Familie Gerhard Wall, von Johannes Warkentin

Die Heimat unserer Vorfahren in Westpreußen

Bericht von Johannes Warkentin

Im 16. Jahrhundert mussten die Mennoniten, unsere Vorfahren, aus ihrer Heimat in Flandern und Friesland (in den Niederlanden) wegen ihres Glaubens fliehen. So ließen sie sich im Weichsel-Nogat-Delta und in der Danziger Niederung nieder. Auch in der Elbinger Niederung kam es zu mennonitischen Ansiedlungen. Der König von Polen gab ihnen hier Land. Mit Fleiß und Sachkenntnis als wassererprobte Bauern entwässerten sie das sumpfige Land. Vorher, im 11. und 12. Jahrhundert, baute schon der Deutsche Ritterorden die Dämme von Weichsel und Nogat. Nun waren es unsere Vorfahren, die die weiteren Dämme bauten und so das Land urbar machten. So brachten sie es zu beträchtlichem Wohlstand. Das Leben in der neuen Heimat währte ca. 200 Jahre. Im Jahre 1773 gab es die Dreiteilung Polens zwischen Russland, Österreich und Preußen und unser Gebiet kam zu Preußen. Die Preußen brauchten Soldaten und die Mennoniten lehnten den Kriegsdienst aus ihrem christlichen Glauben heraus ab. Da gab es große Unruhe unter den Mennoniten. Davon hörte die Kaiserin Katharina die Große von Russland und sie bot unseren Vorfahren Land und Glaubensfreiheit an. So wanderten schon um 1787 die ersten Mennoniten nach Chortitza in die Ukraine aus. Später gründeten weitere Auswanderer die Kolonie Molotschna.

Hier sind Auszüge aus dem Manifest der Zarin Katharina der II. vom 22. Juli 1763:

Von Gottes Gnaden

Wir Katharina die Zweite, Kayserin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moscau, Kiow, Wladimir, Nowgorod, Zaarin zu Casan, (…) und mehr andern Erb-Frau und Beherrscherin.

Da Uns der weite Umfang der Länder Unsers Reiches zur Gnüge bekannt, so nehmen Wir unter andern wahr, daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereyen in ihrem Schooße einen unerschöpflichen Reichthum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; und weil selbige mit Holzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meeren gnugsam versehen, so sind sie auch ungemein bequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabricken und zu verschiedenen Anlagen. Dieses gab Uns Anlaß zur Ertheilung des Manifestes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen Unterthanen den 4ten December des abgewichenen 1762ten Jahres publicieret wurde. Jedoch, da Wir in selbigem denen Ausländern, die Verlangen tragen würden, sich in Unserm Reich häuslich niederzulassen, Unserm Belieben nur summarisch angekündiget; so befehlen Wir zur besseren Erörterung desselben folgende Verordnung, welche Wir hiermit aufs feierlichste zum Grunde legen, und in Erfüllung zu setzen gebieten, jedermänniglich kund zu machen.

  1. Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen.
  2. Gleich bei der Ankunft eines jeden Ausländers in Unser Reich, der sich häuslich niederzulassen gedenket (…) vor allen Dingen seinen eigentlichen Entschluss zu eröffnen, und sodann nach eines jeden Religions-Ritu den Eid der Untertänigkeit und Treue zu leisten.
  3. Damit aber die Ausländer welche sich in Unserem Reiche niederzulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie weit sich Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser Unser Wille:

6.1 Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern unverhindert die freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen; (…) Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Rußland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen, unter gar keinem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens und seiner Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze auszusetzen gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende dem Mahometanischen Glauben zugethane Nationen ausgeschlossen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen Religion zuneigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, einem jeden erlauben und gestatten (…).

  1. Endlich und zuletzt, wer von diesen sich niedergelassenen und Unsrer Bothmäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes würde, sich aus Unserm Reiche zu begeben, dem geben Wir zwar jederzeit dazu die Freyheit, jedoch mit dieser Erleuterung, daß selbige verpflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen in Unserm Reiche wohlerworbenen Vermögen einen Theil an Unsere Cassa zu entrichten; diejenigen nehmlich, die von Einem bis Fünf Jahre hier gewohnet, erlegen den Fünften, die von fünf bis zehen Jahren und weiter, sich in Unsern Landen aufgehalten, erlegen den zehenden Pfennig; nachher ist jedem erlaubt ungehindert zu reisen, wohin es ihm gefällt.                                                                                                                                                                   

Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli, im Zweyten Jahre Unserer Regierung
Das Original haben Ihre Kayserliche Majestät Allerhöchst eigenhändig folgendergestalt unterschrieben:
                                                                                                   Gedruckt beym Senate den 25. Juli 1763

Wer sich in unbebauter Gegend niederließ genoss 30 Freijahre, sonst 5 bis 10 Steuerfreie Jahre.

Im sogenannten „Gnadenprivileg Paul I“ vom 6. September 1800 wurden den Mennoniten noch zusätzliche Vorrechte eingeräumt: Befreiung vom Kriegs- und Zivildienst für alle Zeiten, keine Eidesleistung vor Gericht, Gewerbefreiheit u.a.m.

Nachdem im Jahre 1867 die Gesetze in Preußen wegen des Wehrdienstes verschärft wurden, gab es neue Unruhe unter den Mennoniten und man wandte sich  an den russischen Zar und die russische Regierung. Zwar brauchten hier die jungen Leute keinen Waffendienst leisten, sie mussten aber einen Forstdienst tun. Dieses Sonderrecht genossen die Mennoniten bis zur Oktoberrevolution im Jahre 1917.

Das Versprechen der Zarenregierung gab unseren Vorfahren den Anlass ihre Heimat Westpreußen zu verlassen und sich an der Wolga in Russland anzusiedeln. Nun zogen zahlreiche Bauernwagen, hochbeladen mit Hausrat, Betten und Möbeln nach Russland.

Was mögen wohl unsere Vorfahren auf dem langen Weg gedacht haben? Welche Gedanken begleiteten sie in diesen Tagen und Wochen? Jeder Tag brachte sie weiter weg von der Weichsel, wo ihr Volk über zwei Jahrhunderte hart gearbeitet hatte. Tausende Quadratkilometer sumpfiger Weichselniederung hatten sie trockengelegt und in saftige Wiesen verwandelt. Große Herden von Milchvieh und Pferden weideten auf diesen Feldern. Aber viele brachen auf, sich eine neue Heimat zu suchen.

Im Jahre 1853 kamen die ersten 22 Mennoniten-Familien in das Wolga Gebiet in Russland an und ließen sich am Tarlyk und seinem Nebenfluss Malyschowska nieder. Dort gründeten sie das erste Dorf – Hansau. Die Auswanderung der Mennoniten aus Preußen in das Wolga Gebiet dauerte etwa 20 Jahre. Nach Hansau wurden die Dörfer Lindenau, Frösenheim und Köppental angelegt. Später kamen noch Hohendorf, Lysanderhöh und Orloff hinzu. Ende der 80er Jahre folgten noch Ostenfeld und Medemtal. Diese letzten 5 Dörfer bildeten eine einzige lange Straße, die sich über 17 Werst (etwa 17 km) hinzog. Das Zentrum dieser langen Straße war die Kirche in Orloff. In der Nähe der Siedlung war ein Salztrakt, auf dem Salz aus dem Eltonsee transportiert wurde. Deshalb bekam  die Siedlung den Namen „Am Trakt“.

Auch hier, beim Anlegen der Dörfer zeigte sich der rationale Sinn der mennonitischen Bauern. Jeder Wirt baute sein Haus auf einem eigenen Landstück. Weil diese eine beträchtliche Fläche einnahmen, waren die Baustellen weit voneinander entfernt. Die Zarenregierung gestatte jeder Familie einen Hof von 60 Dessjatinen (etwa 60 ha) und außerdem durften wohlhabende Wirte noch unbegrenzt Land dazukaufen. In jedem Dorf gab es eine Schule. In Köppental sogar eine Mittelschule, wo gut ausgebildete Lehrer unterrichteten und auf Kosten der Gemeinde unterhalten wurden. Analphabeten gab es unter den Mennoniten nicht.

Unser Urgroßvater, Franz Wall, kam im Jahre 1868 nach Russland. Er hatte 8 Kinder aus zwei Ehen. Seine erste Frau starb als er noch verhältnismäßig jung war. Aus der ersten Ehe waren vier Kinder: Nikolaj Wall, Peter Wall, Anna Wall (Horn) und Helene Wall (Albrecht). Franz Wall heiratete noch mal und hatte aus der zweiten Ehe auch vier Kinder: Johann Wall, Katharina Wall, Maria Wall und Gerhard Wall (unser Großvater).

Gerhard Wall, ist im Jahre 1856 in dem Dorf Kriefkohl in Westpreußen geboren, damals noch Königreich Preußen. Dieses Dorf kann man auf der Landkarte von Ostpreußen finden. Es liegt in der Danziger Niederung zwischen Stüblau und Hohenstein, am Rand der Danziger Höhe.

Die Reise von der Weichsel bis zur Wolga war für unseren Opa, einen zwölfjährigen Jungen, ein großes, unvergessliches Ereignis. Opa erzählte oft mit Begeisterung davon, wie sie in einer langen Reihe auf Wagen, die von Pferden gezogen wurden, wanderten. Ihr ganzes Hab und Gut war auf den Wagen verladen und mit Zelten bedeckt. Der Weg war schön befahren und gut bekannt, sie waren ja nicht die ersten und nutzten die Erfahrung der Vorgänger. Die ganze Fahrt war gut organisiert. Auf dem Weg waren Haltestellen vorgemerkt, wo die Reisenden mit Lebensmittel und das Vieh mit Futter versorgt wurden.

Jeder Tag brachte sie jetzt ihrer neuen Heimat näher. Wie wird sich das Leben in der Steppe gestalten? Mit schweren Gedanken trieben die älteren Männer ihre Pferde an. Anders die Kinder: Für sie war die Reise eine große Freude, denn jeder Tag brachte etwas Neues, das sie in ihrem Leben beeindruckte. Wie alle Kinder schaute Gerhard sorglos in die Zukunft. Die Einwanderung nach Russland, die Anfänge und der Aufbau blieben unserem Opa  sein ganzes Leben lang eine angenehme Erinnerung. Rationelle Wirtschaftsmethoden, Sachkenntnisse und Fleiß brachten den Mennoniten schon bald Wohlstand. Die Familien waren kinderreich. Die Jugend wuchs heran und gründete eigene Familien.

Gerhard Wall und Anna geb. Penner. Saratov 1905

Physische Stärke und Gewandtheit wurden von unseren Vorfahren hoch geschätzt. Dazu trugen die gesunde Lebensweise und die gesellschaftlichen Traditionen bei. Bei Familienfesten, Hochzeiten und anderen Gedenktagen, wo sich viele Menschen versammelten, wurden Wettspiele veranstaltet. Jede Feier begann mit einem Gottesdienst in der Kirche oder zu Hause. Da gab es Auftritte mit Gedichten und Gesang. Danach Bewirtung, selbstverständlich ohne Wein und Schnaps. Nach der Tafel wurde gewandert, gesungen und gespielt. Im Sommer, bei schönem Wetter, wetteiferten junge Männer in Stärke und Gewandtheit.

Am „Packen“, so nannte man eine Art Zweikampf, beteiligte sich jung und alt. Unser Großvater „kämpfte“ hier gerne mit. Sehr beliebt war auch das Ballspiel (Baseball).

Als er 17 Jahre alt war, starb leider seine Mutter. Als sie im Sterben lag, ließ sie alle Kinder zu sich ans Bett rufen und bat sie ihr zu versprechen, sich nicht um das Vermögen zu streiten und keinen Alkohol zu trinken. Unser Großvater hat sich an diese Versprechen gehalten und auch seine Kinder dazu erzogen.

Medemtal 1928, im Garten von Gerhard und Anna Wall (in der Mitte sitzend).
Von links nach rechts, dritte Reihe: Hermann Wall, Hermann Warkentin, Emil Riesen, Eli-se Wall (geb. Fröse), Heinrich Wall, Greta Wall (geb. Janzen), Kornelius Wall, Jo-hannes Wall, im Bilderrahmen: Peter Isaak, Dietrich Wall, (beide im Jahre 1921 im Tribunal umgekommen), Dietrich Wall.
Zweite Reihe: Maria Warkentin (geb. Wall), Helene Riesen (geb. Wall), Katharina E-wert (geb. Wall), Johannes Warkentin, Anna Warkentin, Maria Siebert (geb. Wall), Elisabeth Wall (geb. Fröse), Anna Isaak (geb. Wall), Helene Wall (geb. Töws)
Kinder in der ersten Reihe: Edita Warkentin, Gerhard Warkentin, NN, Johannes Wall, NN, NN, Helene Wiens (geb. Wall)
NN = Name nicht bekannt
Kinder in zweiter Reihe = Namen nicht bekannt, außer ganz rechts: Peter Warkentin                                                                                                            

Die Mennoniten und die Pferde

Die Mennoniten waren von jeher sachkundige Viehzüchter. Doch ihr Stolz waren die Pferde. Pferde zogen den Wagen der Ansiedler aus Preußen nach Russland. Pferde zogen den Pflug und brachten Futter und Getreide nach Hause. Pferde waren die Grundlage der Wirtschaft. Und nicht Pferde schlechthin. Nein, geschätzt wurden nur reinrassige, prächtige Tiere. Außerdem war die Pferdezucht eine bedeutende Einnahmequelle. Opa erzählte, dass die Emissäre der Zarenarmee bei den Mennoniten alljährlich Pferde für die Reiterei ankauften und gut zahlten. Die Kommunisten hingegen nahmen sie später einfach weg.

In der Region wurden gemeinschaftliche Rassebücher geführt, wo hervorragende Tiere eingetragen waren. Regelmäßig gab es Veranstaltungen. Sogar jeder Kirchenbesuch wurde zu einer Art Schau dieser edlen Tiere. An Sonntagen und anderen Feiertagen fuhr dann jede Familie auf Wagen zum Gottesdienst. Bei dieser Gelegenheit war jeder bestrebt, seine besten Tiere mit dem schönsten Gespann zu zeigen.

Nach dem Gottesdienst versammelte sich die ältere Generation der Männer und Frauen auf der breiten Treppe vor dem Kircheneingang. Die jüngeren Männer hatten ihren Ausgang am entgegengesetzten Ende des Gebäudes. Sie bereiteten die Gespanne für die Fahrt und führten sie dann, eines nach dem anderen, in strenger Ordnung vor die Treppe. Meistens wortlos wurde dabei jedes Gespann eingeschätzt. Nur manchmal konnte man hören: „Es dat ne schmoacke Kobbel“ (Ist das eine hübsche Stute, Kobbel = Stute, aus dem Russischen übernommen und verplattdeutscht).

Doch der Gipfel dieser Schau wurde im Frühling am Osterfest erreicht. Gewöhnlich stand zu dieser Zeit das Hochwasser und der Weg war unpassierbar, an vielen Stellen sogar mit Wasser überschwemmt. Wozu auch in dieser Zeit die Pferde, die Wagen und das Geschirr zu beschmutzen! Das widersprach dem rationalen Sinn der Mennoniten. So entstand die wunderbare schöne Tradition: Wenn das Osterfest mit solch einem Wetter zusammenfiel, kamen zum Gottesdienst nur die jungen, unverheirateten Männer hoch zu Ross. Nur für sie wurde die Predigt in der Kirche gehalten.

Onkel Heinrich

Dietrich <Wall (1914-1944), #132316. AW> war ein Waise. Sein Vater <Dietrich Wall (1888-1921), #132315. AW> war erschossen worden. Mein Vater mochte die Wirtschaft nicht besonders. Viele Jahre versah er den Posten des Vorsitzenden im Dorfsowjet (Dorfrat) und war auch im Bauernverein tätig. So verbrachte er viele Tage auf Reisen und war wenig zu Hause.

So wurde Onkel Heinrich unser Freund und Erzieher. Er lernte uns das Reiten, lehrte wie man ein Pferd besteigen muss, wie man sich im Sattel halten kann, und wie man absteigen soll. Als Dietrich und ich elf oder zwölf Jahre alt waren versprach Onkel Heinrich uns zu solch einem Kirchenbesuch mitzunehmen. Jetzt waren wir ganz Feuer und Flamme dafür. Mein Mütterchen schneiderte für mich aus Vaters Soldatenmantel eine Reitdecke. Sie stickte in das grobe Tuch Blumen und einen Spruch hinein – habe die Worte allerdings vergessen, ich glaube, es hieß: „Gott mit Dir“. Ebenso equipierte auch Tante Helene ihren Dietrich. Endlich kam der langersehnte Tag. Onkel Heinrich, Onkel Hermann, Dietrich und ich bestiegen die Pferde. Der ganze Hof, Opa und alle Onkel und Tanten waren versammelt, gaben Ratschläge und das Geleit.

So erreichten wir mit guten Worten bedacht den Kirchenhof. In langer Reihe, an festen Stangen, die den Kirchenhof von zwei Seiten umgaben, sah man schon viele gesattelte Pferde. Hinter ihnen standen in kleinen Gruppen, plaudernd, junge Männer. Onkel Heinrich fasste uns an der Hand und führte uns die Reihe der angebundenen Pferde entlang. Dabei erklärte er uns die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Pferde.

Heinrich Wall, als Sanitäter im Ersten Weltkrieg

Die Predigt war der Jugend gewidmet. Es wurden Lieder gesungen. Den Text, wie auch die Namen der Prediger, habe ich vergessen. Gesangbücher lagen auf jeder Bank. Das Singen wurde vom Orgelspiel begleitet.

Auf dem Rückweg wurden dann die Ausdauer und die Schnelligkeit der Pferde geprüft. Auf geeigneten Wegabschnitten kam es zum Wettrennen. Da ging es ganz toll zu. Niemand achtete auf das trübe Wetter und den Regen. Wir „grüne“ Reiter durften uns nicht nach vorne wagen. An der Spitze ritten erfahrene Männer, wie unser Onkel Heinrich. Durch und durch nass und mit Schlamm bespritzt kamen wir zu Hause an.

Das spätere Schicksal der Teilnehmer dieser Kavalkade

Viele Jahrzehnte sind seit dem Osterfest dahingeflossen. Die Kirche wurde geschlossen, die Prediger wurden verbannt. Auf Anordnung der Politabteilung der Lysanderhöher MTS (Maschinen und Traktoren Station, heute würden wir wohl Werkstatt sagen)  wurde 1932 die Kirche als Getreidespeicher benutzt. Später, nach unserer Aussiedlung, wurde die Kirche abgerissen.

Dietrich wurde Traktorist im Kolchos (Kollektivwirtschaft). Aber als Sohn eines Volksfeindes wurde er ständig unterdrückt. Er musste die schwerste Arbeiten verrichten. Immer gab man ihm den schlechtesten Traktor. Der Vorsitzende scherzte sogar: „Beim Dietrich läuft jeder Traktor und wenn er ihn nur im Spagat zusammenbinden muss!“

Im Jahr 1942  musste er in die Arbeitsarmee. Dort unterlag er den Drangsalen des Lagerlebens und starb 1944. Seine Grabstätte ist unbekannt.

Onkel Heinrich wurde 1935 verleumdet, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt und starb im Jahre 1943 als Häftling in einem Lager bei Uchta, ASS der Komi.

Kollektivierung

Großes Leid brachte den Menschen die Kollektivierung. Ihre Lieblinge, die Pferde, wurden in engen Räumen zusammengebracht und schlecht versorgt. Kraftfutter bekamen sie nicht. Alles Getreide musste an den Staat abgeliefert werden. Im Winter erkrankten die Pferde an Krätze. Bedauerlich war das Aussehen dieser kranken halbnackten Tiere. Mit Tränen kamen manchmal die Mütter nach Hause aus den Ställen, wo sie ihre Lieblinge besucht hatten. Dann plötzlich wurde das Gerücht verbreitet, die Pferde seien rotzkrank. Viele Pferde wurden dabei erschossen.

Später, als in den Kollektivwirtschaften schon etwas Ordnung geschaffen war, wurde von den übriggebliebenen Tieren eine Pferdefarm organisiert. Doch das waren schon „andere“ Pferde. Diese Farmen wurden auch nicht mehr von Mennoniten verwaltet, weil zu jener Zeit die meisten erfahrenen Männer aus den Mennoniten- Familien schon enteignet, verhaftet und verbannt waren. In den Verwaltungen saßen meistens Vertreter aus den Armenkomitees der umliegenden Kolonistendörfer, oder solche wie Knaals Fröse. Sie spieen auf die Traditionen, Sitten und Gebräuche der Mennoniten. Da gab es bei einer aktuellen Reorganisierung der Wirtschaft Gelegenheit, auch diese Pferdefarm in einen anderen Kolchos im nahegelegenen Chutor zu übergeben. So wurden die Mennoniten ihrer letzten Pferde beraubt.

Wie bekannt, waren die Mennoniten Jahrhunderte lang wegen ihres Glaubensbekenntnisses Verfolgungen und Unterdrückungen ausgesetzt. Diese Umstände prägten ihre Charakterzüge: Einigkeit, Ehrlichkeit und gegenseitige Hilfe, war für sie kennzeichnend. Der ständige Kampf ums Dasein unter solchen Verhältnissen erforderte rationale Wirtschaftsmethoden. Sie waren geschickte Landwirte und sachkundige Viehzüchter. Fleiß und Sachkenntnis brachten den Mennoniten auch an der Wolga, im rauen Steppenklima, beträchtlichen Wohlstand. Ihr Lebensniveau und ihre Kultur waren höher als in den umliegenden deutschen Dörfern. Arme Leute und Landproletarier, wie in anderen Dörfern, gab es unter ihnen nicht. Einzelne deklassierte Personen hatten in der Gemeinschaft keinen Einfluss.

All dieses führte zu einer wahren Tragödie der Mennoniten unter der Sowjetmacht. Religiöse Überzeugung hielt sie fern von Partei und Jugendverbände. Kommunisten und Komsomolzen gab es unter den Mennoniten nur ganz wenig. Demzufolge wurden solche gesetzwidrigen Maßnahmen wie Enteignung, Kollektivierung und dergleichen von zugereisten Parteifunktionären durchgeführt. Die taten das mit Eifer und Grausamkeit, um sich bei ihren Vorgesetzten einzuschmeicheln.

Der „Kampf gegen das Kulakentum“ (gegen die Großbauern), wie er von der Kommunistischen Partei auf dem 16. Parteitag angeordnet wurde, entwickelte sich im Kanton Lysanderhöh zum Kampf gegen die Mennoniten. Mennonit bedeutete so viel wie Kulak.

Nach einigen Angaben litten bei der Enteignung 15 Prozent der russischen Bevölkerung. Bei den Deutschen an der Wolga war die Zahl höher. Doch bei den Mennoniten war dieser Prozentsatz noch viel höher als der Durchschnitt an der Wolga, weil die Mennoniten wohlhabender lebten. Leider kann man solche Angaben in keinem Archiv finden, weil das Glaubensbekenntnis in der Sowjetunion für kein Dokument gefordert wurde. Dieses lässt sich nur anhand der Tatsachen aus dem Verwandtenkreis nachweisen.

Wenn Ende der 1920er Jahre das Wort Mennonit so viel wie Kulak bedeutete, so lautete dieser Begriff in den 1930er Jahren so viel wie Volksfeind und führte zum Genozid.

In der Lysander MTS (Maschinen und Traktoren Station), welche das Siedlungsgebiet der Mennoniten von Köppental ökonomisch verwaltete, war nicht ein Mennonit auf leitendem Posten. So auch in der ganzen Kantonverwaltung. Alle Mennoniten die leitende Posten im Kolchos bekleideten, wie Vorsitzender, Farmleiter und Brigadier, wurden allmählich verleumdet, ihres Postens enthoben, verurteilt und verbannt. So auch meine Tante Anna. Sie war Obermelkerin. Da brachte die Wandzeitung einen Artikel, in welchem stand, dass Tante Anna den jungen  Komsomolzinnen  nicht erlaube, Komsomol-Versammlungen zu besuchen; statt dessen hatten die Mädchen die Milchkannen zu waschen und andere Arbeiten zu verrichten – ausgerechnet in der Zeit, wo die Versammlung stattfände. Tante Anna kam dann nach Hause und sagte: „Jetzt nimmt man mich bald“. Noch in derselben Nacht kamen die NKWD (Polizei) Leute und holten sie. Bis heute kann niemand sagen, was mit ihr geschah.

Tante Tina (Katharina), meine andere Tante, war eine sehr resolute Frau. In den 20er Jahren, als die Hungersnot nach der Revolution so groß war, dass die Bettler scharenweise den Hof überfluteten, kochte sie jeden morgen einen Kessel (ca. 50 Liter) voll Suppe und jeder Bettler erhielt einen Teller voll. Nie ging jemand von ihrer Tür ohne eine Gabe. Dieses wurde beinahe in jeder Wirtschaft praktiziert, denn Brot hatten die Mennoniten auch nicht mehr. Aber womit sie konnten, halfen sie den Bettlern gerne.

Vor Kriegsbeginn lebten in den sieben Familien meiner Onkel und Tanten 36 Cousins und Cousinen, 25 von ihnen waren Vaterlos. Das NKWD und das Kriegsgericht hatten bei ihnen die Väter genommen. Onkel Dietrich Wall und Onkel Johannes Wall wurden erschossen. Onkel Heinrich Wall  wurde verleumdet, verurteilt und fand seinen Tod im NKWD Lager bei Uchta. Tante Anna Wall wurde von der NKWD geholt und niemand weiß wo sie geblieben ist. Nur mein Vater Hermann Warkentin und Onkel Kornelius Wall waren noch bei ihren Familien geblieben. Doch bald starb mein Vater Hungers in Sibirien bei Tomsk (am 29. April 1944) und Onkel Kornelius ging in der Arbeitsarmee zugrunde. Jetzt waren wir alle 36 Nachkommen Vaterlos. Die Verwaisten Familien wurden in der Verbannung von Hunger geplagt. Tante Emilie Warkentin, Tante Helene Wall und Tante Gretel Wall starben vor Hunger. Sie hinterließen 22 Vollwaisen. Die elternlosen Kinder irrten im sibirischen Schnee auf der Suche nach einem Stück Brot. Vier von ihnen kamen nicht mehr nach Hause. Tante Tina fand man eines Morgens tot mit ihrer toten Enkelin in den kalten Armen. Alle Cousins und Cousinen, die ihr 16. Lebensjahr vollendet hatten, auch ich, mussten in Sibirien in der Arbeitsarmee schuften, wo auch Dietrich und Gerhard Wall ihren Tod fanden. So war das Schicksal unserer Familie. Ähnlich endete die Geschichte der meisten Mennoniten an der Wolga. Onkel Hermann überlebte als einziger von meinen Onkeln diese Jahre.

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