Johannes Wiens (1899-1981)

Familie Johannes Wiens (1899-1981)

Meine Großeltern Wiens

Johannes Julius Wiens mit Ehefrau Johanna Aron Esau

Johannes Wiens (03.02.1899-12.11.1981), #1254271, der einzige Sohn von Julius Wiens aus der zweiten Ehe hat in seiner Kindheit vier Klassen einer Dorfschule absolviert. Anschließend ging er auf eine weiterführende Schule nach Köppental, wo ein Großteil des Unterrichts auf Russisch stattgefunden hat. Gewohnt hat er bei seinem älteren Halbbruder Peter, der Lehrer in der Schule war.

Während des Russischen Bürgerkrieges wurde Johannes Wiens zeitweise in die Rote Armee einbezogen. Er wurde in der Reitarmee von Budjonny als Kurier eingesetzt.

 

 

 

Am 4. Juni 1925 heirateten Johannes Wiens und Johanna Esau (14.10.1904-30.01.1943), #1254313. Sie bekamen sechs Kinder –

Helene (*1926),

Johannes (01.02.1929-03.08.2008), mein Vater

Katharina (11.07.1931-13.01.2013),

Bruno (01.08.1933-11.2006),

Herta (*1938) und

Meta (1940-1943).

Kinder Helene und Johannes

Die Familie wohnte im neuen Haus vom Vater Julius Wiens.

Im Zuge der Kollektivierung wurden viele Bauernfamilien vom Trakt enteignet und zwangsumgesiedelt. Viele Leute versuchten ihre wertvollsten Sachen bei Verwandten oder Bekannten unterzubringen in der Hoffnung irgendwann mal wieder in ihre Heimatorte zurückzukehren. So hat auch Johannes Wiens bei sich auf dem Hof im Backofen Wertgegenstände von seinem Schwiegervater Aron Esau versteckt. Die Tochter von Johannes – Helene war damals vier Jahre alt, aber sie kann sich noch gut an den Tag erinnern, als fremde Männer zu ihnen nach Hause gekommen waren und alles durchsuchten. Wie angespannt die Gesichter ihrer Eltern waren. Zum Glück wurde nichts gefunden.

Mit Beginn der Kollektivierung blieb die Familie von Johannes Wiens von der Zwangsdeportation verschont. Doch der Stall, die Scheune und das gesamte Vieh wurden ihnen weggenommen. Sie lebten von Kartoffeln und Gemüse, das sie in ihrem Garten anpflanzten.

In diesen Jahren hatten viele Leute ihr Hab und Gut verloren und zogen bettelnd durch die Dörfer Am Trakt. Fast ununterbrochen wurde die Kellerwerkstatt im Hause der Familie Wiens von obdachlos gewordenen Familien bewohnt. Auch später wohnten immer wieder Verwandte bei Familie Wiens. Zuletzt bis zur Deportation nach Sibirien die junge Familie Artur und Anna Neufeld.

Johannes Wiens arbeitete in Lysanderhöh in der Kolchose als Mechaniker, weil er Interesse für Technik hatte. Er unterrichtete junge Traktoristen. Bei der Getreidesaat oder während der Ernte musste er oft aufs Land um die Technik zu reparieren. In den Wintermonaten war er in der Werkstatt in Lysanderhöh mit der Reparatur und Wartung von landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen beschäftigt. Einst wurde er wegen Sabotage beschuldigt. Es war kurz vor Weihnachten 1937. Da erschien in der Kreiszeitung ein Artikel, in dem behauptet wurde, dass Johannes Wiens zusammen mit Julius Fröse (Buchhalter) und Gerhard Dyck die Reparaturarbeiten bewusst hemmen würden. In den nächsten Tagen wurden Julius Fröse und Gerhard Dyck verhaftet. Johannes Wiens hatte sich auf eine Verhaftung vorbereitet. Es wurden Zwiebacke geröstet, die Filzstiefel neu besohlt. Doch er blieb vom Schicksal verschont. Vermutlich wurde er nicht verhaftet, weil er während des Bürgerkrieges eine Zeit lang in der Budjonny Armee gedient hat. Er selbst hat darüber nie gesprochen. Seine Arbeitsstelle, als Mechaniker in Lysanderhöh hatte er verloren und die Bürgerrechte wurden  ihm verweigert. Danach arbeitete er für die Kolchose als Tischler in seiner Heimwerkstatt. Er hatte die alte Bäume um dem Haus herum abgeholzt und sogar die alte Wäschemangel (die vermutlich sein Vater Julius gebaut hatte) zerlegt um daraus Schlitten und Fensterrahmen für die Kolchose anzufertigen. Vermutlich hoffte er dadurch seine Loyalität dem Staat gegenüber zu beweisen.

1938 hatte Johanna sich den Arm gebrochen. Zuerst hatte sie die Schmerzen verkraftet, aber die wurden immer schlimmer, so dass Johannes sie nachts ins Nachbardorf zum Arzt bringen musste. Der Arzt war wegen des nächtlichen Besuchs schlechter Laune und hatte den Arm von Johanna falsch fixiert. Die Knochen wuchsen nicht richtig zusammen und Johanna hatte ständig Schmerzen in dem Arm.

Nach dem Schrecken der Kollektivierung und Repressionen 1937 hatte sich die Lage in den Dörfern Am Trakt etwas stabilisiert. Die Bauern erzielten gute Ernte, bauten Häuser. Die Kinder besuchten Schulen.

Hinten v. li.: Mutter Johanna mit Meta, Bruno, Helene. Vorne Johannes und Katharina. Bild Juni 1941, noch vor dem Kriegsbeginn.

Die Kinder von Johannes und Johanna Wiens besuchten die deutschsprachige Dorfschule (bis zur 7. Klasse) in Ostenfeld. Russisch konnten die Kinder nicht sprechen weil in der Schule diese Sprache ähnlich wie Fremdsprache unterrichtet wurde. Nach Abschluss der Dorfschule hatten die Kinder die Möglichkeit im anderen Dorf die Mittelschule zu besuchen. Danach konnte man in Engels, der Hauptstadt der Wolgarepublik an einer deutschen Hochschule studieren.

Johannes Wiens (mein Vater) hatte den Kriegsbeginn im Pionierlager in Köppental erlebt. Damit wurde für seine gute Schulleistung nach Abschluss der vierten Klasse ausgezeichnet.

Zu Erntezeiten mussten alle, die arbeiten konnten (auch die Schulkinder), hinaus auf die Felder um bei der Ernte zu helfen. So auch im Sommer 1941, als der Krieg schon begonnen hat. Es gab eine gute Ernte. Das Getreide wurde säuberlich eingesammelt und an den Staat ausgeliefert.

Es wurden auch einige Häuser gebaut. Überwiegend von Familien die von umliegenden Khutors (Einzelbauernhof) in die Kolchose umgesiedelt wurden. Im großen Garten hinter dem alten Haus von Julius Wiens hatte Familie Markus ihr neues Haus gebaut. Doch sie hatten nicht lange Freude daran.

Im August 1941 wurden alle Deutschen aus der Wolgarepublik nach Sibirien verschleppt.

Vor der Deportation musste die Familie Wiens das Getreide (1,7 Tonnen), dass noch von der Ernte 1940 übrig blieb, an den Staat liefern. Das neue Getreide wurde schon geerntet und ausgeliefert, doch die Bauern hatten davon nichts bekommen.

Als die Familie von Johannes Wiens an ihr Bestimmungsort Semilushki in Sibirien angekommen war, hatte sie ein Zimmer in einer Dreizimmerwohnung bekommen. Das Zimmer war im Obergeschoss eines ehemaligen Kaufmannshauses. Im Erdgeschoss befand sich früher ein Laden, der inzwischen nicht benutzt wurde. Die Fenster und Türen waren rausgerissen.

In dieser Wohnung wurde eine Ecke hinter dem Ofen abgetrennt und das Getreide, das sie für das an der Wolga abgelieferte erstattet bekamen, gelagert. Wenn es auch viel weniger und von schlechter Qualität war, brauchte die Familie im ersten Winter in Sibirien nicht hungern. Vielen von ihren Landsleuten ging es viel schlimmer. Sie hatten nichts zum Essen und zogen bettelnd durch die Dörfer.

Die Neuankömmlinge mussten im Herbst 1941 bei der Ernte in Sibirien kräftig mithelfen. Die Kartoffeln waren noch in der Erde, das Getreide musste auch noch gedroschen werden. Es lag zum Teil an den rückständigen landwirtschaftlicher Technik, zum Teil an dem, dass die Männer an der Front waren und auch an der allgemeinen Einstellung zur Kolchoswirtschaft.

Im Januar 1942 wurden deutsche Männer ab 16. Jahr zur Zwangsarbeit in die Trudarmee einbezogen. Johannes Wiens wurde zuerst in das Gebiet von Krasnojarsk eingesetzt, wo die Trudarmisten eine Eisenbahnstrecke bauten. Später wurde er mit anderen nach Tula versetzt, wo er in einer Braunkohlezeche untertage arbeiten musste.

Helene Wiens, die älteste Tochter von Johannes und Johanna wurde 1942 zur Zwangsarbeit in die Trudarmee nach Sysran einbezogen. Die Frauen wurden in zwei Baracken untergebracht, dabei gehörten die Baracken verschiedenem Betrieben an. Helene mit drei anderen Frauen (Anna Neufeld (geb. Klassen) und ihre Schwester) wurde in einem Zimmer der Baracke des ölfördernden Betriebes untergebracht. Die meisten Frauen vom Trakt wurden in die Baracke, des ölbohrenden Betriebes einquartiert. Alle Frauen waren deutscher Herkunft verschiedener Konfessionen. Es wurde untereinander nur deutsch gesprochen. Mit der Betriebsleitung haben die Vorarbeiter (deutsche Frauen) russisch gesprochen. Frauen, die zur Bohrarbeiten gezwungen waren, konnten ihre Arbeitsnorm nicht erfüllen, weil sie zu hoch war. Sie bekamen dann auch weniger Brot, dadurch wurden sie immer schwächer, erkrankten und starben. So erging es den meisten von der Ölbohrung. Zum Schluss wurde die Baracke komplett aufgelöst. Den Frauen von der Ölförderung ging es etwas besser. Sie mussten auch hart arbeiten, aber wurden nicht zugrunde gerichtet. Oft hing die Lage der Trudarmisten, von der Willkür der Vorgesetzten ab. Rechte hatten sie keine, denn sie standen unter der NKWD Verwaltung und wurden wie Häftlinge behandelt.

Als die Frauen nach Sysran kamen, mussten sie als erstes ihre Baracken mit Stacheldraht umzäunen. Dagegen hatte sich ein Mädchen gewehrt und auch noch paar andere Frauen dazu angestiftet nach dem Motto: „Ich werde mich doch nicht selbst einsperren!“ Dafür wurde sie für ein paar Wochen in eine Zelle eingesperrt.

Meine Großmutter Johanna Wiens wurde nicht in die Trudarmee einbezogen, weil sie ein Kleinkind Meta (*1940), das noch keine drei Jahre alt gewesen war, hatte. Außer ihren eigenen Kindern hatte sie noch drei Kinder von ihrer Schwägerin Frieda zu versorgen. Im Winter 1943, dem schlimmsten Winter vom ganzen Krieg, bekam Johanna eine Lungenentzündung. Da sie keine ärztliche Behandlung bekommen konnte und nicht genug zu Essen hatte, ist sie an ihrer Erkrankung am 30. Januar 1943 gestorben.

Die Kinder im Schulalter, Katharina und Bruno, kamen ins Kinderheim in gleichem Ort. Die Kinder von Frieda gingen in eine Ziegelei in Tomsk arbeiten. Sohn Johannes musste sich um zwei kleine Schwestern – Herta und Meta kümmern. Er versuchte die letzten Habseligkeiten für Lebensmittel einzutauschen. Einst wurde ihm statt Pflanzenöl Rizinusöl untergejubelt. Er hatte mit diesem Öl Kartoffeln gebraten und alle bekamen eine Vergiftung. Die jüngste Schwester Meta hatte es nicht überlebt. Später hat Tante Lilli Herta zu sich genommen und Johannes ging nach Malinowka, wo er eine Arbeit beim Verlegen einer Schmalspureisenbahn gefunden hatte. Für die Arbeit bekam er Nahrung für sich und seine Schwester Herta (Pajok).

Im Sommer 1944 wurde Johannes Wiens (Opa) wegen einer Erkrankung (Wunde am Fuß) aus der Trudarmee beurlaubt. Er durfte zu seiner Familie nach Sibirien reisen. Unterwegs hat er seine älteste Tochter Helene, die in der Trudarmee in Sysran war, besucht.

Seine Frau Johanna war inzwischen (1943) gestorben. Seine Kinder (Katharina und Bruno) wurden in einem Weisenheim (Detdom) in Semilushki Gebiet Tomsk untergebracht. Als der Leiter vom Heim den Johannes Wiens (Opa) kennen gelernt hatte, und erfuhr, das er ein Tischler war, hat er ihn im Heim eingestellt. Er hat auch die Sache mit der Trudarmee so geregelt, dass Johannes nicht mehr zurückmusste. Johannes holte seine Kinder aus dem Kinderheim. Sein Sohn Johannes bekam auch eine Stelle im Kinderheim. Mit der Zeit bekam die Familie eine kleine Doppelhaushälfte vom Kinderheim zu Verfügung. Die Schwester von Johannes Emilie wohnte mit ihnen zusammen und regelte den Haushalt.

1948 hatte sich die Lage der deutschen Zwangsarbeiter und Deportierten etwas verbessert. Die Familien konnten wieder zusammenziehen. In ihre Heimatorte durften sie nicht zurück, aber auf Einladung eines Familienmitglieds, durfte der Rest der Familie zuwandern.

So hatte auch Helene Wiens ihrem Vater Johannes geschrieben, die Familie könnte doch zu ihr kommen – weg aus Sibirien und Kolchose. In Sysran an der Wolga gebe es bezahlte Arbeit bei der Ölförderung und Wohnungen bekäme man auch ohne große Probleme (das hatte ihr der Betriebsleiter versichert). Ihr Vater hatte das Angebot, aus Geldmangel für die Reise, abgelehnt.

Familie Wiens vor ihrem Häuschen in Semilushki, Gebiet Tomsk. ca. 1953. Hinten v. li.: Johannes, Herta, Bruo. Vorne v. li.: Helene, Vater Johannes, Katharina

Im November 1948 kam Helene aus der Trudarmee zurück nach Sibirien und hatte eine Einstellung im Heim bekommen. So hatte die ganze Familie ein gesichertes Einkommen und kam einigermaßen über die Runden. Doch es dauerte nicht lange da musste die Familie in der Kolchose auf dem Feld schuften ohne Bezahlung. Sie standen unter Kommandantur und konnten ihren Arbeitsplatz oder Wohnort nicht frei wählen. Es kam sogar soweit, dass meinem Großvater Johannes Wiens mit dem Knast gedroht wurde, als er sich geweigert hatte Staatsanleihen zu kaufen, wozu jeder arbeitende verpflichtet war. In der Kolchose, hatten sie ja gearbeitet, aber bekamen dafür kein Geld.

Geschwister Julius Wiens in Semilushki, Gebiet Tomsk. Von li.: Lilli, Johannes, Emilie

1956 wurden die Deutschen von der Komandanturüberwachung befreit. Sie durften in ihre Heimatsorte nicht zurückkehren und mussten sich verpflichten auf ihr Hab und Gut in den verlassenen Gebieten zu verzichten.

Im November 1957 ist mein Opa Johannes Wiens mit seiner ältesten Tochter Helene und Enkelin Lili (Tochter von Katharina) nach Karaganda umgesiedelt. Er hatte sich zuvor in Briefen um die Hand seiner Schwägerin Anna Bergmann (geb. Esau 1912-2001) beworben. Anna war einverstanden und so sind sie in ihre Zweizimmerwohnung in einer Baracke in der Altstadt von Karaganda eingezogen.

Johannes hatte sich um eine Arbeitsstelle bei seinem ehemaligen Lehrling (noch vom Trakt) Jakow Nikolajewitsch Wall beworben. Er war zu der Zeit Leiter eines Autobetriebes (Fjedorowskaja Autobasa) und hat seinen ehemaligen Lehrer sofort eingestellt. Johannes sollte wieder Mechaniker und Kraftfahrer ausbilden. Schon im Januar 1958 bekam er vom Betrieb eine große Doppelhaushälfte in einer schönen Parkgegend (Selentrest) zu Verfügung. Mit dem Ausbilden von Fachkräften hingegen klappte es nicht so richtig, da Johannes schon längere Zeit mit der Technik wenig zu tun hatte, und nicht auf dem neusten Stand der Dinge war. Es war ihm sehr peinlich, dass er die Erwartungen seines Arbeitgebers nicht erfüllen konnte, aber er blieb auch weiterhin im Betrieb tätig, wenn auch als Mechaniker für Wartung und Reparatur von Autobatarien.

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