Besuch der Dörfer „am Trakt“

<Mit freundlichen Genehmigung des Autors>

Robert Friesen

Über ein internationales Programm der Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Hannover und Saratow kamen 1999 mehrere Studentengruppen hintereinander in die Hauptstadt Niedersachsens mit der Absicht ihre Deutschkenntnisse durch Weiterbildung zu verbessern. Mein Sohn, zu der Zeit Student und Mitarbeiter im Sprachlabor war einer von den wenigen Betreuern der UNI, die ausreichende Kenntnisse in Russisch hatten und in der Lage waren mit den Dozenten, wie auch mit den Studenten die Kommunikation mit den angekommenen Gästen in dieser Sprache aufzubauen. Um eine 21-jährige Absolventin des Saratow-er UNI kümmerte sich Paul besonders intensiv und weil seine Absichten ernst gemeint waren, kam nach einer Einladung von ihren Eltern ein Besuch nach Saratow zustande. Die Hochzeit war ein Jahr später und wir wussten jetzt den Namen unserer Schwiegertochter.

Mit den Schwiegereltern sind wir Freunde geworden und bei unserem nächsten Besuch in Saratow im Sommer 2006 wollten sie eine kleine Reise in die Dörfer „am Trackt“ mit uns machen, wo einst auch meine Urgroßeltern von Mutters Seite in Lysanderhöh lebten.

Auf der Landkarte der früheren Wolgarepublik sind die Dörfer der Mennoniten-ansiedlung „am Trackt“ auch heute noch genau angegeben und Alexander (Schwiegervater von Paul) trug sich schon lange mit dem Gedanken herum bei unserem nächsten Besuch die alten deutschen Dörfer zu besuchen. Nach Absprache mit einem Familienfreund Boris wurde die Rute der Wege aus Saratow festgelegt und das Auto vollgetankt. Am nächsten Morgen machten wir uns auf dem Weg zu den Dörfern „am Trakt“.

Von Saratow am rechten Ufer der Wolga über die Brücke zu der Stadt Engels (ehemalig Pokrowsk) und weiter nach Osten sind es 70 km auf einem guten Asphaltweg in der Richtung nach Kasachstan. An dieser Stelle befindet sich eine Ausfahrt Richtung Süden. Weiter folgt ein holpriger Schotterweg mit großen und stellenweise tiefen Löchern auf der Strecke von ca.120 km. Der Wegrand ist stellenweise mit Bäumen und Sträuchern bepflanzt, aber ein Gestrüpp von Salbei und Cichorium (Gelenke Kraut in Plattdeutsch) ist überall am Wegrand, ab und zu sind auch ganz kleine schäbige Häuser zu sehen. Diese einzelnen Häuser waren in der Sowjetzeit Einrichtungen für Mitarbeiter einer Brigadeabteilung in der Kolchose oder Hirtenhütten. Es sind nur karge Bauten ohne Zufahrtswege für Menschen; kein Baum kein Strauch neben den Häusern, von Blumen keine Rede. Die Erde rundum ist entweder vom Vieh runter getrampelt oder mit hohen Sträuchern, Dornen und Disteln bewachsen. Halb abgerissene Viehställe, verrostete Eisenstücke und verfallene Häuser sind kein seltenes Bild, die einen Reisenden auf der ganzen Strecke begleiten.

Der Landkarte folgend, finden wir an einer Abzweigung am Schotterweg die Stelle, wo Hohendorf sein soll, aber der alte Weg bricht im Felde ab. Nichts ist hier zu finden, was an eine frühere Ansiedlung erinnern könnte. Ein weites Feld bis zum Horizont, so weit das Auge reicht. Das war für uns eine Überraschung. Die Landkarte und die Umgebung wurden noch einmal genau überprüft durch einen Rundgang. Das Dorf muss an dieser Stelle gestanden haben, aber es sind keine Spuren ersichtlich. Ich sagte zu meinen Freunden – „Ich kann es mir nicht vorstellen, dass Russland ärmer geworden wäre, wenn an dieser Stelle ein deutsches Dorf stehen würde. Hier ist genügend Platz bis zum Horizont für eine große Stadt vorhanden“.

Für die Insassen im Auto wird der Übergang zum Asphaltweg auf der Strecke langsam bemerkbar und das nächste Ziel unserer Reise, das ehemalige Dorf „Köppental – am Trakt“ finden wir nach unserer Landkarte tatsächlich, aber unter dem Namen „Kirowo“, und das stimmt, so heißt die Ansiedlung heute. Das schiefe rostige Schild ist von weit zu sehen. Wer es nicht weiß, dass dies fast 80 Jahre die größte von den zehn Ansiedlungen „am Trakt“ war, dass hier das Verwaltungszentrum aller Dörfer „am Trakt“ war, der wird hier keinen Hinweis darauf finden. Auf den Anhöhen stehen Häuser, die für die Zeit der 1950-70-er Jahren typisch sind. Bei unserer Anfrage beim einheimischen Kasachen auf der Straße, konnten wir erfahren, dass einige deutsche Häuser im östlichen Teil der Ansiedlung noch erhalten geblieben sind. Diese Häuser wollten wir uns ansehen. Der erste Eindruck über die Bauart und Größe der Gebäude aus gebrannten roten Bauziegeln ist imposant. Wir dürften uns den Keller ansehen, der mit roten Bauziegeln vom Fußboden bis zum gewölbten Deckboden und mit Nischen in der Wand ausgebaut war, so auch den Dachboden mit einer Eichentreppe und Räucherkammer. Heute leben in diesem Gebäude drei Familien und für jeden ist genügend Platz. Die breiten Wände halten im Winter die Wärme und im Sommer, wenn es draußen heiß ist den Raum kühl, erzählten die kasachischen Einwohner.

Die Überlegungen und Gedanken der Kommissare, die 1929 bei der Kolchosgründung für Enteignung verantwortlich waren, kann man sich wohl vorstellen. Selbstverständlich wurden alle Mennoniten, die im Besitz solcher Gebäude in Köppental waren, als „Kulaken“ bezeichnet. Diese Definition wiederum war, wie ein Urteil und schicksalhaft. Aus Briefen und Erzählungen der Verwandten aus Köppental ist bekannt, dass 1929 alle Mennoniten als wohlhabend eingestuft und in die kasachische Steppe nach Karaganda ausgesiedelt wurden. In die kahle Steppe ohne Dach über dem Kopf, aber bewacht, dass sie hierbleiben.

In einem Teil des Gebäudes, dass wir im Sommer 2006 in „Köppental – „am Trakt“ besuchten, es muss bei den Mennoniten die Küche gewesen sein, blieb ein kleines Bild im Holzrahmen an der Wand hängen. Nach meiner Überlegung konnte niemand dieses Bild nach der Enteignung 1929 hierhergebracht haben. Die Kasachen sind Moslems, auch sie konnten das Bild nicht hierhergebracht haben. Das Bild stammt noch aus der Zeit, als die Eigentümer in diesem Haus lebten. In einem alten schwarzlackierten Holzrahmen mit silberner Innenkante hinter Glas ist Jesus Christus abgebildet. „DEIN WILLE GESCHEHE“ Luk.22.42 – ist die Unterschrift auf dem von der Zeit fein zerplatztem Bild. Erstaunlich, aber das Bild befand sich hier vielleicht mehr als 100 Jahre und die Kasachen haben es mindestens die letzten 76 Jahre erhalten.

Dabei wussten sie nicht einmal welchen Sinn und Inhalt diese drei Worte haben, ganz abgesehen davon, was sie für die Mennoniten bedeuten, und den biblischen Hintergrund der Geschichte. Nach meinen Vorstellungen widerspiegeln diese drei Worte nicht nur den Sinn des Glaubens der Mennoniten, die in diesem Hause in Köppental vor 76 Jahren lebten, sondern auch den Sinn vieler Gläubigen, die in anderen Orten später aufgewachsen sind. Im Sinne dieser drei Worte „DEIN WILLE GESCHEHE“ nahmen viele Mennoniten immer wieder ihr schweres Schicksal an, so auch die ehemaligen Bewohner dieses Hauses.

Das kostbare Bild dürften wir nicht nur von der Wand nehmen, sondern erhielten von den Kasachen die Genehmigung es mit nach Hause zu bringen. Beim Grenzübergang in Russland wurde vom Zoll nicht viel nachgefragt und so konnte das Bild nach Deutschland mitgebracht werden.

Von der größten deutschen Ansiedlung „am Trakt“– Köppental ist wenig übrig geblieben, die Zahl der „deutschen Häuser“ kann an einer Hand nachgezählt werden, aber das größte Gebäude der ehemaligen dreistöckigen Schule am Fluss steht noch, obzwar ich auf meine Nachfrage bei den Nachbarn, die hier nebenan seit 35 Jahre leben, keine Antwort über die Geschichte des Dorfes erhalten konnte.

Nach einem kurzen Einblick in die Landkarte überlegten wir gemeinsam in welche Richtung es weiter gehen kann, damit wir die nächste ehemalige deutsche Ansiedlung Lysanderhöh finden. Eine knappe Stunde Fahrt, hin und her auf kahlen staubigen Steppenwegen und wir näherten uns einem einsam stehenden Gebäude aus roten Brandziegeln. Nebenan standen und lagen eine Menge alter Technik, Traktoren, Mähdrescher, verschiedene rostige Landbearbeitungsmaschinen im Schrotthaufen, die nie wieder im Gang kommen können, damit sie auf dem Feld arbeiten werden. Ein alter Kasache kam auf unsere Bitte zu uns und beantwortete unsere Fragen, erzählte einiges aus seiner Vergangenheit.

Er erzählte uns, dass er in diesem deutschen Haus seit 1946 (60 Jahre) lebt, erst mit seinen Eltern und heute sei er der Älteste in diesem Haus. Es sei das einzige Haus, das von der Ansiedlung Lysanderhöh übriggeblieben ist. Das Dorf Lysanderhöh war mit dem neben liegendem Dorf Orloff zusammengewachsen und bildete eine große Ansiedlung, die sich auf eine Strecke von 25 km entlang zog, beidseitig an der Straße mit Bäumen bepflanzt, was in dieser Gegend nicht selbstverständlich sei. Nachdem die Deutschen 1941 ausgesiedelt wurden, konnte der Verfall dieser großen Ansiedlung niemand mehr aufhalten, so erzählte der Kasache, in einigen Jahren sind die Häuser alle verfallen.

Bis Anfang der 60-er Jahre standen hier noch einige Gebäude, so auch die Mühle bis Anfang der 1980-er. Ich kann mich noch gut erinnern, erzählte er weiter, dass in dieser Mühle das beste Mehl hergestellt wurde. Von weit kamen die Kunden das Getreide hier zu mahlen. Wie das passierte konnte der Kasache nicht sagen, aber es dauerte nicht lange Zeit nach dem Stillstand der Mühle und, er sagte, er könne sich noch gut erinnern an die deutschen Maschinenwalzen mit den Messingschildern, die Mitte der 1980 Jahre als Schrott abtransportiert wurden. Heute ist an der Stelle, wo einst die Mühle in Lysanderhöh stand, ein Haufen Erde zu sehen und wachsen dicke Dornen. Neben der alten Mühle zeigte der Kasache einen „deutschen Keller“, wie er ihn nannte. Wir durften da auch reinschauen. Er war stolz so einen Keller zu besitzen. Der Keller war aus gebrannten roten Bauziegeln vom gefliesten Fußboden mit Treppen im Eingang aus denselben Ziegeln, bis zum gewölbten Kellerboden ausgebaut. Von Oben stabil und gerade. Einmalig in dieser öden Steppe. Später in Deutschland konnte ich feststellen, dass die Mühle und das Haus den Bergmans gehörten.

Damit man sich ein Bild von der gesamten früheren Ansiedlung Lysanderhöh machen könnte fuhren wir weiter, aber außer trockenes Grass konnte man nichts erkennen. Bei aufmerksamer Beobachtung war es aber ersichtlich, dass einige Baumarten auf einem bestimmten Abstand voneinander standen, dass einige Bäume merkwürdige Kronen hatten, dass diese Bäume bestimmt einst im Hinterhof standen, weil vorne ein kleiner Erdhügel erkennbar war. Plötzlich erkannte man unter dem hohen Grass eine ganze Reihe von kleinen Hügeln und man konnte sicherstellen, dass es Reste einzelner Wirtschaft oder von einzelnen Häuser waren.

Am Rande eines Friedhofs in der Nähe der früheren Ansiedlung, den heute Kasachen und Russen benutzen, lagen Steintafeln mit deutscher Beschriftung. Die Kasachen und Russen haben im Allgemeinen eigene und getrennte Friedhöfe, so auch unterschiedliche Bestattungsrituale (Christen und Moslems). An dieser Stelle in der Steppe aber benutzen diese Völker dieselbe Ruhestätte für ihre Verstorbenen, sogar mit den Deutschen in unmittelbarer Nähe.

Möglicherweise der Grabstein von Peter Enss (08.06.1811 n. S. Orloff, Westpreußen -1875, Lüsanderhöh, Am Trakt), #4879. Die Daten auf dem Grabstein im alten Stil, wie es in Russland bis 1918 üblich war. In GRANDMA wurde falsch geschrieben, dass er in Westpreußen gestorben war, weil im Kirchenbuch Ladekopp 1788-1909 unter Orloff, S. 67 steht: 1868 – nach Tiegenhof, 1869 – nach Russland ausgewandert. Alex Wiens

Alle alten Steintafeln waren zerschlagen, aber einige Aufschriften auf den Granitsteinen haben die Angriffe und den Vandalismus überlebt. Die Mennoniten- Namen und der Dorfname Lysanderhöh sind auf den Tafeln deutlich erkennbar und zu lesen.

1853 kamen die ersten Mennoniten aus Westpreußen in diese wasserarme Steppe an der Wolga. Die Dörfer, die von ihnen aufgebaut wurden, existieren nicht mehr. Nur einige Namen auf den Granitsteinen auf dem Friedhof erinnern an die Deutschen. Nichts ist hiergeblieben, sogar die Spuren verweht der Wind.

Da bestätigt sich der Gedanke: – Was der Mensch aufbaut – vernichtet er auch selbst.

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