der sie fast beständig verfolgte?
Sinnend stand sie am Fenster. Ja, vor einer Woche war es gewesen. Sie hatte starke Grippe und lag im Bett. Da war die liebe Mutter auf einen Tage zur Pflege gekommen. Mutters Bett stand ihrem gegenüber. Als sie eines Morgens erwachte, sagte die wie zu sich selbst: „Welch ein Traum!“
„Ja,“ sagte die Mutter, „welch ein Traum!“
„Was hat Ihnen denn geträumt?“ wollte Helene wissen.
Die Mutter richtete sich auf: „Kind, mir träumte ich sah drei Särge, zwei große und einen kleinen“. „Sonderbar“, sagte Helene, „ich sah drei Leichen, zwei große und eine kleine.“ „Kind, dieser Traum hat eine Bedeutung,“ sagte die Mutter.
Wie lange war das schon her, und immer wieder mußte sie an diesen Traum denken. Ach, sie strich sich mit der Hand über die Augen; nur nicht immer etwas Trauriges denken. Es ist so alles schon traurig genug. Dietrich kann den Tod der Kommissare nicht überwinden und hat doch keine Schuld, da will ich ihm wenigsten ein frohes Gesicht machen, wenn er kommt.
Sie wandte sich um und wollte in die Küche gehen, als sie mehrere Tschekisten dicht an ihrem Häuschen vorbei reiten sah. Schnell eilte sie wieder ans Fenster. Seitdem der Bürgerkrieg blutig unterdrückt worden war, streiften diese unheimlichen Reiter häufig durch die Gegend.
O Schreck! Sie bogen in das Tor ein. Angsterfüllt eilte sie an die Tür. Eben sah sie Dietrich aus der Stalltür treten. Die Tschekisten sprangen von den Pferden und packten ihn. Helene sah, wie er beruhigend die Hand hob. Hatte er sie gesehen, wollte er sie beruhigen?
Sie eilte zurück ins Zimmer. Was tun? Die Eier hatte sie gekocht. Da fiel ihr Winows Revolverkettchen ein, welches zurückgeblieben war. Schnell versteckte sie es in ihrem Busen. Dann erinnerte sie sich, dass erzählt wurde, dass die Roten auch die Frauen untersuchten. So lief sie mit dem Kettchen bald hier bald dorthin und immer dachte sie, nein, hier finden sie es. Da fiel ihr Blick auf die Kinder, die von ihrer Angst keine Ahnung hatten. Sie machte die Bettchen auf, brachte die Kinder zur Ruhe, betete mit ihnen und befahl ihnen zu schlafen. Dann nahm sie das Kettchen und schob es zwischen Bezug und Decke. „O Herr,“ flehte sie, „halte du deine Hände über die Kinder, damit sie es nicht finden!“
Jetzt erinnerte sie sich, daß sie das goldene Uhrchen, ein Geschenk ihres Mannes, welches sie zum Eier kochen umgehängt, noch nicht weggelegt hatte. Einen Augenblick dachte sie nach, dann sagte sie: „Alles können sie haben, wenn nur Dietrich und die Kinder mir . bleiben.“
Es war schon ganz dunkel, da hörte sie Schritte. In Begleitung zweier Tschekisten betrat Dietrich sein kleines, gemütliches Heim. Ob es das letzte Mal war? Helene hatte den Tisch schon gedeckt und bat ihn zu essen. Aber er wies auf seine Begleiter und sagte: „Gib ihnen mein Abendbrot, ich habe keinen Hunger.“ Mit wahrem Heißhunger fielen die beiden darüber her und machten reinen Tisch. Dann ging es an die Haussuchung. Alles durchwühlten sie. Jedes Kästchen wurde durchsucht, Wertsachen wie goldene Ringe oder Ketten wurden eingesteckt, jedoch die kleine goldene Uhr auf der Kommode. bemerkten sie nicht. „So, nun bleiben noch die Bettchen der Kinder“, sagte der Suchende.
Da stand Helene mit aufgehobenen Händen vor dem Bettchen. Flehend rief sie: „O bitte, laßt die Kinder schlafen, sie waren schon so müde!“
„Laß gut sein“, sagte der Befehlshabende, „hast du nirgends was gefunden, wird auch bei den Kindern nichts sein!“
So gingen sie ab. Dietrich nahmen sie wieder mit. Helene stand betend vor ihrem Häuschen. „O, du Allmächtiger, du allein kannst ihn mir erhalten, Vater im Himmel. Ich kann ohne ihn nicht leben; o erhöre doch mein schwaches Beten!“ So flehte sie ohne Unterlaß.
Wie lange sie gestanden, sie wußte es selbst nicht. Endlich öffnete sich drüben im Elternhaus die Tür. Heraus trat zuerst der Schwiegervater, geführt von zwei Tschekisten, dann folgten die anderen. Dietrich war mit dem Kommandeur noch im Haus zurückgeblieben. Als die älteste Tochter Tine sah, daß man den Vater mitnehmen wollte, trat sie energisch hinzu und zog ihn vom Wagen herunter, doch ehe sie sich setzen konnte, trat Dietrich, der inzwischen aus dem Haus getreten war, hinzu und sagte bestimmt: „Dies ist mein Platz!“
Einige Tschekisten setzten sich zu ihm auf den Wagen, die anderen bestiegen ihre Pferde, und so fuhren sie ab.

4. Das Tribunal.

Wochen waren vergangen. Von den Männer, welche die Tschekisten mitgenommen hatten, war nichts zu hören. Irgend jemand wußte, daß sie in Selmann seien, aber dieses waren vielleicht nur Mutmaßungen. Außer Dietrich waren noch mehrere verhaftet worden. Eines Tages kam die Nachricht, daß die Gefangenen alle nach Köppental gebracht worden seien. Die Geschwister Epp hatten ein großes Haus; es war außen weiß angestrichen. Dieses beschlagnahmte das Kriegstribunal. Hier wurden die Gefangenen untergebracht.
Kaum hatten sie in Medemtal die Nachricht erhalten, als Gerhard Wall sogleich einspannte und mit Frau und Schwiegertochter nach Köppental fuhr. Seine Tochter Anna, Frau Peter Isaak, wohnte in Orloff. So fuhren sie an und sagten, daß Dietrich im weißen Haus festgehalten sei. Ihr Mann war auf dem Feld. Sie hinterließ dem Dienstmädchen, was sie dem Bauer ausrichten sollte, und fuhr mit.
Am ersten Tag war es unmöglich, Dietrich zu sprechen. So gingen sie zu Bekannten, wo sie sich zeitweilig aufhalten konnten.
Als sie am Morgen kamen und ein Gesuch abgaben, um Dietrich zu sprechen, kamen zu ihrer Überraschung zwei Männer heraus. Wie groß war ihr Erschrecken, als auch Annas Mann, Peter Isaak da war. „Was machst du denn hier?“ fragte seine Frau verwundert. „Ja, ich ruhe mich ein bißchen aus,“ war die trockene Antwort. Das Zusammensein dauerte nur kurze Zeit, dann wurden die Gefangenen wieder abgeführt.
In dem weißen Haus saßen wohl mehr als 100 Mann. Die Verhöre dauerten eine Woche. Die Frauen umschlichen den Garten und das weiße Haus; ach, sie wollten so gerne wenigsten ein Lebenszeichen von den Ihren erhalten. Unter den Tschekisten war ein junger Russe, welcher für Dietrich ein besonderes Interesse hatte. Immer, wenn er Wache hatte, winkte er ihm mit den Augen, der dann hinausging und sich mit Helene am Ende des Gartens treffen konnte. Während dieser Zeit hielt er den kleinen Gerhard und stand Wache, damit niemand sie bemerken konnte. Dietrich wurde immer ernster. Einmal fragte Helene: „Quälen sie euch sehr beim Verhör?“
„Nein“ das nicht, aber ich hätte nie gedacht, daß es unter den Mennoniten Menschen gibt welche, was sie selbst getan haben, anderen in die Schuhe schieben. Helene brauste auf: „Wer kann dir etwas Falsches zumuten oder falsche Aussage machen?“ Sanft nahm er ihre Hände in die seinen: ,,Helene, wenn ich einmal tot bin, dann soll kein Haß euer Leben verbittern; niemals werde ich einen Namen nennen. Mit meinem Tod soll alles aus sein.“
„Sprich doch nicht immer von deinem Tod,“ schluchzte Helene; „ich will niemand hassen, wenn du nur frei kommst.“
Da ein Pfiff, das war das verabredete Zeichen; sie mußten sich trennen. In einiger Entfernung stand der Tschekist. Er reichte den Kleinen über den Zaun und verschwand. Weinend drückte Helene den Kleinen an sich: „O, mein Liebling, was werden sie nur mit unserem Papa machen?“ flüsterte sie.
Langsam entfernte sie sich: Das Kind war auf dem Arm eingeschlafen. Sie ging in ihre Notwohnung, wosie mit den Schwiegereltern und der Schwägerin das Ende abwarten wollte. Anna kam ihr schon entgegen. Sie nahm Gerhardchen und sagte:
„Wir legen ihn hin und gehen fort; ich kann einfach nicht mehr sitzen und warten.“
“Wohin?“ fragte Helene. „Einerlei, wohin, ich halte es einfach nicht mehr aus, still sitzen und nichts machen.“ Als das Kind fest eingeschlafen war, gingen sie in Richtung Heimat zum Dorf hinaus. Die Angst vor dem Schrecklichen, das in der Luft lag, schnürte beiden die Kehle zu. Immer weiter gingen sie, dann blieb Helene stehen: „Wir müssen zurück, Gerhardchen könnte aufwachen und weinen“. So drehten sie um.
Ihr Weg führte durch eine kleine Schlucht, wo ein einziges verstümmeltes Bäumchen stand. An diesem Bäumchen fuhren wir immer vorbei, wenn wir später an Papas Grab fuhren. Die Frauen waren kaum am Bäumchen vorbei, als ihnen drei Männer begegneten. Zwei Tschekisten führten einen Mann. Er war barhäuptig. Kaum merklich neigte er den Kopf. Die Lippen formten ein „Wiedersehen“, doch der Mund blieb stumm. Nicht weit waren sie gekommen, als sie einen doppelten Schuss hörten. Grausiges Entsetzen packte sie. Wie von Furien getrieben rannten sie ins Dorf. Sie schrieen es nicht, nein, sie flüsterten es: „Franz Epp ist nicht mehr, sie haben ihn erschossen!“ Dieser Franz Epp, der so viel für den Aufbau der Mennonitendörfer getan hatte. Vom Holzpflug war man durch seine Hilfe zum eisernen Pflug übergegangen, eine Sämaschine hatte er konstruiert und hergestellt, und nicht nur die Mennoniten, sondern auch die umliegenden nicht mennonitischen Dörfer nutzten seine Maschinen. Und nun hatte man ihn erschossen, wofür? Was hatte er denn verbrochen? Die Fragen schwebten in der Luft, aber niemand konnte sie beantworten.
So kamen sie zu Hause an. Sie fielen dem Vater, der ihnen entgegen trat, in die Arme. Beschwichtigend streichelte er sie beide. „Kommt rein und beruhigt euch; was ist denn so Schreckliches geschehen?“ fragte er. „Papa“, schrie Anna auf, ,,beruhigen sollen wir uns? Weißt du, daß sie soeben Onkel Franz Epp erschossen haben?“ Der Vater sackte auf einem Stuhl zusammen. Dann erhob er sich.
„Es wird noch schlimmer kommen; wir müssen auf alles gefaßt sein“ sagte er. Ja, es kam noch schlimmer. Am Nachmittag desselben Tages wurden alle, die im weißen Haus saßen, mit Spaten bewaffnet, in Reihen aufgestellt und in Richtung des Friedhofs zum Dorf hinausgetrieben. Was bedeutete das? Es waren Pferdediebe festgenommen worden, und jemand wußte, daß sie erschossen werden sollten.
Wie eine Gewitterwolke lag es in der Luft. Eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich aller. Man fürchtete sich, miteinander zu reden. Niemand wagte es auszusprechen, und doch ahnten alle Furchtbares.
Es gibt ein Lied, welches nicht für die Betroffenen gedichtet war, doch zutraf:
… eigene Grab/
und schafften wie nie mehr im Leben.
Dann standen wir ruhig am Grabesrand:
Schießt sicher, wir werden nicht beben!

Als die Gefangenen in ihr Gefängnis zurückgeführt wurden, hatte sich das ganze Dorf, auch alle, die zugereist waren, um das weiße Haus versammelt. Kaum daß die Tschekisten einen Durchgang für die Gefangenen schaffen konnten. 
Da zwängte sich durch des Menschenknäuel eine Frau. Sie eilte auf ihren Mann zu und schlang stürmisch die Arme um seinen Hals. Was vorher niemand auszusprechen gewagt hatte, sie rief es, indem sie sich an ihn schmiegte:
„Ist es wahr, daß ihr heute euer eigenes Grab gegraben habt?“ Selbst die Tschekisten wagten nicht, sie fortzutreiben. Auch sie waren erschüttert.
Sanft löste Dietrich ihre Hände von seinem Hals: „Helene,“ sagte er mit ernster Stimme, ,,warum sollte ich mich grämen, hab ich doch Christus noch. Wer will mir Ihn nehmen? Wer will mir den Himmel rauben, den mir schon Gottes Sohn beigesetzt im Glauben? Für dieses Leben sind wir geschieden. Erziehe die Kinder in der Furcht Gottes; dies ist mein Vermächtnis für dich!“
Helene wollte ihn wieder umarmen, aber sanft und bestimmt schob er sie von sich und ging erhobenen Hauptes ins Haus. In der Tür drehte er sich noch einmal um: „Helene, die Kinder, denk an die Kinder!“ Das waren seine letzten Worte.
Am nächsten Tag war der 19. Mai 1921 Schon in aller Frühe umlagerte das Volk das weiße Haus. Es blieb alles still. Da um 1 Uhr mußten sich alle Gefangenen in Reih und Glied auf dem großen Hof aufstellen. Der Chef des Kriegstribunals hatte am Morgen aus Moskau ein Telegramm erhalten, welches er ungeöffnet in die Tasche gesteckt hatte. Nun, als alle Gefangenen vor ihm standen, begann er mit lauter Stimme das Urteil für die Verhafteten vorzulesen:
„23 Mann wurden zum Tode durch Erschießen verurteilt, unter ihnen waren neun Mennoniten. Aus Köppental: Franz Thießen, ein junger unverheirateter Lehrer, Cornelius Isaak, Neumann, und Franz Epp, welcher am Tag zuvor erschossen war. Aus Orloff Peter Isaak; aus Medemtal: Dietrich Wall, Peter Quiring, Peter Reimer und Abraham Wall, die anderen waren Nichtmennoniten. Dann war auch noch ein russischer Pope mit ihnen verurteilt. Schon während des Verhörs war er ein treuer Hirte. Jedesmal wenn jemand zum Verhör gerufen wurde, mahnte er sie, nicht den Mut zu verlieren und im Glauben fest zu bleiben.
Nach Verlesung des Urteils wurden alle Arrestanten ins Haus zurückgetrieben. Wie zum Hohn wollte man sie vor dem Tod noch einmal satt füttern, da man sie vorher mit Hunger gequält hatte. Man brachte ihnen eine große Schüssel mit Kartoffeln und Nudeln, welche gut mit Schinkenfleisch geschmälzt waren. Aber so wie man die Schüssel hereingebracht hatte, so trug man sie auch wieder hinaus. Niemand rührte das Essen an. Die anderen, welche nicht zum Tode verurteilt waren, wurden verbannt; nur einer schlief ruhig und fest, als hoffte er in der Ewigkeit zu erwachen. Wir erquickten uns alle an seinem Schlaf.
Um 2 Uhr gab es Appelle: Alle antreten. Die Verurteilten wurden je zu drei aufgestellt, die anderen wurden vorläufig entlassen. Die Frauen wurden jetzt in das leer gewordene Haus getrieben. Die Läden wurden, außer einem halben, rundum geschlossen, die Tür von außen verriegelt. Unter den Frauen war Marie Epp, die Schwester von Franz Epp. Sie rief: „Alle auf die Knie!“ Willig folgten alle, außer Helene. Wild ging ihr Blick durchs Zimmer, da erblickte sie das halbe Fenster, an welchem der Laden nicht geschlossen war. Mit einem Satz hatte sie es erreicht. Sie gebrauchte Füße und Hände, um ins Freie zu gelangen.
Gerade sah sie die letzten Männer um die Ecke biegen. Bei diesen war ihr Dietrich. Alles andere vergessend stürmte sie ihm nach. Sie kam nicht weit. Männer traten ihr entgegen. Sie wollten sie aufhalten, aber Helene kämpfte wie eine Wahnsinnige: „Laßt mich los; wenn sie Dietrich erschießen, dann können sie auch mich erschießen!“ schrie sie. Aber mit festem Griff hielten die Männer sie fest. Da brach sie zusammen. So trugen die Männer sie zurück. Von Tschekisten bewacht, marschierten die Verurteilten ihrem Grabe zu. Da stimmte Franz Thießen mit heller Stimme an: „Näher mein Gott zu Dir, näher zu Dir!“ Die anderen fielen ein; so sangen sie sich selbst ihr Totenlied. Als sie sich dem Grab näherten, trat der russische Pope vor und segnete sie zur letzten Ruhe ein. Wie ging es den Frauen? Als die ersten Salven krachten, verfiel Anna in einen Weinkrampf und der Vater, Gerhard Wall, hatte große Mühe, sie zu beruhigen. Immer wieder hörte man das Schießen, und die Aufregung bei den Zurückbleibenden wuchs. Endlich trat Stille ein. Jemand sagte: „Es ist überstanden!
Die Roten hatten einige Mennoniten mitgenommen, welche die Leichen ins Grab werfen mußten. Die Tschekisten staunten, mit welcher Ruhe die Verurteilten dem Tod entgegen gingen. So etwas hatten sie noch nicht erlebt; wie viele sie auch schon erschossen hatten, immer war es mit lautem Geschrei, manchmal bis zum Wahnsinn der Opfer gekommen.
Als die Hinrichtung beendet war, kehrten alle ins Dorf zurück. Da fiel dem Kommandeur des Tribunals ein, daß man ihm am Morgen ein Telegramm überreicht hatte. Schnell zog er es aus der Tasche und las es. Er ‚traute seinen Augen nicht: „Alle begnadigt, Lenin.“ Alle begnadigt, wie konnte das nur möglich sein? In seiner Angst, welche ihn jetzt überfiel, ließ er anspannen und jagte davon. Später erzählte man, daß er wahnsinnig geworden sei.
Die Männer, welche die Toten ins Grab werfen mußten, kehrten zurück. Wilhelm Bartsch, Helenes gewesener Spielkamerad, hatte Dietrichs Mütze aufgehoben. Nun reichte er sie seiner Frau mit den Worten: „Gib Helene Dietrichs letztes Andenken!“ Aufgeregt wie sie war, ergriff sie die Mütze und schleuderte sie Helene vor die Füße, mit dem Ruf: „Da hast du Dietrichs letztes Andenken!“
Das war zu viel; mit einem markdurchdringenden Schrei fuhr Helene hoch. Entsetzt eilte der Schwiegervater auf sie zu: „Helene, liebes Kind!“ Er fand keine Worte. Ach, sein Schmerz um seinen Erstgeborenen war ja so unerträglich groß, und nun mußte er auch noch Tochter und Schwiegertochter trösten.
Kurz entschlossen stand er auf. Wir müssen nach Hause.“ Mit diesen Worten eilte er hinaus, um die Pferde einzuspannen. Dann kam er zurück, trat auf Helene zu und sagte mit sanfter Stimme: „Helene, Dietrich hat dir sein Vermächtnis hinterlassen, eure Kinder. Sie warten zu Hause auf dich.“
„Meine Kinder warten?“
Helene starrte vor sich hin. Dann erhob sie sich: „Ich will zu meinen Kindern!“ Auch Anna folgte, auf den Arm ihrer Mutter gestützt. So bestiegen sie den Wagen, und in gestrecktem Galopp ging es der Heimat zu. In Lysanderhöh bei Helenes Mutter waren sie angefahren. Die traurige Nachricht war schon zu ihnen gelangt. Die Mutter trat an den Wagen. „Helene, mein liebes Kind!“ Mehr konnte sie nicht sagen. „Mutter, mein Dietrich ist nicht mehr, und ich habe ihn so unsäglich geliebt.“ Der Schwiegervater befürchtete wieder einen Schmerzausbruch; schnell nickte er Helenes Mutter zu und fuhr ab. In Orloff stieg Anna vom Wagen. Nur das Dienstmädchen erwartete sie. Weiter ging die Fahrt. Zu Hause hatten sich Dietrichs Geschwister alle auf dem Hof versammelt, auch seine Kinder standen da. Langsam stieg Helene vom Wagen. Sie faßte ihre Kinder an der Hand und führte sie ins Haus.
„Mama, ist es wahr, kommt Papa nie wieder?“ Mit zitternder Stimme fragte es Dieter, der Älteste.
„Nein, nie wieder!“ wiederholte die Mutter.
Es klopfte. Lenchen, Dietrichs jüngste Schwester, trat ein.
„Helene, die Eltern rufen, komm Abendbrot essen.“
„Bitte, nimm die Kinder und versorge sie; ich möchte allein sein.“
Lenchen entfernte sich mit den Kindern. Da sank Helene auf ihre Knie, sie rang mit Gott. In ihrem großen Schmerz klammerte sie sich an ihren Schöpfer und flehte, daß Er Sein Geschöpf nicht verlassen möchte. Wie lange sie auf den Knien gelegen hatte, wußte sie nicht. Da hörte sie Schritte und erhob sich. Es waren die Schwiegereltern, welche kamen, um sie abzuholen. Willig folgte sie.
Nach einigen Tagen kam eine Kommission und konfiszierte alle Sachen. Die besten Sachen hatten die Geschwister vorher versteckt. Alles wurde weggefahren, das gemütliche Häuschen blieb verödet stehen; nur ein Kinderbettchen hatte man ihr gelassen.
Vierzehn Tage waren nach der Hinrichtung vergangen. Da kam ein Eilbote aus Lysanderhöh und bat Helene, an das Krankenbett der Mutter zu kommen; sie sei ernstlich erkrankt und verlange nach ihr. Helene nahm den kleinen Gerhard und fuhr zur Mutter. Mit tief eingefallenen Augen lag sie fiebernd im Bett. Fast flehend flüsterte sie: „Ach Helene, wenn ich doch mit dem Trost sterben könnte, daß du dein Schicksal tragen kannst.
„Ja, Mutter, ich kann!“ Sie nahm die Gitarre und sang mit ihrer klangvollen Stimme ein Trostlied nach dem andern. Mit einem glücklichen Lächeln schlief die Mutter ein. Nun folgte eine schwere Woche. Alle sahen, daß es dem Ende zuging. Die beiden jüngsten Söhne waren nicht zu Hause. Telegrafisch wurden sie an das Sterbebett gerufen. Artur traf die geliebte Mutter noch im klaren Zustand an, Albert nicht mehr. Der Schmerz aller Kinder war unbeschreiblich, war doch die Mutter die Seele ihrer großen Familie gewesen. Am Sonntag kam das Ende. Sie schlief ruhig und im Hause war alles still, nur um die Mutter nicht zu stören.
Helene hatte den Kleinen zum Mittagsschlafhingelegt. Da kam ihre Schwägerin Marie vorbeigefahren. Helen trat an den Wagen. Die erste Frage war nach dem Befinden der Mutter; dann fragte sie: „Was macht der Kleine?“
„Er schläft,“ war die Antwort.
“Dann bring ihn bitte heraus, ich möchte ihn sehen,“ bat Marie.
“Ach nein, ich kann ihn nicht aufnehmen, dann wird er weinen und Mutter darf nicht gestört werden,“ wehrte Helene ab.
Doch die Schwägerin ließ mit – Bitten nicht nach, so holte sie ihn. Der Kleine, welcher immer – sehr gern zur Tante ging, wollte diesmal von ihr nichts wissen.
Weinend drückte er das Köpfchen an die Schulter der Mutter, so daß auch Marie schließlich von ihm abstand und sie weiter fuhren.
Helene trat ins Haus; da kam ihr schon Schwester Marie entgegen: „Komm, Mutter ist aufgewacht, sie ruft dich”
Als sie an Mutters Bett trat, ging ein Leuchten über ihr Gesicht: „Helene“ flüsterte sie kaum hörbar”.
„Ja, Mutter, es ist alles gut!“ sagte Helene mit fester Stimme.
„Gott sei Dank!“ flüsterte die Sterbende.
Der Kleine war jedoch so unruhig, daß Helene mit ihm das Zimmer verlassen mußte. Eben wollte sie mit ihm in den Garten gehen, als ihre Cousine ihr entgegen trat, ihn nahm und zu ihr sagte: „Geh nur zur Mutter, ich werde ihn halten.“ So verließ sie das Haus. Als Helene das Zimmer betrat, lag die Mutter in den letzten Zügen. Schweigend umstanden die Kinder ihr Bett. Noch einmal hob sich mühsam die Brust, dann ein leises Röcheln und die Seele war heimgekehrt. In namenlosem Schmerz trat Helene ins andere Zimmer. Sie presste die gefalteten Hände an Herz.
„Mutter, liebe Mutter, auch du hast mich verlassen, nun bin ich ganz allein,“ stöhnte sie. Da hörte sie den Kleinen im Garten weinen. Schnell ging sie, um ihn zu holen. Verlangend streckte er ihr die Ārmchen entgegen. Tine, die Cousine, sagte: „Er hat hohes Fieber. Vielleicht muß man den Arzt rufen.“ 
Aber im Hause waren alle mit anderen Dingen beschäftigt. Soviel mußte angeordnet werden; da war keine Zeit, an den Kleinen zu denken. Leise singend trug Helene ihn im Garten herum. Dann kam die jüngste Schwester Kätchen. „Komm, Helene, alle wollen sich schon zur Ruhe begeben, ich habe für dich und den Kleinen eine Liege bereitet.“ Schweigend folgte sie. Aber an Schlafen war nicht zu denken. Gerhardchen warf sich hin und her und stöhnte so kläglich, daß es der Mutter angst und bange wurde. Zuerst wollte sie Schwester Marie wecken, aber da fiel ihr ein, daß Marie leicht im Schlaf reden konnte, so ging sie zu Bruder Dietrichs Frau, Klärchen. Diese war gleich bereit, ihr beizustehen. Sie machte Kompressen und wollte ihn herumtragen, aber er wollte nur zu seiner Mama. Zärtlich hob er das Händchen, als wollte er sie noch einmal streicheln, doch entkräftet sank es herunter. Noch ein schwacher Seufzer und Helene hielt ihr totes Kind im Arm. Entgeistert starrte sie auf Klärchen: „Tot, auch er ist tot!“ stöhnte sie.
Nach drei Tagen war die Beerdigung. Der Traum von den drei Leichen war in Erfüllung gegangen. Aber es war nur ein Sarg, denn Dietrich hatte keinen Sarg bekommen, und Gerhardchen lag bei Großmama im Arm. Am Abend fuhr Helene mit den Kindern und den Schwiegereltern zurück nach Medemtal. 
Jetzt fing der graue Alltag an. Helene hatte große Angst um Dietrichs Seelenheil. „Ach, wenn ich doch Gewißheit hätte, daß er selig heimgegangen ist,“ seufzte sie oft. Eines Nachts träumte ihr, sie sei auf einem hohen Berg und ging suchend umher. Auf einmal stand er vor ihr. „Dietrich,“rief sie, “ich habe solche Angst um dich , bist du selig geworden?”
„Helene,“ sagte er: ,,das Blut unseres Heilandes Jesu Christi macht uns rein von allen Sünden, glaubst du das?“ Ein strahlendes “Ja!“ war die Antwort. Dann verschwand er. Helene sank auf die Knie und dankte Gott für diesen Traum.
Eines Tages kam die Schwiegermutter und bot ihr einen Tausch an. Sie sagte: „Man hat dir alles genommen, aber du und die Kinder müßt leben und ohne Vieh kommst du nicht durch. Wir werden dir ein Pferd, ein Kamel, eine Kuh und ein Schaf geben, dafür gibst du uns Dietrichs sämtliche Kleider. Wir brauchen sie für unsere Jungen.“ „Mama, und was bleibt für meinen Jungen? Dietrichs Kleider soll ich alle hergeben? O nein, das kann ich nicht!“
„Helene, du brauchst Vieh und wir die Kleider. So helfen wir uns gegenseitig aus.“ Ja, das stimmte, sie brauchte Vieh.
Wovon sollte sie sonst mit den Kindern leben?
„Es ist gut, nehmt die Sachen!“ willigte sie ein.

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