Elfriede und Johannes H. Warkentin – „Editha“

Das ist eine Geschichte über die Zeit in der Trudarmee, Zwangsarbeitslager Kriwoschtschökowo im Gebiet Nowosibirsk, wo während des Zweiten Weltkrieges viele deutsche Frauen ums Leben gekommen waren. Erzählt von Editha H. Warkentin (Sie ist als Schülerin auf dem Klassenfoto unter Nr. 31 zu sehen, Kolonie>Orloff>Fotos). Diese Geschichte habe ich aus dem Buch „Alle Spuren sind verweht“ von Nelly Däs abgeschrieben. Mit freundlichen Genehmigung der Autorin.

ELFRIEDE UND JOHANNES H. WARKENTIN 

Editha 

Die Tragödie der deutschen Frauen in Rußland begann schon bei der Ansiedlung der Deutschen im Jahre 1764. 
Die Zarin Katharina II. gab den Deutschen die Steppe an der Unteren Wolga. Die Deutschen sollten mit ihren Dörfern einen lebenden Schutzwall gegen die wilden asiatischen Nomaden bil den und das russische Volk in Zentralrußland schützen. 
David Kufeld beschreibt diese Zeit in seinem „Lied vom Küster Deis“ mit den Worten: 

„Lange hatten sie zu leiden 
von den Horden wilder Heiden. 
Wild sah’s an der Wolga aus,
…….
betend weinten junge Mütter 
und die Männer hielten Wacht!“ 

Allein in den drei Jahren von 1771 – 1774 wurden 17 Kolonien mit annähernd 2 000 Einwohnern ausgeraubt und verbrannt. Da vid Kufeld berichtet, daß die Männer bis zum letzten Atemzug kämpften und das Blut in solchen Strömen floß, daß das Wasser im Karaman davon rot gefärbt wurde. Vorwiegend Frauen und Kinder wurden in die asiatische Wildnis getrieben. So kamen die deutschen Frauen auf die östlichen Sklavenmärkte und landeten in den Harems der Barbaren. 
Auch forderte die Urbarmachung der Steppe großen Arbeits aufwand, der nur mit Hilfe der Frauen bewältigt wurde. Sandstürme aus der nahen Wüste und Schwärme von Heu schrecken vernichteten häufig die Ernte. Solche Plagen konnte nur ein starkes, gesundes Volk mit reger Anteilnahme der Frauen bewältigen. 
So entwickelten die Frauen eine wunderbare Tradition, das sogenannte ,,Gevatteressen“! Eine stillende Mutter wurde von den umgebenden Frauen sorgfältig mit kräftigen Speisen versorgt. Der neugeborene Erdenbürger sollte sich mit genügender Mut termilch gesund und stark entwickeln, um später allen Stürmen der Zeit zu widerstehen. 
Diese Tradition pflegten die deutschen Frauen bis zur Vertrei bung aus ihrer Heimat an der Wolga. 
Ähnlich schwer hatten es die Frauen, nachdem wir Männer in die Trudarmee einberufen waren. So betreute meine Frau Elfrie de die deutschen Frauen, die kein Wort russisch konnten, in der Barabinsksteppe in Sibirien. Einigen Familien gab man hier als Ausgleich für ihre zurückgelassene Landwirtschaft eine Kuh aus der Kolchose. So fuhren die Frauen mit zwei Kühen in Elfriedes Begleitung in die umliegenden Dörfer auf der Suche nach Gemü se und Kartoffeln. Wir hatten einen Säugling, den meine Frau nicht zu Hause lassen konnte, denn sie mußte ihn ja stillen. Ob wohl das Kind gut in Decken eingepackt war, litt es sehr unter der schrecklichen Kälte. Es zog sich Erfrierungen zu, an denen es heute noch zu leiden hat. 
Nicht alle Frauen hatten die Möglichkeit, mit einem Gespann über Land zu ziehen. Viele Frauen wanderten zu Fuß auf den tief verschneiten sibirischen Wegen. Meine Tante fand man tot am Wegesrand mit ihrer toten Enkelin in den steifen Armen. In die nächste Stadt, sie lag „nur“ 94 Kilometer entfernt, durften wir nicht. Es hätte ohnehin keiner von uns geschafft. Dazu benötigte man schon einen schweren Laster, und den gab es in der Kolchosę nicht. 
Doch wie viele Kinder, deren Mütter in Rüstungswerken und in den Wäldern des Nordens arbeiteten, erfroren an den sibirischen Wegen auf der Suche nach etwas Brot. Niemand hat sie gezählt. Wölfe haben ihre steifgefrorenen Körper aufgefressen, oder das Frühlingswasser spülte sie bei der Schneeschmelze ins Meer.
Gleichberechtigung der Frauen
Im sozialistischen Rußland wurde die Losung: „Frauen sind gleichberechtigt“ auf Schritt und Tritt propagiert. Nach statisti schen Angaben waren unter Chruschtschow in der Sowjetunion 54% der Arbeitsplätze von Frauen besetzt und nur 46% von Männern. Aber in Wirklichkeit verurteilte die Gleichberechtigung die Frauen zu einem Sklavenschicksal. Nachdem die Frauen in den Kolchosen und Betrieben acht Stunden schwere körperliche Arbeit geleistet hatten, mußten sie auf dem Heimweg noch die Einkäufe tätigen, oftmals lange anstehen, und zu Hause warteten hungrige Kinder auf sie. 
Abends begann für sie ein neuer, sorgenvoller Arbeitstag: Kinder betreuen, den Haushalt und den Garten besorgen, bis spät in die Nacht hinein. Denn ohne Garten, ohne eigene Kartoffeln und Gemüse konnten kinderreiche Familien bei dem kärglichen Arbeitslohn ihrer Eltern nicht auskommen. 
Männer behaupteten, sie hätten eine qualifiziertere Ausbildung. In den Kolchosen arbeiteten sie an Maschinen oder bekleideten kleine Amtsposten wie Brigadier, Lagerleiter usw. Von diesen Posten gab es in den Kolchosen eine ganze Menge. Für die Frauen blieb nur die Knochenarbeit übrig: in den Kolchosställen die Kühe füttern, melken, misten und dergleichen. Daß die Frauen in der Sowjetunion mehr leisteten und leisten mußten, wurde in der Propaganda der Gleichberechtigung nicht mal erwähnt. 
So erzählte einmal eine deutsche Touristin mit Begeisterung von ihrer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Swerdlowsk bis Wladiwostok, die längste Bahnlinie der S.U. Aber die Frauen an den Bahnhöfen in ihren gelben Schutzjacken, die auf Karren das schwere Werkzeug zu Reparaturarbeiten rollten, beachtete sie nicht. Sie bemerkte auch den Vorarbeiter nicht, der nur mit Zollstock und Wasserwaage den Frauen folgte und ihnen die Arbeit zuwies.

Schwester Editha erzählt

Im September 1941 hielt unser Güterzug voll mit deputierten Deutschen aus dem Westen der Sowjetunion am Bahnhof Tugan, Gebiet Tomsk/Sibirien. Eines Tages kamen Pferdewagen, auf denen unsere Sachen verladen wurden, die uns in die sibirische Wildnis bringen sollten. Ich weiß nicht mehr, wie viele Familien einem Wagen zugeteilt wurden. Jeden Wagen zog eine magere Schindmähre. Unser Vater, Hermann Warkentin, war krank und schwach, deshalb erlaubte man ihm, sich auf einen Wagen zu setzen. Alle anderen, groß und klein, gingen zu Fuß. Es war ein trüber Herbsttag. Die Sonne lugte manchmal aus den grauen Wolken hervor. Dann regnete es, und gegen Abend fiel der erste Schnee. 
Am 24. September kamen wir durchgefroren und hungrig in Grodnoje an. Es war Vaters Geburtstag. Am nächsten Tag ging es weiter, so brachte man uns bis nach Uspenka. Dort lebte ich mit meinen Eltern bis November 1942 bis zur Mobilisierung in die Trudarmee. 
Ein Güterzug brachte uns Mädchen und Frauen nach Nowosibirsk. Dort übergab man uns im Kriegskombinat Nr. 179 dem ersten Rüstungswerk Nowosibirsk. Ich kam in die Werkhalle Nr.12, wo Geschoßhülsen verschiedenen Kalibers gedrechselt wurden. Das war für uns Bauernmädchen eine völlig neue Arbeit, von der wir bisher weder etwas gesehen noch gehört hatten. 
Mir wurde der 24. Arbeitsgang an einer Werkbank zugeteilt. Die Aufgabe an unserem Fließband war, 300 Details in einer Schicht (12 Stunden) anzufertigen. Jedes Werkstück wog 24 kg. Am nächsten Fließband wog jedes Werkstück schon 48 kg. Dort arbeitete Erna Gleich. Die fertigen Geschoßhülsen von 48 kg mußte die erst 15 Jahre alte Irma Schwindt ins Lager zur Verpak kung schleppen. Für diese schweren Stücke gab es keinen Werkwagen oder sonstige Hilfsmittel. Das arme Mädchen schleppte sich fast zu Tode, und keiner der Natschalniki hatte Mitleid mit ihr. 
Anfangs lebten wir in Baracken in einem Lager, das mit Stacheldraht eingezäunt war. Die Ausstattung der Baracken bestand nur aus Holzpritschen, 2 Etagen hoch. Die Lebensbedingungen in den Baracken waren höchst primitiv, es gab keine kommunalen Einrichtungen und keine technischen Hausgeräte. Zudem hatten die Frauen nach einem 12-stündigen, ununterbrochenen Arbeits
tag und einem 14-km-Marsch mit Appellquälerei keine Kraft, an Toilette, Hygiene und Körperpflege zu denken. Sie fielen nur auf die Pritschen nieder, um zu schlafen und bemerkten kaum, wie Wanzen und Läuse an ihrem ungewaschenen Körper zehrten. 
Die erste Zeit gingen wir ohne Bewachung die 6 km bis zum Werk. Wenn wir unser Tagessoll schafften, bekamen wir täglich 800 g Brot, zusätzlich die Monatsration von 500 g Zucker zum Teesüßen. 
Täglich arbeiteten wir 12 Stunden in zwei Wechselschichten, ohne Ruhetage. Wenn jemand an unserem Fließband nicht zur Arbeit kam, wurden zwei Menschen aus der vorhergehenden Schicht zurückbehalten, von denen dann jeder noch 6 Stunden für den Fehlenden arbeiten mußte. Sie durften dann auch hinterher nicht nach Hause gehen, sondern mußten nach 6 Stunden Ruhe zur nächsten Schicht erneut antreten. Nach diesen 18 Stunden harter, unmenschlicher Arbeit fielen die Menschen todmüde auf den Fußboden im Werk nieder. Auf dem kalten Zementboden der Werkhalle erkälteten sich viele und mußten es mit dem Tode bezahlen. 
Die müden, schlafenden Mädchen und Frauen wurden von dem administrativen Gesindel durchsucht und bestohlen, ihre Kleidung durchstöbert. Das Hauptziel solcher Leibesvisitation war, die Brotkarten zu rauben. Das bedeutete für die Bestohlenen den Hungertod. Neue Brotkarten wurden nicht mehr ausgestellt. Mir wurde auch einmal die Brotkarte gestohlen. An meine Werkbank kam der russische Mechaniker, er war ein widerlicher, rothaariger Koloß, und stoppte den Motor. Er tat so, als wäre etwas nicht in Ordnung und machte sich an der Werkbank zu schaffen. Ich war unheimlich müde, deshalb legte ich mich derweil abseits nieder und schlief auch gleich ein. Plötzlich fühlte ich eine kalte Hand an meiner Brust. Ich schreckte hoch und sah den Rothaarigen über mir stehen. Ich griff zuerst nach meinem Brustbeutel, in dem ich meine Brotkarte ständig bei mir trug. Der Beutel war nicht mehr da. 
Ich bekam den Roten gerade noch zu fassen und hielt ihn schreiend fest. Niemand konnte mir helfen. Ich bat und flehte ihn an, mir meine Brotkarte doch wieder zurückzugeben. Der lachte mich nur aus und behauptete, er habe sie nicht gestohlen. Zuletzt stieß er mich grob von sich und drohte, mich totzuschlagen. Was war zu machen, ich mußte arbeiten und mein Soll erfüllen. 
Am Morgen, als die Schicht zu Ende war, versteckte ich mich hinter einem Gebüsch und wartete darauf, bis der Rote das Werk verlassen wollte. Jeder, der das Werk verließ, wurde durchsucht. Endlich sah ich ihn kommen. Er stolzierte daher, ganz ruhig, war überzeugt, daß ich schon das Werk verlassen hatte. Als er seinen Passierschein an der Pforte abgab, sprang ich aus meinem Versteck und bat die Wachposten, ihn festzuhalten. Ich beschuldigte ihn des Überfalls auf mich und des Diebstahls. Er sprang mit einem Satz zurück und wollte abhauen. Zwei Wachposten kamen ihrem Kollegen zur Hilfe. Sie schnappten ihn gerade noch rechtzeitig und hielten ihn fest. Er wurde sorgfältig durchsucht, sie konnten jedoch nichts bei ihm finden. Der Rote lachte niederträchtig zu mir her, er dachte, er hätte es geschafft. 
Ich schrie und heulte: „Er hat mich bestohlen, wie soll ich jetzt den Monat überleben! Er hat meine Brotkarte gestohlen…“ Plötzlich stand ein älterer Wachposten neben mir, er sah mich an und drehte sich dann dem Roten zu. Er griff mit einer Hand in dessen Hosenschlitz und zog meinen Brustbeutel heraus. Freudig streckte ich meine Hand danach aus, doch der Rote behauptete, es wäre seine Geldtasche. Der Wachposten wollte von ihm wissen, was sich außer der Brotkarte noch alles in der Tasche befinde. Ich rief: „In der Tasche ist meine goldene Brosche und die Brotkarte.“ Der Wachmann holte den Inhalt aus der Tasche und stellte fest, daß ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich war so froh, daß ich den haßvollen Blick des Roten nicht mehr sah. Der eine Wachmann sagte zu mir: „Paß auf, Mädchen, mit dem bekommst du noch viel Arger.“ 
Mein Leben war vorläufig gerettet, aber ich mußte sehr auf der Hut sein, durfte mich keinen Augenblick in Sicherheit wähnen. Ich merkte, daß er mich ständig beobachtete und auf Rache sann. 
Als ich während einer Nachtschicht auf die Toilette mußte, ging er schnell an meine Werkbank und befestigte am Schalthebel einen Sprengstoff. Als ich zurückkam und den Motor einschaltete, explodierte der Sprengstoff. Meine beiden Hände waren zerfetzt. In der blutenden Fleischmasse sah man nur noch die weißen Knöchel. Ich wurde zum Arzt gebracht, und der flickte meine Hände so einigermaßen wieder zusammen. 
Elf Tage gewährte man mir zur Heilung meiner Hände. Am zwölften Tag mußte ich schon wieder an der Werkbank stehen und mit verbundenen Händen meine 300 Hülsen drechseln. Schrecklich waren die Schmerzen, aber das Soll mußte erfüllt werden, wenn ich nicht den Hungertod sterben wollte. Bis heute entstellen die vernarbten Wunden meine Hände. 
Dem Roten war nichts passiert, er war ein Russe und hatte mehr Rechte als eine deutsche Faschistin. 
Wie schon gesagt, gingen wir die erste Zeit ohne Bewachung zur Arbeit. Die „PRAWDA“, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei, mahnte jedoch ständig: „Alle Deutschen sind Feinde! Tod den Deutschen!“ 
Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg schrieb beständig zu diesem Thema. In einem einzigen Artikel wiederholte er 24 mal: „Tötet die Deutschen! Nicht Faschisten, die Deutschen tötet. Jeder Deutsche, ohne Ausnahme, ist ein Feind. Greise, Frauen und Kinder…. alle sind Feinde!“ Das waren keine leeren Worte! Diese fortwährende abscheuliche Hetze gegen die Deutschen fand bei den Sowjetbehörden Gehör. 
Südlich von Nowosibirsk gab es ein Gefängnis für gefährliche Kriminelle, die zu Sonderhaft verurteilt waren. Zu Anfang des Krieges formierte man aus diesen Verbrechern Strafbataillone und brachte sie in den Krieg. Jetzt stand das Gefängnis leer. Hohe Mauern aus Eisenbeton, deren Gipfel mit einigen Reihen Stacheldraht und Beobachtungstürmen versehen waren, umgaben diese Anstalt. Dorthin brachte man jetzt die Frauen und Mädchen. Die vorhandenen Baracken reichten aber nicht aus. Eilig wurde mit dem Bau neuer Baracken begonnen. Bis zu ihrer Fertigstellung brachte man uns 30 Mädchen in einer ehemaligen, halbzerfallenen Bäckerei unter, wo schon das Dach fehlte. Nachts leuchteten uns die Sterne auf den obersten Pritschen. Die unteren waren in Dunkel gehüllt. 
Dort befanden wir uns bis zum 16. Dezember, und das in Sibi rien, wo sich die Erde schon im Oktober mit Schnee bedeckt. Wenn wir am Morgen zum Appell gerufen wurden, mußten wir uns, die noch am Leben waren, aus dem Schnee herausscharren. Das alles kann meine Freundin Lisette Krugel bestätigen, Nowosibirsk Obl. Ordynskij Rayon, Selo Pitschugogo. Wir waren meistens zusammen. Sie gehört zu den wenigen, die diese Hölle überlebt haben. 
Am 16. Dezember 1943 brachte man uns in die neuerbaute Baracke. Dort war nicht mal ein Ofen. In kleinen Zimmern auf zweistöckigen Pritschen schliefen 30 Menschen. Sie wärmten mit ihren Körpern den Raum, wie das Vieh im Stall. 
Das Schrecklichste, was die Bewacher uns angetan haben, war der allmorgendliche Appell im Hof. Jeden Morgen mußten wir in eisiger Kälte, nur in Lumpen gekleidet, mit zerfetztem Fußzeug im Durchgangshof solange warten, bis alle angetreten waren. Das dauerte manchmal eine ganze Stunde oder gar noch länger. Dann wurden wir in Achterreihen aufgestellt und abgezählt. Nach diesem Zählappell übernahm uns eine Eskorte, die uns zur Arbeit brachte. In einer unendlich langen Kolonne trieb man uns 6 km weit bis zum Rüstungswerk. Beim Laufen erwärmten wir uns ein wenig. Durch das schnelle Gehen kamen wir ins Schwitzen, und das war für uns bei 40 Grad unter Null fast tödlich. Im Werk angelangt, begann das Abzählen aufs Neue. So ging es jeden Tag und jede Nacht. Bei Regen, bei Schneestürmen und bei über 40 Grad Kälte. Einen Ruhetag gab es für uns nicht. Das stand bei den Kommunisten nicht auf dem Dienstplan! 
Bei diesen unmenschlichen Verhältnissen gab es täglich Tote zu beklagen. In einer kalten Winternacht schlief eine Frau neben mir auf der Pritsche und zwei Frauen auf der Pritsche unter uns. Am Morgen konnte nur ich mich noch erheben. Die anderen drei waren tot. Sie hatten es überstanden! Ihnen konnte niemand mehr weh tun. 
Die eine, schon etwas ältere Frau, hatte des öfteren von ihren fünf Kindern erzählt, die bei ihrer Mutter waren. Nachricht von ihnen hatte sie jedoch keine. Vielleicht waren sie schon verhungert. Jetzt würden die fünf Kinder ihre Mutter nie wiedersehen. 
Aus! Vorbei! Das Leben…. nein, die Qual ging weiter. Als ich von der Schicht „heimkam“, waren die drei Plätze schon wieder belegt. So einfach war das glorreiche System in dem Arbeiterparadies! 
Ich wurde krank, und es gelang mir, daß die Ärztin mich krank schrieb. Nachdem ich mich ausgeschlafen hatte, ging ich im Hof herum und kam zufällig an einem großen Keller vorbei, der früher als Gemüsespeicher gedient hatte. Jetzt waren dort Leichen aufgestapelt. Da lagen zwei Leichen, die sich eng umschlungen hielten, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Wie von Furien gehetzt, lief ich von diesem gruseligen Ort davon. 
Am Abend erzählte ich es meiner Freundin Lisette. „Bist du verrückt“, flüsterte sie mir zu, „das darfst du keinem erzählen. Du hast nichts gesehen, und ich habe nichts gehört.“ So groß war unsere Angst, daß wir nicht mal unter Freundinnen darüber sprechen konnten. 
Die medizinische Betreuung war höchst primitiv und unzureichend. Krank geschrieben wurde man nur bei erhöhtem Fieber, was bei den entkräfteten, ausgehungerten Menschen selten geschah. Abgestumpft und hoffnungslos gingen wir wie eine Herde Vieh, von unseren Bewachern getrieben, gequält, tagein und tagaus dem Tod näher. 
Unsere Kraft reichte oft nicht mal aus, an unsere Lieben „daheim“ zu denken. Wir waren so weit weg von jeder Hoffnung, von jeder Zivilisation. Wir waren umgeben von Trauer, Verzweiflung und Trostlosigkeit. Wie gerne hätten wir mal eine grüne Wiese gesehen, auf einem Baum einen Vogel singen hören. Diese Wünsche blieben unerfüllt. Uns umgaben nur Mauern, Stacheldraht und die Rüstungsfabrik. 
Wenn wir bei Schneestürmen zur Arbeit getrieben wurden und wir uns umsahen, hinterließen wir keine Fußspuren. Von uns würde es auch keine Spuren geben, der ,,Wind“ hatte sie verweht. Keiner würde je mehr an uns denken! Uns war so, als kämen wir aus dem Nichts und gingen ins Nichts. 
Ich wurde von einem schmerzhaften Furunkel geplagt. Ein Geschwulst im Nacken, groß wie ein Hühnerei, quälte mich schrecklich. Keiner der Mediziner wagte es, den Furunkel aufzuschneiden. Es wurde mir nur bestätigt: „Kein Fieber, also nicht krank.“ Ich konnte den Kopf kaum drehen, ohne daß der Schmerz mir durch Mark und Bein ging. Meine Kopfschmerzen wurden immer unerträglicher und trieben mich fast in den Wahnsinn. 
Bei jedem Schichtwechsel mußte die Werkhalle aufgeräumt und die angelieferten Züge mit Rohmaterial ausgeladen werden. So auch an diesem Morgen. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten und griff nach einer Kiste, die ich vom Waggon herunterheben mußte. Es ging bei mir jedoch nicht so schnell wie es von mir erwartet wurde. Der Mann, der mir die Kiste zureichte, schob eine zweite nach und ließ sie auf mich herabfallen. Die Kiste war meine Rettung! Sie fiel auf meinen Furunkel, und plötzlich spürte ich ein warmes Rinnsal im Nacken. Das Geschwür war aufgeplatzt, Blut und Eiter liefen heraus. Ich war wie benommen, mir wurde schwarz vor den Augen. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann ließ der Schmerz nach. Meine schrecklichen Schmerzen war ich ohne ärztliche Hilfe losgeworden. 
Als wir nach der Schicht ins Lager kamen, ging ich in die Ambulanz, damit mir die Krankenschwester einen Verband anlegte. Ich kam an dem Zimmer des Arztes vorbei und sah, wie eine junge Frau vor ihm kniete und ihn anflehte: 
„Helfen Sie mir, ich verblute! Ich habe keine Kraft mehr, ich habe zufiel Blut verloren. Bitte, stellen Sie mich von der Arbeit frei!“ 
„Was soll das Gejammer? Sie wissen doch: kein Fieber, keine Freistellung.“ 
„Helfen Sie mir doch“, flehte die Frau weiter. „Ich habe zu Hause drei kleine Kinder, die brauchen ihre Mutter. Erbarmt Euch ihrer! Ich sterbe, ich kann nicht zur Arbeit gehen, ich bleibe auf der Strecke liegen!“ Erbarmungslos wurde diese Frau in den Tod geschickt. 
Am Abend sah ich sie wieder beim Zählappell. Sie weinte und jammerte: „Schaut mal, ihr guten Leute, schaut mich an! Mein Rock steht wie eine Glocke, steif gefroren mit Blut. Bin schon ganz schwach und kann nicht mehr gehen. Zu Hause warten drei kleine Kinder auf mich. Helft doch! Bitte, laßt mich nicht sterben!“ Ihr Flehen half nicht. Sie mußte sich in die Kolonne einreihen. Nach etwa 500 Metern lag sie dann neben der Kolonne im Schnee. Ein Häufchen Elend, ein Häufchen Lumpen. 
Der begleitende Wachsoldat schlug sie mit dem Gewehrkolben und forderte fluchend, daß sie sich der Kolonne anschließen solle. Als wir die Frau erreichten, konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich rief dem Peiniger zu: ,Sie sind ein Menschenschinder, ein gottverdammter Menschenschinder.“ Er schaute mich ungläubig an, konnte es anscheinend nicht glauben, was er hörte. 
Nun ließ der Wachsoldat von der Frau ab und stürzte sich mit dem Gewehrkolben auf mich. Hilfreiche Hände zogen mich zu rück, und die Reihe schloß sich hinter mir. Die Frauen ließen ihn nicht an mich heran. Letztendlich landete ich ganz vorne in der Kolonne. 
Der Soldat lief um die Kolonne herum und suchte nach mir, konnte mich jedoch nicht finden, es war ja schon dunkel. Zudem sahen wir alle gleich aus: in Lumpen gehüllt und ausgemergelt, unsere Gesichter schwarz. 
Die junge Frau sahen wir nicht wieder, sie ist sicher dort im Schnee gestorben, oder soll ich besser sagen „verreckt“ ! 
Am 1. Dezember 1944 wurde ich mit noch anderen für gute Arbeit „befreit“. Das heißt, wir durften jetzt ohne Bewachung uns bewegen. Das war eine große Erleichterung. Wir konnten auf den Markt gehen und etwas Eßbares einkaufen, wenn wir Geld hatten. 
Im Frühling, wenn wir in der Nachtschicht arbeiteten, konnten wir am Tage bei den Einheimischen Arbeit finden. Wir gruben deren Gärten um, um uns zusätzlich einen Teller Hirsebrei zu verdienen. Unser ganzes Sinnen und Trachten war: wie kommen wir an Lebensmittel, um zu überleben. Von unseren Familien konnten wir keine Hilfe erwarten, sie hatten selber nichts zu essen und litten wie wir großen Hunger. 
Die ganzen Jahre in der Trudarmee war ich bestrebt, mit großem Aufwand und aller Kraft das Tagessoll zu überbieten. Denn das bedeutete zusätzlich 200 g Brot und einen Teller Brei. So konnte ich einigen völlig entkräfteten Frauen helfen. 
Ich arbeitete während des Krieges gut, setzte meine ganze Kraft und mein Wissen ein. Nach Kriegsende wurden nur die Russen, die im Werk angestellt waren und uns zu unmenschlicher 
Arbeit angetrieben hatten, mit Medaillen für ihre heldenhafte Arbeit ausgezeichnet. „Für den Sieg über Deutschland und für ihre heldenhafte Arbeit während des großen Vaterländischen Krieges“ wurden sie belohnt. So stand es in den Bestimmungen. Sie erhielten zusätzlich für die Arbeit an Ruhetagen beträchtliche Summen als außerordentlichen Lohn. 
Wir deutschen Frauen bekamen nichts, wurden weiterhin als Faschisten beschimpft und diskriminiert. Das ist das Los derjenigen, die in der Trudarmee allen Qualen zum Trotz überlebten! 
Wie aber gedenkt man der zu Tausenden gemarterten toten Frauen, unserer Mütter? Sie ruhen in namenlosen Massengräbern, eingescharrt ohne Grabhügel, nicht mal ein Holzkreuz erinnert an sie! Waren sie überhaupt da? 
Ihre Gräber wurden mit schweren Bulldozern plattgewalzt. 
Doch der Sowjetische Staat hat sie nicht vergessen! Sie wer den alle – nach Jahren – nochmals gebrandmarkt, verleumdet! 
Unlängst erfuhr ich in der Kaderabteilung des Selmasch, wo jetzt im gewesenen Rüstungswerk Nr. 1 landwirtschaftliche Maschinen hergestellt werden, daß man alle zu Tode gequälten Frauen in die Kartei als Deserteure eingetragen habe. Dies gibt der Kaderabteilung das Recht, über solche Personen und deren Schicksale keine Auskunft geben zu müssen. Ihr Andenken wurde beschmutzt, ausgelöscht, zum zweiten Mal würdelos eingescharrt, wenn auch „nur“ im Aktenschrank.

Alle Spuren sind verweht. 

search previous next tag category expand menu location phone mail time cart zoom edit close