Diese Erinnerungen seines Vaters hat mir Peter Wall zugeschickt. AW
Johannes Warkentin war Lehrer von Beruf, und eine Zeit auch Rektor einer Abendschule. Es war fast nicht möglich sich in dieser Stellung zum Christlichen Glauben zu bekennen. So verlor er seinen Glauben. Anfang der 1980er Jahre schickte ich ihm mit der Post eine Bibel. Er antwortete sofort mit einem Brief und schrieb: „Ein größeres Geschenk und eine größere Freude hättest du mir nicht machen können“. Ausgang der 1980er Jahre erschien in der Zeitschrift „Neues Leben“ ein Artikel „Meine Beichte“. Da schrieb eine alte Lehrerin, dass Sie es zu tiefst bereut, dass sie die ganzen Jahre ohne Gott gelebt hat, und den Kindern die Evolutionstheorie gelehrt hat. Daraufhin bekam ich einen Brief von Johannes Warkentin in dem er schrieb: „Das ist auch meine Beichte“. Johannes hat zurückgefunden zum Glauben an Jesus Christus, hat sich hier in Deutschland taufen lassen und einer Gemeinde angeschlossen. Er ist im Frieden mit Gott im Jahre 2001 heimgegangen.
Bis zum ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution gab es eine Zeit des Aufbaus, des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes. Wie alle Eltern, so sorgte sich auch Gerhard um seine große Familie. Er kaufte und pachtete noch Land dazu. Wie viel es war, weiß heute niemand. Er hatte etwa 60 Pferde. Eine Zeit lang bearbeitete er das Land mit Kamelen, dann wurde er auch scherzhaft „Kamele-Wall“ genannt.
Als im Jahre 1913 die Mennoniten Siedlung von einer hohen Kommission von der Zarenregierung inspiziert wurde, wurde auch der Bauernhof von Gerhard Wall besucht und als für sehr gut befunden. Zu Ehren der hohen Kommission sangen unsere Vorfahren, wahrscheinlich in einem gebrochenen Russisch, die damalige Russische Hymne.
Hier folgen Text und Noten zum Probesingen:
Als die Technik aufkam, begann auch die Großfamilie Wall ihr Land mit einem Traktor zu bearbeiten. Wenn der Traktor mal nicht so richtig wollte und Probleme machte und die älteren Söhne versuchten ihn zu reparieren, dann spannte der Großvater gerne die Pferde ein und fuhr mit dem jüngsten Sohn Hermann aufs Land und bearbeitete es nach altbewährter Methode. Seine Generation konnte sich mit der Technik noch nicht so richtig anfreunden.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges begann eine sehr schwere Zeit. Es folgte die Kommunistische Oktoberrevolution, der Bürgerkrieg, Hungersnot, Enteignung, Verschleppung. Im Jahre 1930 wurden in ganz Russland gewaltsam die Kolchosen gegründet. Die Menschen mussten alles hergeben – ihr Land und ihr Vieh. Manche Kulaken (Großbauern) die Arbeiter angestellt hatten, wozu auch unser Großvater zählte, mussten sogar ihr Haus hergeben, da dieses enteignet wurde. Die Kulaken mussten ihr Dorf verlassen und hinter Medemtal in Notunterkünften wohnen. Sie bildeten so ein kleines Dorf, das „Kulakenchutor“ genannt wurde. Hier wurden sie von einem bewaffneten Mann bewacht. Sie lebten von Dingen, die ihnen ihre Verwandten brachten, obwohl das verboten war.
Zu der Zeit war Johannes Wall (1.4), ein Sohn von Gerhardt Wall, Vorsitzender im Dorfrat. Da bat der Vater seinen Sohn um Erlaubnis, eine von seinen alten Scheunen abreißen zu dürfen und die Bretter für die Verbesserung der Notunterkunft zu verwenden. Dieser stimmte dann auch zu. Später, als Johannes verhaftet wurde, wurde ihm unter anderem auch dieser Fall zum Verhängnis. Denn er hatte ja den Kulaken geholfen, so hieß es. Nach der ersten Verhaftung kam Johannes noch mal frei, und seine Schwester Tina, die damals in Samara wohnte, half ihm sich mit seiner damals schon großen Familie in Samara niederzulassen. In Samara arbeitete Johannes als Lehrer bis zu seiner zweiten Verhaftung, von welcher er nicht mehr zurückkam. Wie lange die Kulaken dort unter diesen Umständen leben mussten weiß heute keiner mehr genau, aber man schätzt, dass es nur ein paar Monate waren. Nach dieser Zeit wurden sie 1931 nach Selman verschleppt, welches 30 bis 40 km von Medemtal entfernt liegt. Die kleinen Kinder wurden auf Wagen befördert, der Rest ging zu Fuß.
Unsere Mutter erzählte uns, dass als die Kulaken nach Kasachstan verschleppt wurden, wurden sie durch ihr eigenes Dorf wie Verbrecher getrieben. Mama, Elise Wall, nahm mich, Dietrich, auf den einen Arm und einen Laib Brot in den anderen und ging so hinaus und nahm Abschied von den Großeltern. Das Brot gab sie dem Großvater. Als sie schließlich in Selman ankamen, lebten sie dort mehrere Wochen unter freiem Himmel bis sie schließlich auf ein Schiff geladen und zum Bahnhof gebracht wurden. Von dort ging es nun in den Waggons weiter nach Karaganda. Gemeinsam mit dem Großvater reiste Onkel Hermann, er musste auch mit, weil er im Kulakenhaus gewohnt hatte und ein Kulakensohn war. Unterwegs starb Onkel Hermanns ältester Sohn. Er war erst 6 Monate alt. Junge Kulakenmänner waren schon etwas früher nach Karaganda gebracht worden, um Häuser zu bauen. Im August 1931 kamen sie in Karaganda an. Die Häuser waren noch nicht fertig, also halfen sie mit und bald darauf konnte man einziehen. Es lebten mehrere Familien in einem Haus und es gab keine Zwischenwände. Es wurde ein Ofen in jedes Haus hineingestellt, aber die Wohnungen waren trotzdem nass und kalt. Im ersten Winter starben etwa 1/3 von den etwa 200 verschleppten Menschen: Alle Kinder unter 3 Jahren und die vielen Alten und Kranken. Insgesamt 67 Menschen. Unter den Toten war auch unsere Großmutter.
Jüngere, durchsetzungsfähige und begabte Menschen fanden sich schneller zu recht im neuen kommunistischen System und haben es auch bald durchschaut. Heinrich Wiens, der Bruder von Peter und Albert Wiens, fuhr nach Karaganda, um seine Verwandten, die auch dorthin verschleppt waren, zu besuchen und zu versuchen sie von dort rauszuholen. Auf Wunsch und Bitte von Tante Anna, Papas Schwester, besorgte Heinrich Wiens für unseren Großvater auf illegalem Wege eine Bescheinigung (Spravka), dass er Mitglied der Kolchose sei. Und mit dieser Bescheinigung floh unser Großvater im Jahr 1932 nach Hause. Die letzte Zeit lebte er bei uns, bei seinem Sohn Heinrich (1.7).
Unser Vater wurde im Oktober 1935 verhaftet und im März 1936 zu acht Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Als Großvater dieses Urteil hörte, sagte er, dass es ihm fröstelt. Er legte sich ins Bett und starb. Er ist 80 Jahre alt geworden. Er wurde in Preußen geboren und in Orloff auf dem Friedhof begraben. An seine Beerdigung kann ich mich noch erinnern. Wenn er nicht gestorben wäre, hätte man ihn ebenfalls verhaftet. Die NKWD (Polizei) hatte schon nach ihm gesucht. Sie wollten uns nicht glauben und fragten immer wieder nach, ob er wirklich tot sei.
Unser Vater, Heinrich Wall, wurde am 25.10.1897 im Dorf Medemtal geboren. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern in diesem Dorf. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft. Er besuchte die Dorfschule in Medemtal. Im ersten Weltkrieg diente er als Sanitäter. Er holte die Verwundeten vom Feld und brachte sie in die Krankenhäuser. Nach dem Krieg kam er nach Hause und arbeitete bei seinem Vater in der Landwirtschaft. Im Jahre 1928 heiratete er unsere Mutter Elise Wall (geb. Fröse). Sie hatten vier Kinder: Juliana (Julchen), Dietrich, Gerta und Hermann. Gerta wurde 1932 geboren und starb 1934 mit zwei Jahren. Unsere Eltern lebten sieben Jahre zusammen. Unsere Mutter sagte, diese sieben Jahre waren die besten Jahre ihres Lebens. Im Jahre 1935 wurde unser Vater verhaftet und kam nicht mehr zurück. So musste unsere Mutter uns alleine erziehen. Sie gab sich dabei sehr viel Mühe. Durch viel Gebet und Gottes Hilfe hat sie es geschafft. Sie fand Arbeit in einer Hühnerfarm, und dort konnten wir bis zur Verschleppung nach Sibirien wohnen.
Der Anfang der 1930er Jahre war eine sehr schwere Zeit. In diesen Jahren wurden Kolchosen (Kollektivwirtschaften) gegründet; die Menschen mussten ihr Vieh und ihr Land abgeben und viele hungerten. Sie musste arbeiten, wurden dafür jedoch nicht bezahlt. Dazu kam noch eine Missernte und es gab eine große Hungersnot in den Jahren von 1931 bis 1933. In diesen Jahren haben viele Familien Pakete mit Lebensmitteln vom MCC (Mennonitisches Zentral Komitee, Amerika) oder anderen Hilfsorganisationen aus dem Ausland erhalten. Unsere Eltern erhielten auch ein Paket mit Mehl. Die Absender baten um eine Rückmeldung. Unser Vater schrieb einen Brief und bedankte sich für das Paket. Dieser Brief hat den Empfänger aber nie erreicht.

(1928 Medemtal, im Garten von Gerhard Wall)
Als im Jahr1935 unser Vater verhaftet wurde, wurde auch dieser Brief als belastender Beweis missbraucht.
Im Jahre 1934 wurde es besser. Unser Vater arbeitete in der Kolchose als Traktorist. Anschließend wurde er Brigadier (Vorarbeiter) in der Traktorbrigade. Dann wurde jedoch gesagt, Heinrich sei ein Kulakensohn, der dürfe nicht Brigadier sein. Kulakensohn bedeutet Sohn eines Großbauern, und solche durften keine Verantwortungsstellen haben. Jetzt sollten die Armen regieren. Daraufhin wurde er Tabellenführer. Er musste Felder vermessen, Ernteerträge berechnen und Arbeitseinheiten ausstellen. Doch dann begannen die Verhaftungen. Warum wurden die Menschen verhaftet? Sie waren alle unschuldig und keine politischen Verbrecher. Für nur ein Wort konnte ein Mensch verhaftet werden und für immer ins Gefängnis kommen. So wurde in Russland in den 1930er und 1940er Jahren der Kommunismus „gebaut“. Eine Ursache war, dass die Menschen Angst vor der neuen Ordnung haben sollten, sodass sich keiner traute zu sagen, dass sie nicht gut sei. Sie sollten alle sagen, sie wäre sehr gut. Eine weitere Ursache war, dass das Land viele Arbeiter im Norden brauchte, die umsonst arbeiteten. Deswegen wurden viele Tausende unschuldig verhaftet, von denen nur Einzelne überlebten – Gott sei Dank, dass die Zeit heute besser ist.
Im Jahre 1935 wurde unser Vater verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt er hätte eine Verbindung mit den Kapitalisten, und das wären die Feinde. Unser Vater wurde bei Gericht beschuldigt gesagt zu haben, dass die in Deutschland hergestellten Traktoren besser seien als die russischen. Unser Vater hatte das nie so gesagt, aber man suchte eine Ursache. Da war auch noch der oben erwähnte Brief. Ein Mann hatte ihn beschuldigt und gegen ihn eine Aussage gemacht. Später wurde dieser Mann aber auch verhaftet und ging den gleichen Weg. So war damals die Zeit.
Im Gefängnis arbeitete er zuerst im Wald, dann mehrere Jahre im Büro. Er half den Buchhaltern, da er gut mit dem Abakus (Rechentafel) rechnen konnte. Er schickte uns zweimal Geld aus dem Gefängnis mit Menschen, die freigelassen wurden.
In den Kriegsjahren wurde das Leben im Gefängnis unerträglich. Unser Vater starb im Gefängnis im Jahre 1943 in der Stadt Uchta, Komi ASSR.

Elise Wall mit ihren Kindern, Juliana, Dietrich und Hermann
Im Jahre 1961 hat unsere Mutter einen Brief an das Oberste Gericht in Moskau geschrieben und gefragt, was ihr Mann für ein Verbrechen begangen hat. Als Antwort erhielt sie eine Rehabilitierungsurkunde, die bestätigt, dass ihr Mann unschuldig verhaftet wurde, jedoch schon lange im Gefängnis gestorben sei. Im Jahre 1961 durfte man nachfragen, davor ist es unmöglich gewesen (die Anfragen blieben unbeantwortet, und viele hatten Angst zu Fragen).
Hier folgt die Antwort auf den Brief unserer Mutter (ins Deutsche Übersetzt von Gerta Siebert):
Regionalgericht
Amt für Strafrecht
Saratow
Nekrassowa Str. 17
26. September 1960
Waal Elise des Johannes
Karaganda, Melkombinat
Kuwskaja Str. 42
Bescheinigung
Das Urteil des Spezialkollegiums des Obersten Gerichts der ASSR der Deutschen im Wolga-Gebiet von 3-5 März 1936 und die Feststellung des Spezialkollegiums des Obersten Gerichts der RSFSR vom 29 Juni 1936 in Bezug auf Waal Heinrich des Gerhard, geb. 1897, verurteilt nach §58/1 und §58/2 des Strafgesetzbuches der RSFSR werden mit dem Beschluss des Präsidiums des Obersten Gerichts der RSFSR vom 5 Februar 1960 aufgehoben und das Strafverfahren eingestellt, da kein strafrechtliches Vergehen in seinen Handlungen vorliegt.
Zur Zeit der strafrechtlichen Gerichtsverurteilung im obengenannten Fall arbeitete Waal H. des G. in der Kollektivwirtschaft im Rayon Ternowskij im Gebiet Saratow.
Stellvertretender Vorsitzender des Regionalgerichts Saratow
Kostenko.
Die Verschleppung nach Sibirien
Am 22. Juni 1941 begann in Russland der 2te Weltkrieg. Am 28. August 1941 kam ein Gesetz raus, das besagte, dass alle deutschen Bürger der Sowjetunion bis an den Ural (eigentlich Wolga Gebiet) nach Sibirien verschickt werden sollten. Am Abend des 29. August kamen zwei Autos mit bewaffneten Soldaten in unser Dorf, sie hielten an der Verwaltung. Die Soldaten wurden an bestimmten Stellen aufgestellt; an der Farm wo es viel Vieh gab, an den Tennen wo viel Getreide war und so weiter, weil man fürchtete die Menschen würden es anzünden und verbrennen. Am nächsten Morgen, den 30. August war das Gesetz in der Zeitung publiziert. Hier folgt das Gesetz:
Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28.8.1941
Über die Umsiedlung der Deutschen des Wolgagebietes
Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten der Militärbehörden befinden sich in den Wolgagebieten unter der dortigen deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spione, die auf ein von Deutschland zu gebendes Signal Sabotageakte in den von den Wolgadeutschen besiedelten Gebieten auszuführen haben.
Keiner der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen hat den Sowjetbehörden die Anwesenheit einer so großen Zahl an Diversanten und Spione unter den Wolgadeutschen gemeldet; infolgedessen verbirgt die deutsche Bevölkerung an der Wolga die in ihrer Mitte befindlichen Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht. Im Falle von Diversionsakten, die auf Signal aus Deutschland durch deutsche Diversanten und Spione im Gebiet der Wolgadeutschen ausgeführt werden sollten, wird die Sowjetregierung gezwungen sein, entsprechend den zur Kriegszeit geltenden Gesetzen, Strafmaßnahmen gegen die gesamte deutsche Bevölkerung des Wolgagebietes zu ergreifen. Um aber unerwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und Blutvergießen zu verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden, die gesamte deutsche Bevölkerung der Wolgagebiete in andere Gebiete umzusiedeln, und zwar derart, dass den Auswanderern Land zugeteilt werden soll und dass sie bei ihrer Neueinrichtung in den ihnen zugewiesenen Siedlungsgebieten vom Staat zu unterstützen sind. Für Zwecke der getrennten Ansiedlung sind ihnen Ackerbaugebiete in den Gauen von Nowosibirsk und Omsk, im Altaigebiet, in Kasachstan und in anderen benachbarten Gegenden zugewiesen worden. Im Zusammenhang damit ist das Staatliche Verteidigungskomitee angewiesen worden, die Aussiedlung der Wolgadeutschen und die Zuweisung von neuem Siedlungsland an die Wolgadeutschen unverzüglich in Angriff zu nehmen.
(Nachrichtenblatt der Obersten Sowjets der UdSSR, 1941, Nr.38)
Tausende und Zehntausende Spione, das war eine große Lüge. Es wurde kein einziger gefunden oder gefangen. Aber dem Land wurde ein großer Schaden zugefügt. Denn die ganze Landwirtschaft ging verloren, und es kam eine Hungersnot.
Über die administrative Organisation des Territoriums der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen
Im Nachgang zu dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Rayons des Wolgagebiets leben“ wird verordnet:
1. Dem Gebiet Saratow werden folgende Rayons der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen einverleibt:
Balzer, Solotowskij, Kamenskij, Ternowskij, Kuckujskij, Selmann, Krasnojarskij, Marxstadt, Krasnokutskij, Lisanderheim, Mariental, Eckheim.
2. Dem Gebiet Stalingrad werden folgende Rayons der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen einverleibt: Frank, Erlenbach, Dobrinskij, Pallasowskij, Gmelinskij, StaroPoltawskij, Ilowatskij.
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR
M. Kalinin
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR
A. Gorkin
Moskau, Kreml, 7. September 1941
(Quellen: Siehe Anmerkungen)
Und somit wurde die Republik der Wolgadeutschen aufgelöst.
Im September 1941 wurden wir nach Sibirien verschleppt. Damals wurde ein Gesetz erlassen, dass man seinen Weizenvorrat vom Vorjahr abgeben könne und dafür einen Beleg erhalte. Im Verbannungsort erhält man den Weizen bei Vorlage des Beleges wieder. Wir hatten etwas Weizen im Vorrat, aber es war schwer für uns diesen abzugeben. Wir brauchten ein Pferd dafür, Mama konnte die Säcke nicht tragen und ich war erst 11 Jahre alt. Aber Tante Tine Riesen (Schwester von unserer Mutter) ihr Sohn Hermann hat für uns etwas von unserem Weizen abgegeben und wir erhielten es auch wieder. Das war unser Brot für den ersten Winter in Sibirien. Dem Herrn sei Lob und Dank, denn viele Menschen haben nichts wieder zurückbekommen. Wir konnten auch eine Kuh abgeben in der Hoffnung im Verbannungsort eine andere dafür zu bekommen.
Es verlief alles friedlich, aber die Aufregung war sehr groß. Am 11. September wurden wir ausgesiedelt. Wir hatten also Zeit um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, obwohl alle bis zum letzten Tag arbeiten mussten. Wir hatten keinen Vater – unsere Mutter hat sich sehr bemüht und viel gebetet und Gott hat geholfen. Ihm sei Lob und Dank. Es wurde Brot gebacken und getrocknet, wir haben auch ein Schaf geschlachtet, Kleidungssachen verpackt und so weiter. Am 11 September kam ein Traktor (Schlepper) mit mehreren Anhängern (Pferdewagen), auf die wir unsere Sachen legen und uns raufsetzten durften und so sind wir abends aus unserem Dorf gefahren. Wir fuhren die ganze Nacht. Am nächsten Tag kamen wir mittags an der Station Besimjanaja an, die 30 km von unserem Dorf entfernt war. Wir haben alles abgeladen. Dort waren sehr viel Menschen. Am nächsten Tag wurden wir in einen Zug verladen und am gleichen Abend fuhren wir los.
Während der gesamten Fahrt konnte man an den Bahnhöfen heißes, gekochtes Wasser kostenlos bekommen. Davon wurde Tee gekocht und Brot aufgeweicht, das war sehr gut. Wir konnten uns während der ganzen Fahrt nie waschen, da es keine Möglichkeiten dafür gab. Ein Problem war, dass es in den Waggons kein WC gab. Diese Angelegenheiten mussten wir an den Stationen oder im Freien verrichten.
Wir fuhren über Mittelasien. Hinter der Stadt Uralsk bog unser Zug nach Süden ab in Richtung Alma-Ata, dann Semipalatinsk, Barnaul, Nowosibirsk und Tomsk. Hinter Tomsk, an der Station Tugan, wurden wir ausgeladen.
Die ganze Fahrt verlief friedlich. Wir hatten genug zum Essen von zu Hause mitgenommen. Alles was eingepackt war wurde auch mitgenommen. Natürlich wurden wir von dem langen eintönigen Fahren müde. An den Stationen in Mittelasien wurden Arbusen (Wassermelonen) angeboten. Ich konnte auch eine Wassermelone kaufen. Dass war für mich, damals einen elfjährigen Jungen, ein Erfolgserlebnis. Im Zug waren auch Soldaten die uns begleiteten, aber sie hatten keine Waffen und haben auch niemanden beleidigt oder belästigt.
An großen Stationen gab es Essen. Einen Eimer Hirsebrei für einen Waggon. Das hat auch gereicht.
Wir fuhren in Güterwaggons denen man ansah, dass sie an der Front gewesen waren: Sie hatten Schusslöcher. Sie waren zweistöckig eingerichtet. Die Türen waren während der Fahrt zu, aber an den Stationen konnten wir die Türen aufmachen und raus gehen.
Wir waren auf der Reise und es war Krieg. Wir sahen auch Sanitär- Züge mit verwundeten Soldaten. Den Krieg haben wir nicht gesehen, nur viele verwundete Soldaten und die große Armut, die später noch vieler Jahre anhielt. Unser Zug hatte 40 Waggons. In einem Waggon fuhren die Soldaten, ein anderer war der Sanitär-Waggon für Kranke. Ein Kind kam während der Fahrt zur Welt. In unserem Zug hat man nicht gehört, dass während der Fahrt jemand gestorben wäre. Am 25. September, früh am Morgen, kamen wir an unsere Endstation Tugan an. Wir waren also 14 Tage unterwegs vom 11. bis zum 25. September. Es war kalt und es schneite. Wir wurden ausgeladen und der Zug fuhr ab. Die Soldanten winkten uns zum Abschied.
In Sibirien, 1941 – 1958
Wir Kinder durften in Tugan in einer Schule übernachten. Die Erwachsenen mussten unter freiem Himmel bleiben. Die Menschen wurden verteilt in die umliegenden Kolchose. Am nächsten Tag kamen Fuhrwerke mit Pferden und holten uns ab. Wir fuhren 45 km. Einmal übernachteten wir im Wald am Feuer. Am 27. September kamen wir Abends in unserem Dorf Koschly (auch Osinowka genannt) an. Das Dorf bestand aus etwa 50 Häusern.
Es war dunkel und der Fuhrmann nahm uns mit in sein Haus. Dort blieben wir über Nacht. Am anderen Morgen gaben uns die guten Leute Frühstück: Eine Pfanne mit gebratenen Kartoffeln.
Dann bekamen wir ein Zimmer bei einer Familie zugeteilt, mit eigenem Eingang. Nach einem Monat konnten wir in ein Haus mit einem einzigen großen Zimmer umziehen. Wir haben das Zimmer mit einer Bretterwand geteilt, so dass jede Familie eine Hälfte für sich hatte. In einer Hälfte lebten wir: Mama, Julchen, Hermann und ich. In der anderen Riesens: Tante Tina ihr Sohn Hermann und Tante Anna.
Hermann wurde bald in die Trudarmee (Arbeitsarmee) eingezogen wo er auch starb.
Wir lebten in diesem Haus ungefähr 10 Jahre zusammen. Später kauften wir uns ein Haus. Hier wohnten wir bis 1958. Die Anschrift war: Tomskaja Oblast, Tuganskij Raijon, Turuntaewskij Selsowet, Selo Koschli (Osinowka). Die Arbeit dort war in der Landwirtschaft. Unsere Mutter arbeitete in der Kolchose und auch wir Kinder fingen bald an zu arbeiten.
Die Menschen lebten in Sibirien sehr arm, die meisten waren gutmütige Leute. Sie lebten dort von ihrem Garten, denn der Kolchos hat nichts für die Arbeit bezahlt. Uns wurde gesagt: „Es ist Krieg. Wir arbeiten für den Sieg.“
Wir haben für unsere Quittung, die wir mitgebracht haben, bald nach der Ankunft Weizen bekommen. Drei Zentner pro Person (300 kg.), das war eine große Gnade Gottes, das haben nicht alle bekommen. Die, die nichts bekamen, haben sehr gehungert. Wir haben im Frühling Papas Anzug gegen einen Sack Steckkartoffeln getauscht. Kartoffeln wachsen in Sibirien sehr gut. In den Jahren 1942 bis 1948 lebten wir meistens von Kartoffeln.
Wir hatten zu Hause eine Kuh dem Staat abgeliefert und eine Bescheinigung erhalten auf Grund derer wir in Sibirien eine Kuh bekommen sollten. Mama ist im Frühling 1942 wegen der Kuh 45 Kilometer zu Fuß nach Tugan zum „Sagotskot“ (Sammelstelle für den Staatlichen Schlachthof) gegangen. Hier mussten die Kolchose das Vieh abliefern um ihren Fleischplan zu erfüllen. Milchkühe wurden aber sehr selten zum Schlachthof gebracht. Mama hat dort eine Zeit lang gearbeitet in der Hoffnung, dass sie eine Kuh bekommt, aber es verzögerte sich und so kam sie ohne Kuh nachhause. Ihr wurde aber versprochen, dass sie bei einer Möglichkeit eine Kuh bekommt. Für uns begann eine Zeit des Betens, Wartens und Hoffens. Nach einem halben Jahr wurde an einem Tag Vieh durch unser Dorf zum Sagatskot getrieben und es war auch eine Kuh dabei. Mama ging mit der Viehherde mit und bekam die Kuh. Die Kuh war nicht mit der zu vergleichen die wir am Trakt abgegeben hatten. Sie gab noch 2 Liter Milch pro Tag im Winter. Im Sommer erholte sie sich. Auf guter Weide gab sie dann 10 bis 15 Liter Milch. Es war eine gute Kuh. Damals wurde gesagt, eine Kuh deckt manche Armut zu. Ein Jahr später machte Mama den Weg nochmal und holte auch für Riesens Tantens eine Kuh.
Auch wenn die Steuern für eine Kuh sehr hoch waren, freuten wir uns sehr. Die Steuern betrugen pro Jahr: 400 Liter Milch mit Fettgehalt 4,1 % oder 16 kg. Butter, 45 kg. Fleisch und 100 Eier. Wir beglichen diese Milch-Steuern mit Butter, dann hatten wir wenigstens die Schleudermilch und die Buttermilch für uns.
Im Jahre 1942 wurden auch die Frauen in die Trudarmee (Arbeitsarmee) einberufen, allerdings nur die Deutschen. Befreit wurden Frauen, die Kinder unter drei Jahren hatten. Unsere Mama wurde auch einberufen, sie sagte: „Kinder betet!“ Und sie kam wie durch ein Wunder los. Sie hatte gerade eine starke Grippe, konnte sich kaum auf den Beinen halten, musste aber zur Kommission nach Tugan, welche 45 km entfernt war. Wie man ein Pferd bekommt, um einen kranken Menschen dort hin zu fahren, das wäre ein Kapitel für sich. Die Hauptsache ist, sie wurde befreit, kam nach Hause, wurde gesund und konnte bei uns bleiben – Gott sei Lob und Dank.
So begann das Leben in Sibirien. Unser Hauptnahrungsmittel waren Kartoffeln und die sind dort gut gewachsen. Wer Kartoffeln hatte war ein reicher Mensch. Im Sommer war es immer schwer, denn die Kartoffeln reichten nicht durch das Jahr durch, und wir konnten sie auch nicht den Sommer durch aufbewahren. Ab Mitte August gab es frische Kartoffeln, dann ging es wieder besser.
Ich habe zu Hause, in Lysanderhöh, drei Klassen in der Schule beendet. In Sibirien bin ich noch einen Winter zur Schule gegangen, wieder in die dritte Klasse, da ich damals kein Russisch konnte. Danach war die Schule für mich beendet. Die Zeiten waren zu schwer und viele haben damals aufgehört zur Schule zu gehen – es war Krieg. Ich habe bis ich 15 Jahre alt war zu Hause gearbeitet. Im Winter habe ich Holz aus dem Wald mit einem Handschlitten geholt und im Sommer im Garten gearbeitet. Mit 15 habe ich angefangen in der Kolchose zu arbeiten. Zuerst hütete ich Schafe und danach noch vier Jahre Kühe. Das Viehhüten war nicht schwer, aber dennoch sehr mühsam: Jeden Tag von früh
bis spät und ohne Ruhetage. Es regnete viel, aber man konnte ein Feuer machen und sich daran wärmen.
Im Herbst 1948 machte ich eine Ausbildung als Traktorist. Während der Ausbildung wohnte ich bei Familie Johannes und Anna Wall in Turuntajewo. Das Lernen klappte gut und so arbeitete ich von 1949 bis 1958 als Traktorist. Ohne Ausbildung durfte man dort keinen Traktor fahren. Die Traktoren waren sehr alt. Es musste sehr viel repariert werden, oft direkt auf dem Feld. Es fehlten die Ersatzteile und die Reparatur wurde nicht bezahlt. Bezahlt wurde nur das, was gepflügt und gesät war. Dennoch verdiente ich mehr als beim Viehhüten.

Zuerst arbeitete ich auf so einem Traktor mit Stahlrädern
(ХТЗ = харьковский тракторный завод), gebaut in den 30er Jahren. Später auf einem NATI (НАТИ = научный тракторный институт).

Dietrich Wall mit seinem Gegenschichter am Traktor NATI
Im Jahre 1953 haben ich, Dietrich Wall, und Emilie Siebert <Erinnerungen von Emilie Wall, geb. Siebert. AW>, meine liebe Frau, eine Familie gegründet. Die Hochzeit war am 15. März 1953. Wir hatten nicht solche Möglichkeiten wie die Jugend heute. Wir konnten uns nicht frei treffen und kennenlernen. Wir wohnten nicht im gleichen Dorf. Uns trennten 7 Kilometer. Wenn man das Dorf verlassen wollte musste man den Kommandant fragen. Dieses Gesetz habe ich dann „leider“ mehrmals verletzt. Mein Schwager Hermann Fröse und ich waren damals jung und erfindungsreich. Hermann arbeitete mit Pferden. Junge Pferde müssen ja eingeritten und eingelernt werden den Schlitten oder Wagen zu ziehen. So nutzten wir diese Einlernfahrten und fuhren bis nach Petrovka und machten Besuch bei unseren Verlobten. Als wir Hochzeit feiern wollten ging ich zum Kommandant und bat ihn um Erlaubnis und er erlaubte es auch. Die Hochzeit war sehr bescheiden, denn wir waren damals arm. Alle waren damals arm, nicht nur wir. Brot hatten wir aber schon. Wir hatten genug zu essen und das war sehr wichtig.
Zehn Tage vor unserer Hochzeit starb der große Führer Stalin, der das Land 28 Jahre mit grausamer Hand regiert hatte. Das Leben wurde allmählich leichter. Nach seinem Tod fand eine große Amnestie statt. Viele tausend Gefangene wurden befreit. Die Kolchosarbeiter wurden von den Steuern ihrer Hauswirtschaft an den Staat befreit. Zum Beispiel die 400 Liter Milch pro Jahr und manches mehr.
In den Jahren 1953 bis 1958 wurden uns drei Kinder geschenkt. Das Vierte kam in Karaganda dazu. 1955 bis 1956 haben wir ein Haus gebaut. Emilie und ich haben das Holz im Wald mit der Handsäge gesägt und nach Hause gefahren. Julius Siebert half uns beim aufbauen. So hatten wir ein neues Haus.
Das Ende der Verbannung
Nach Kriegsende wurde die Verbannung durch ein Dekret der Obersten Sowjets vom 26. November 1948 festgelegt. Der Text lautet:
Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR darüber, dass die Deutschen, Kalmyken, Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Finnen, Letten und andere in die (für sie) bestimmten Rayons auf EWIGE ZEITEN umgesiedelt wurden. Das Verlassen der Ansiedlungsorte ohne Sondergenehmigung der Organe des Innenministeriums wird mit Zwangsarbeit bis zu 20 Jahren bestraft.
(FAZ v.10.01.89) .
Dieses Gesetz wurde 1955 abgeschafft. Mit der so genannten Teilrehabilitierung. Ab dann durften wir innerhalb des Landes reisen und uns einen anderen Wohnort wählen. Nur nachhause in die Heimatdörfer durften wir nicht. Hier folg das Gesetz:
Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR
vom 13. Dezember 1955
Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in Sondersiedlungen befinden.
In Anbetracht der Tatsache, dass die bestehende Beschränkung in der Rechtsstellung der deutschen Sondersiedler und ihrer Familienangehörigen, die in verschiedenen Rayons des Landes verschickt worden sind, in Zukunft nicht weiter notwendig sind, beschließt das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR:
1. Deutsche und ihre Familienangehörigen, die in der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges in eine Sondersiedlung verschickt worden sind, sind aus der Zugehörigkeit zur Sondersiedlung entlassen und von der administrativen Kontrolle der Organe des MWD (das Ministerium für Innere Angelegenheiten) zu befreien. Das gleiche gilt für deutsche Bürger der UdSSR, die nach ihrer Repatriierung aus Deutschland in eine Sondersiedlung angewiesen sind.
2. Es wird festgelegt, dass die Aufhebung der durch die Sondersiedlung bedingten Beschränkungen für die Deutschen nicht die Rückgabe des Vermögens zur Folge hat, das bei der Verschickung konfisziert worden war, ferner dass sie nicht das Recht haben, in die Gegenden zurückzukehren, aus denen sie verschickt worden sind.“
(„OsteuropaRecht“, Heft 1/1958, S. 223)
Das Präsidium der Obersten Sowjets der UdSSR beschließt:
1. Der Erlass der Präsidiums des Obersten Sowjts der UdSSR vom 28. August 1941 über die Umsiedlung der Deutschen, die im Wolga Gebiet lebten (Protokoll der Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR, 1941, Nr.9, Artikel 256/1) ist in dem Teil aufgehoben, der wahllos erhobene Beschuldigungen in Bezug auf die deutsche Bevölkerung enthält, die im Wolga Gebiet lebte.
2. In Anbetracht dessen, dass die deutsche Bevölkerung sich ihren neuen Wohnorten auf dem Territorium einer Reihe von Republiken, Regionen und Gebieten des Landes festen Fuß gefasst hat, während die Rayons ihrer früheren Wohnsitze besiedelt sind, und im Interesse der weiteren Entwicklung der Rayons mit deutscher Bevölkerung, werden die Ministerräte der Unionsrepubliken beauftragt, der im Bereich ihrer Republiken lebenden deutschen Bevölkerung auch künftig Hilfe und Beistand beim wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau unter Berücksichtigung ihrer nationalen Besonderheiten und Interessen zu leisten.
Der Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Anastas Mikojan
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR M. Georgadse
(Nachrichtenblatt des Obersten Sowjets der UdSSR, 1964,
Nr. 53, veröffentlicht am 5. Januar 1965)
(Qellen: Siehe Anmerkungen)
Umzug nach Kasachstan, 1958
Wie die meisten Zwangsumgesiedelten begannen auch wir über einen Umzug nachzudenken. Julius Siebert fuhr nach Karaganda auf Kundschaft-Reise. Ihm hat es dort gefallen. So verkauften wir unser Hab und Gut: Das Haus, eine Kuh, ein Rind, ein Kalb, ein kleines Kalb und mehrere Schafe.
Im Juni 1958 sind wir nach Karaganda gezogen. Ausschlaggebend war, dass es dort schon eine Mennonitengemeinde gab. Der Anfang war schwer. Das Stadtleben, die Arbeitssuche usw. Es musste wieder gebaut werden.
Das wir aus Sibirien weggefahren sind war richtig. Wir konnten uns der Gemeinde anschließen. Auch unsere Kinder konnten hier die Kinderstunde oder die christliche Jungendstunde besuchen – Gott sei Dank für Alles.
Tante Maria Warkentin (1.5), die Schwester unseres Vaters, sagte mal, dass man Gott nie genug für seine Mutter danken kann, und das ist wahr. Aber noch mehr danken sollten wir für Gottes Hilfe.
Unsere Mutter lebte in Karaganda noch 10 Jahre. Sie starb am 26. August 1968 im Alter von 71 Jahren. Sie ist auf dem Friedhof Kirsawod in Karaganda begraben, direkt neben dem Betrieb, wo ich gearbeitet habe.
Hier folgt ein Bild unserer Mutter mit ihren Kindern und deren Ehepartnern:

Gerta Wall (geb. Fröse), Juliana Siebert (geb. Wall), Julius Siebert, Emilie Wall (geb. Siebert)
Vordere Reihe:
Hermann Wall, Elise Wall (geb. Fröse), Dietrich Wall
Bis zu der Auswanderung nach Deutschland im Jahre 1993 konnten wir in Ruhe und Frieden leben und arbeiten. Wir besuchten regelmäßig die Gottesdienste in der Mennonitengemeinde und arbeiteten nach Möglichkeit und Begabung mit. Auch Kinder- und Jugendarbeit wurde getan, wenn auch nicht so frei wie in Deutschland.
Familie Johann und Katharina Fröse
Unsere Großeltern mütterlicher Seite waren Johann und Katharina Fröse. Großmutter Fröse war eine geborene Nickel. Sie wurde 1860 geboren und starb im Jahre 1940 im Alter von 80 Jahren. Großvater Johann Fröse wurde in Frösenheim, einem Dorf in der Kolonie „Am Trakt“ an der Wolga, im Jahr 1867 geboren und starb 1937 mit 70 Jahren. Beide Großeltern starben in Lindenau und wurden auch dort begraben. Sie haben hier die längste Zeit gewohnt. Ihnen wurden sieben Kinder, zwei Söhne und fünf Töchter geboren, alle in Lindenau. Die Söhne hießen *Hans und *Hermann. Die Töchter hießen *Tina, *Maria, *Anna, *Elise (unsere Mutter) und *Nelchen (Kornelia).
*Hans Fröse und Käte hatten 4 Söhne: Hans, David, Dietrich und Willi. Im Jahre 1937 wurden Hans und Käte verhaftet und beide kamen ins Gefängnis. Beide überlebten es nicht. Hans starb auf der Kolyma. Käte wurde wahrscheinlich in Engels erschossen. Beide starben unschuldig. Alle vier Söhne wurden in die Trudarmee (Arbeiterarmee) einberufen. Dietrich überlebte sie nicht. Er starb auf dem Weg nach Hause in Sverdlowsk. David, Hans und Willi leben zurzeit in Deutschland.
*Hermann Fröse machte in der Ukraine in Halbstadt eine Ausbildung als Lehrer. Nach der Ausbildung kam er wieder nach Hause. Hier heiratete er Johanna Warkentin (Tante Hannchen). Hermann starb sehr jung an einer Lungenentzündung. Ihre gemeinsame Tochter Helene (Lenchen Tschemjakina) wurde erst nach seinem Tod geboren. Tante Hannchen heiratete später den Witwer Aaron Fröse. Aaron hatte aus erster Ehe drei Kinder: Jakob, Artur und Elsa. Jakob war Lehrer, Artur Kraftfahrer und Elsa arbeitete in der Kolchose und später in der Käserei. Tante Hannchen und Aaron hatten drei gemeinsame Söhne: Otto, Hermann und Albert.


*Tina wurde im Jahr 1891 geboren. Sie war mit Kornelius Riesen verheiratet, welcher 1921 an Typhus starb. Sie hatten einen Sohn Hermann, der erst neun Monate alt war als sein Vater starb. In dem selben Jahr starben auch beide Schwiegereltern von Tina an Typhus.
Tina pflegte alle, blieb aber selber am Leben. Ihr Sohn Hermann starb in der Trudarmee im Jahre 1943. Tante Tina starb im Jahr 1975, im Alter von 84 Jahren in Karaganda und ist auf dem Friedhof in Karaganda/Maikuduk begraben.
*Maria wurde im Jahre 1893 geboren. Sie war unverheiratet und lebte bis 1941 mit Tante Nelchen im Haus der Großeltern. Tante Maria starb mit 80 Jahren im Jahr 1973 in Sibirien. Begraben wurde sie im Dorf Kabakly, Gebiet Novosibirsk, 18 km von der Station Tschany entfernt.
*Anna wurde im Jahr 1896 geboren. Sie war mit Hermann Riesen verheiratet. Sie hatten keine Kinder. Hermann wurde 1937 verhaftet und starb im Gefängnis. Anna wurde mit uns zusammen nach Sibirien verschleppt. Von dort kam sie in die Trudarmee, hat diese überlebt und wohnte mit uns im Gebiet Tomsk. Hier wohnten wir alle bis wir im Jahre 1958 nach Karaganda zogen. Tante Tina und Tante Anna konnten sich nur schwer an das Leben in der Stadt gewöhnen und zogen zurück nach Sibirien zu ihren Schwestern Nelchen und Maria ins Gebiet Novosibirsk ins Dorf. Dort fühlten sie sich wohler. Im Jahr 1973 zogen Anna, Nelchen und Tina nach Karaganda. Tante Anna starb im Jahr 1990 und ist auf dem Friedhof in Karaganda/ Maikuduk begraben.
*Nelchen wurde im Jahr 1899 geboren. Sie war unverheiratet. Nelchen half viel den Söhnen von Hans, als er und seine Frau verhaftet wurden. Sie wohnten alle in Großvaters Haus bis 1941. Dann wurden alle Deutschen nach Sibirien für „ewige Zeiten“ verbannt. Mit der Zeit wurden die Tanten älter, und das Leben und die Selbstversorgung im Dorf wurde ihnen zu schwer. Die vielen Gartenarbeiten, das Heu machen mit der Sense, das Versorgen mit Holz für den Winter und vieles mehr. Im Jahre 1973 halfen David Fröse und ich ihnen (Tante Tina, Tante Anna und Tanta Nelchen) nach Karaganda umzuziehen. Sie kauften ein Haus neben uns und wohnten in der Nachbarschaft. Tante Nelchen starb im Jahr 1982 und ist auf dem Friedhof in Karaganda/Maikuduk begraben.
Schlussworte
Das ist in Kürze die Geschichte unserer Familie. Im Jahre 1853 kamen die ersten Mennoniten am Trakt an. Unser Großvater kam im Jahre 1868. Im Jahre 1941 wurde die ganze Siedlung aufgelöst. Die Mennoniten-Kolonie „Am Trakt“ existierte nur 88 Jahre. Die Familie unseres Großvaters lebte dort 73 Jahre. Wir lebten danach 17 Jahre in Sibirien und 35 Jahre in Karaganda/Kasachstan. Rückblickend können wir sagen: „Wir blicken voll beugen und staunen, dankend und anbetend auf die Wege unserer Vorfahren, wissend, dass auch wir hier nur Gäste und Fremdlinge sind.“
Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir.
(Hebr.13,14)
(Dietrich Wall, im Januar 2011)
5. Anmerkungen
Kommandantur: Meldepflicht. Alle Deutschen, die in den Kriegsjahren nach Sibirien verbannt wurden, waren bis 1955 unter Kommandantur. Einmal im Monat musste jeder beim Kommandant erscheinen und unterschreiben, dass er noch da sei. Sie durften ihr Dorf nicht verlassen. Dieses Gesetz wurde für EWIGE ZEITEN erlassen. Der große Diktator Stalin lebte aber nicht ewig. Er starb im Jahre 1953. Und 1955 wurde dieses Gesetz aufgehoben und die Deutschen durften wie alle anderen innerhalb der Sowjetunion frei fahren, aber nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren.
Alle Gesetzgebungen in:
Volk auf dem Weg: Deutsche in Russland und in der GUS 1763-1993, Hrsg.: Kulturrad der Deutschen aus Russland e.V. …,1993.