Lebenserinnerungen von Friedrich Funk (1918-1998)

Diese Lebenserinnerungen von Friedrich Funk veröffentliche ich hier mit freundlicher Genehmigung seiner Kinder. Ich habe einige Tippfehler korrigiert und zu einigen Personen Fußnoten mit Daten hinzugefügt. AW

Kapitel 1: Kindheit in Köppental – Orloff am Trakt an der Wolga, 1918 – 1931 …1
Kapitel 2: Flucht nach Mittelasien und das Leben in Ak-Metschet
bei Chiwa, Usbekistan; 1931 – 1935 ………………………………………..…………11
Kapitel 3: Zwangsaussiedlung nach Tadschikistan und die Gründung
der Siedlung Nr.7 im Wachschatal, 1935 – 1942 ……..………………………….……15
Kapitel 4: Untersuchungshaft, 1942 – 1943 …………………………………….…..…21
Kapitel 5: Verschiedene Etappen im Gulag, 1943 – 1952 …………………………….24
Kapitel 6: Zeiten nach der Entlassung aus dem GULAG, 1952 – 1954 ……………..32
Kapitel 7: Eigene Familie und eigenes Heim, 1954-1969
Kapitel 8: Estland, 1969 – 1975 …………....…………………………………….51
Kapitel 9: Deutschland, 31.12.75 bis heute ..………………………….…….……….58
Anhang…………………………………………………………………………………….70

LEBENSERINNERUNGEN

Friedrich Funk,
geb. den 12. April 1918
in Köppental, Am Trakt
Rußland

„…Dich, mein Köppental,
grüß ich tausendmal…“

KAPITEL 1

Kindheit in Köppental – Orloff am Trakt an der Wolga
1918 – 1931

Köppental wurde im Jahre 1855 von mennonitischen Siedlern, die direkt aus Preußen kamen, gegründet. Durch das Dorf floss die Werschin, eigentlich Malyschka, die in den Tarlyk mündete, dieser wiederum in die Wolga. In den Jahren 1856 – 1859 entstanden die Dörfer Lindenau und Fresenheim, 1862 – Hohendorf, und nach zwei weiteren Jahren ging man an die Besiedlung von Lysanderhöh, die 1870 beendigt wurde. Ein Jahr später entstand Orloff und im laufe der Jahre 1875 – 1880 die Dörfer Walujewka, Ostenfeld und Medemtal – damit war die Besiedlung zum Abschluss gekommen.
Meine erste persönliche Erinnerung ist der Sommer 1921, als ich oben, auf dem mit Möbeln und Hausgeräten vollbepackten Wagen, bei der Überfahrt von Köppental in Hohendorf großen Durst hatte und man anhielt, um in der Wirtschaft Gustav Töws[1] meinen und der anderen Durst zu stillen – es war ein warmer freundlicher Sommertag. Dann gings weiter bis nach Orloff, wo vor dem Schulhaus mit großem Hof und Garten Halt gemacht und ausgeladen wurde – hier war nun der Dienst meines Vaters[2] als uneingeschränkter von der Gemeinde berufener Dorfschullehrer und der Wohnsitz der ganzen Familie. Außer den Eltern und mir, noch drei ältere Schwestern-Marie, Helene, Anna und eine jüngere Schwester Barbara.
Das Haus war aus Holz gebaut und hatte ein Blechdach. Vor dem Haus zur Straße hin war ein geräumiger Vorbau mit Eingangstreppe – der Vorbau war mit wildem Wein berankt und sehr einladend. Von der anderen Seite war das Haus mit einem langen überdachtem Gang mit dem mittelgroßen Stall verbunden, das ganze großflächige Grundstück war mit einem Staketenzaun umrahmt. Aus dem großen Hof, der nur an der Straßenseite mit Bäumen bepflanzt war, öffnete sich ein großes Tor zur Straße, gegenüber führte auch ein großes Tor zu den drei Desjatinen, zum Grundstück gehörendem Land, zur Hälfte Wiese und zu anderen Hälfte Ackerland. Gegenüber des Lehrerhausgrundstücks war der einfache, aber imposante Bau der Mennonitenkirche, umrahmt von großen Bäumen und mit vielen Blumenbeeten. Das Ganze umzäunt von einem hübschen Staketenzaun. Trotz meiner drei Jahre fiel der
[1] Gustav Töws (ca. 1876), GRANDMA #935142. AW
[2] Johannes Funk (30.12.1883-ca. 1944), GRANDMA #1310370. AW.

2

Vergleich mit dem verlassenen Geburtsort Köppental nicht ungünstig aus – ich hatte das Gefühl einer großen Freiheit und Bewegungsmöglichkeit und nutzte sie großartig alle Jahre meiner hier verbrachten Kindheit. Die besonderen Beziehungen zum Geburtsdorf werden später in mehreren Beschreibungen begründet. Aus dem Gang führte rechts eine Tür zum Hof, links eine Tür in den großen Garten in dem als ein besonderes Wahrzeichen drei Pyramidenpappeln standen, die nach meiner langjährigen Überzeugung den Wind erzeugten, ihre hohen Wipfeln bewegten sich ständig. Von der Tür geradeaus ging ein breiter Steig, von beiden Seiten mit Obstbäumen eingerahmt, bis zur Grenze des Nachbargartens, wo im Zaun eine Pforte eingearbeitet war. An diesem Pförtchen war viele Jahre der Lieblingsspielplatz mit meiner gleichaltrigen blonden Nachbarin Leni. Mein Rufname war bis zum siebten Lebensjahr Fritz. Unsere Spielgemeinschaft war so harmonisch, dass wir damals beschlossen uns später zu heiraten.
Im Garten wuchsen viele Johannes- und Stachelbeerbüsche, hierzu hatte ich freien Zutritt. Außerdem, schön geordnet, gab es viele Blumen- und Gemüsebeete. Das große Haus war folgendermaßen aufgeteilt: die eine Hälfte wurde von einem Klassenzimmer mit großen hellen Fenstern und Kachelofen und dem großem Vorraum mit einer Treppe zum Dachgeschoß vereinnahmt, die andere Hälfte bestand aus Wohnzimmer, Mittelzimmer und geräumiger Küche mit der Treppe zum Kellergeschoß. Im Wohnzimmer war auch ein Kachelofen, der Wohn- und Mittelzimmer erwärmte. Die Kacheln waren so glänzend weiß und glatt, dass ich in Versuchung kam sie mit der Zunge zu belecken – der Ofen war beheizt und nie habe ich es nochmals versucht. Im Wohnzimmer stand ein Fußharmonium und hier befand sich auch die Arbeitsecke meines Vaters, eingerichtet mit außerordentlich feinem geschmackvollem Schreibtisch und Bücherschränkchen. An der Wand hing im großen Bilderrahmen die Tellskapelle, in der nächsten Ecke stand eine Palme im Ständer. Aus dem Wohnzimmer führte ein kleiner Gang ins Klassenzimmer. Dieses dunkle Gängchen mit zwei verschließbaren Türen war mein erster Karzer, nur genutzt von meinen Schwester, wenn bei Abwesenheit der Eltern der Fritz anders nicht zu bändigen war.
Der lange Gang vom Haus mündete im Vorstall, wo Futter- und Heizmaterial gespeichert waren. Danach begann schon der Stall mit seinen Abteilungen: rechts der Kuhstall mit Innenbrunnen und Kraftfuttervorrat; links Pferde-, Schweine- und Hühnerstall mit Abtritten für Eltern, Kinder und Schulkinder im Hintergrund. Während unseres Verweilens hier bis zum Jahre 1928 hatten wir keine Pferde und die Pferdeabteilung war für Schafe und Schäfchen eingerichtet. Kühe hatten wir drei, zwei weiß-schwarzgefleckte und eine schwarze Kuh, die „Babka“ hieß. Sie hatte besonders nahrhafte Milch, und wenn Mutter morgens die Kuh molk, stand ich immer mit einem Becher daneben und trank mit Genuss die kuhwarme Milch, so war es manche Jahre und ich war ein sehr gesunder Junge. Schweine hatten wir zwei, die im November geschlachtet wurden. Den ganzen Hergang des Schlachtens und der folgenden Verarbeitung beobachtete ich mit großem Interesse viele Jahre. Beim jährlichen Schafe Scheren im Frühling war ich natürlich immer dabei, und es war höchst interessant beim Einfangen dabei zu sein, wenn es einem Schaf gelungen war, sich während des Scherens zu befreien. Die Hühnerwirtschaft war soweit interessant, dass ich hin und wieder die Eier aus den Nestern ausheben durfte. Zu meinen

3

täglichen Pflichten gehörte die Begleitung meines Vaters mit einer Laterne zur letzten Fütterung der Kühe, die nach besonderen Vorschriften eines Agronomen Remesow gefüttert wurden. Die Versorgung mit Wasser, Heu und Heizmaterial wurde nach Beschluss der Dorfgemeinschaft der Reihe nach von Bauern des Dorfes vollzogen. Da die meisten Bauern von Orloff gut florierende Wirtschaften mit Milch und Zugvieh hatten, verlief diese Versorgung ziemlich reibungslos. Trotzdem war es eine gewisse Abhängigkeit, die auch ich mitbekam, und deshalb schon damals den festen Entschluss fasste, Bauer oder Handwerker zu werden, nur nicht Lehrer.
Mein Vater war ausgebildeter, staatlich anerkannter Lehrer und unterrichtete vier Klassen, des Öfteren zu gleicher Zeit. Vormittags waren 4 Unterrichtsstunden und nachmittags nochmals zwei. Die Einteilung, der Lehrplan, Unterrichtsstunden und Zusatzstunden mit Praktikum vollzog der Vater souverän allein, und jeder Inspektorenbesuch war immer eine Bestätigung seiner Tüchtigkeit. Das Gehalt bekam er vom Staat. Ballspiel und Gymnastik waren für Lehrer und Schüler eine willkommene Abwechslung, desgleichen auch Gemeinschaftsspiele, wo auch die Mädchen dabei sein durften. Wandern liebte der Vater sehr und ich war ständiger Begleiter, auch wenn diese Wanderungen sich weit erstreckten. Unser Wandern wurde immer wieder mit dem Liedchen:

„Bin gar wohl Zufluss bestellt, he juche, juche,
wandern durch die ganze Welt, he juche, juche;
wer nicht gut marschieren kann,
der suche sich ’nen andern Mann, he juche, juche.“

unterbrochen, besser, begleitet. So geschah es auch, dass wir einmal eine lange Wanderung zu meinem Geburtsort Köppental unternahmen. Die Wanderung führte durch Orloff, Lysanderhöh, Hohendorf und hinunter nach Köppental. In jedem Dorf hatte Vater Bekannte, sogar Verwandte, bei denen wir einkehrten, ausruhten und aßen. Vater hatte angeregte Gespräche und ich durfte mit dem Spielzeug spielen, das von Erwachsenen oder größeren Kindern der Familie nicht mehr benutzt wurde und mir jetzt zugutekam. Hinreißend und mit viel Phantasie konnte ich damit spielen, daheim hatte ich so etwas einfach nicht. In einem Haus in Lysanderhöh fesselte meine Aufmerksamkeit eine große Standuhr mit großem Pendel und besonderem Schlagwerk. Sie blieb in meinem Gedächtnis, so wie auch das Bild mit der Tellskapelle in unserem Wohnzimmer, für viele Jahre haften. Bei einem Abstecher in Hohendorf präsentierte man uns eine große Schüssel mit roten, saftigen Kirschen, auch diese vergaß ich nie. Endlich lag vor uns Köppental, das Dorf, dass für mich und unsere Familie besonders am Herzen lag. Üppiges Waldesgrün, mit Blumen und Würzkräutern bedeckte Hänge, Vogelsang und das Plätschern der Werschin (Flüßchen Malyschka) eroberten mein Gemüt für alle Jahre, bis dahin hatte ich dieses nicht so bewusst erlebt.
Weiter ging die Wanderung durch’s Dorf, hinüber über die Brücke, rechts zum stattlichen Bau der zweistöckigen Zentralschule, wo in der Lehrerwohnung im zweiten Stock meine Wiege gestanden hatte. In dieser Schule ist mein Vater Oberlehrer gewesen, geachtet von den Oberschülern und der Elternschaft, die ein höheres Bildungsniveau für einige ihrer Kinder anstrebten. Vater war ein großer

4

Naturfreund und hatte mit seinen Schülern hinter der Schule einen Lustgarten angepflanzt.
Je unterbrochen wurde sein Schaffen 1919 durch ein Tribunalgericht der Bolschewiken, die ihn und noch mehrere hervorragende Persönlichkeiten des Dorfes willkürlich verhafteten und zum Tode verurteilten. Auf dem Weg zum Erschießen wurde der Vater durch massiven Einsatz seiner Schüler zurückbeordert und in Gefangenschaft nach Kukkus gebracht. Ausgezehrt und krank wurde er 1920 vom Bruder meiner Mutter[1]aus der Haftanstalt herausgeholt und zu seiner Familie gebracht, die nach seiner Verhaftung mit den Kindern im Elternhaus der Mutter, bei ihrer Schwester, verheiratete Thiessen[2], wohnte. Mit diesem Haus und der da wohnenden Thießenfamilie  hatten wir enge Verbindung, besuchten einander sehr oft. Auf diese Weise war mir Köppental sehr ans Herz gewachsen und der Wohnort in Orloff blieb zweitrangig. Mein Vater hatte eine Gelegenheit gefunden mit einem Fuhrwerk zurück nach Hause zu kommen. Aus diesem Zuhause machte ich das Beste, was zu machen war: Im Sommer nützte ich den großen Hof zum wilden Steckenpferdjagen und im Winter bei enormen Schneeschanzen wurde ich nicht müde mit meinem kleinen Schlitten zu fahren und zu rodeln. Im Zimmer beschäftigte ich mich viel mit Bilderbüchern, die aus Preußen stammten. Husaren, Dragonen, Kürassiere hatten eine große Anziehungskraft für mich, aber auch Mutters Gesang und Erzählungen hinterließen tiefen Eindruck. Ein Lied aus jener Zeit saß fest im Gedächtnis:

„Weil ich Jesu Schäflein bin,
freu ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten,
der mich wohl weiß zu bewirten…“

Noch eine Leidenschaft hatte ich in diesen Vorschuljahren: Das Blättern im 16 bändigen Brockhaus Konversationslexikon. Hier hatte ich auch viel Freiheit und suchte alle mir bekannten Haustiere heraus und besonders, dieses war meine Leidenschaft, die Pferde: Belgisches Lastpferd, arabisches Vollblut, Trakener, Orlowtraber, Ponis usw… Wir hatten keine Pferde, aber ich brannte darauf, wenigstens ein lebendes Pferd zu betasten und mit ihm zu tun haben.
Dieses kam später, jetzt war mein Schulalter gekommen und 1925 drückte ich die Schulbank und sah meinen Vater als strengen und gerechten Lehrer täglich vor mir. Nun gab es eine Menge neuer Bekannter und besonders Jungs. Wiederum musste hier eine Hürde genommen werden, alle Jungen hatten halblange oder sogar lange Hosen, nur ich hatte Kniehosen und Kleidung, die etwas abstach von den gewöhnlichen Kleidern der Dorfkinder. Hinzu kam, was jedoch gut klappte, dass ich jetzt nicht mehr Fritz, sondern Friedrich gerufen wurde. Das Lernen fiel mir sehr leicht, obzwar der Vater sehr genau darauf achtete, dass ich nicht bevorzugt wurde. Das ging soweit, dass ich Vaters Gerechtigkeit anzweifelte, weil er mir für meine bedeutend bessere Arbeit eine mittelmäßige Note wie meinem Nachbarn stellte. Es wurde mir später erklärt, aus welchen Rücksichten es geschah, und ich nahm es hin.
[1] Barbara Funk, geb. Quiring (27.05.1883- 18.03.1947), GRANDMA #1310369. AW
[2] Justine Thießen, geb. Quiring (29.04.1885- 12.12.1937), GRANDMA #1454143. AW

5

Nun hatte ich viele gleichaltrige Jungen, mit denen ich tobte und spielte und nicht zurückstand. Der wunde Punkt jedoch war für mich, dass alle zu Hause Pferde hatten und sich des öfteren mit ihnen tummelten und auch reiten durften. Eines Tages erschien plötzlich auf unserem Hof eine große Gruppe berittener Jungs, sie hielten am Zügel ein freies Pferd: „Das ist für dich, steig auf, wir wollen fort, in die Steppe reiten und auch galoppieren.“ Mein Vater erwog, besprach sich mit einem älteren Jungen wegen meiner Obhut, und ich schwang mich aufs Pferd und hielt mich mehr an der Mähne als am Zügel. Diese „Lützows wilde verwegene Jagd“ verlief ohne Unfall und mein Selbstwertgefühl war um eine Stufe gestiegen.

Wie schon erwähnt, befand sich gegenüber der Schule die Kirche. Jeden Sonn- und Feiertag kamen viele Wagen und sogar Kutschen zum Gottesdienst gefahren und ich beobachtete genau alle Pferde und ihre Gangart – bald kannte ich alle diese Pferde. Ich selbst ging mit Vater regelmäßig zum Gottesdienst. Wir saßen dort auf der Empore und ich konnte die versammelten Menschen, alle Vorgänge und die Redner auf der Kanzel genau beobachten. Alles prägte sich tief ein, besonders liebte ich den Chorgesang und das Spiel der Orgel…

1928 trat mein Vater als Lehrer ab, weil er die verschärften Vorschriften, besonders wegen Religionsunterricht und Heiligung der Feiertage, nicht mehr durchführen konnte und wollte. Ich ging noch ein Jahr bei seinem Nachfolger, einem jungen Lehrer zur Schule und dann blieb ich zu Hause. Das Schulhaus mussten wir räumen und zogen in das freigewordene Haus für die Betreuer der Kirche um. Die Eltern nahmen hier die Verwaltung und Betreuung der Kirche wahr, bis 1931 unser Bleiben im Dorf sein Ende fand. Diese letzten drei Jahre hatten jedoch in meiner Entwicklung sehr große Bedeutung. Zur Bearbeitung des Landes im kirchlichen Umkreis bekamen wir ein Pferd, Federwagen, Schlitten, Pflug und Egge. Endlich bekamen wir ein Pferd, es hieß Dunaj (Donau), das ich füttern, pflegen und mit ihm arbeiten und reiten durfte. Unter Vaters Anleitung verrichtete ich mit großer Hingabe Landarbeiten, machte viele Fahrten und lernte auf diese Weise die meisten am Anfang erwähnten Dörfer kennen. In Köppental war ich oft längere Zeit, dort konnte ich Schwimmen und Schlittschuhlaufen lernen, da gab es Wasser, das es in Orloff als Fluss oder Teich eben nicht gab. Zudem hatten wir in Köppental den sogenannten „Hammsgarten[1]„, der ein Erbe meiner Mutter war. Außer wuchtigen Maulbeerbäumen wuchs in diesem Garten nur Futtergras. Dieses Land war alle Jahre verpachtet, aber wir mit unseren Thiessenverwandten und ihren Gespielen tummelten uns dort sehr oft.

Noch einer anderen Leidenschaft konnte ich in den letzten Jahren in Orloff frönen – während den Aufräumarbeiten im Kirchraum kletterte ich auf das Dachgeschoß. Hier hausten eigentlich nur viele Dohlen, vor denen man keine Angst haben brauchte. Ich durchstöberte den ganzen großen Dachgeschoßraum und fand eine „Schatzkiste“, öffnete sie und beförderte aus ihrem Inhalt eine Menge Bücher und Broschüren. Ich schleppte einen Teil herunter, Vater sortierte sie und für mich blieb eine Menge May’s Indianergeschichten und Beschreibungen der Kämpfe der Buren mit den Engländern und den Einheimischen Südafrikas. Leidenschaftlich las ich in diesen Büchern und meine Mutter hatte ihre liebe Not, den mit Federschmuck, Pfeil, Bogen und Tomahawk ausgestatteten Jungen wieder an unwürdige kleine Tagespflichten zu
[1] Wahrscheinlich gehörte der Garten früher der Familie Hamm. AW

6

bekommen! Unter dem herabgeschleppten Bücherschatz wurde jedoch der größte Teil der Bücher vom Vater für das reifere Alter meiner Schwestern heraussortiert, zu denen ich offiziell keinen Zugang hatte, inoffiziell jedoch las ich manche, die mir eine Vorstellung von Aristokratie und Herrscherfamilien vermittelten. 1924 wurde in Orloff noch eine Schwester Erna geboren.

Skizze der Kolonie Am Trakt. Gezeichnet von Johannes J. Dyck

7

Barbara und Johannes Funk, meine Eltern, 1917

Johannes Funk, geb. den 30. Dezember 1883 in Lindenau. Beruf: Oberlehrer der Zentralschule. Die Fotografie stammt aus St. Petersburg im 1. Weltkrieg, wo mein Vater als Sanitäter den Kriegsdienst ableistete und Mutter ihn besuchte.

Barbara Funk, geb. Quiring, geb. den 27.Mai 1883 in Köppental.

8

Unsere Familie vor der Lehrerwohnung in Orloff, 1928, v.l. Mutter, Schwestern Marie, Barbara, Anna, Helene, Erna auf Vaters Schoß und Friedrich.

9

Mennonitenkirche Orloff
Mein langjähriger Platz neben dem Vater oben auf der Empore.
Hier ist die Kirche zu Pfingsten geschmückt.

10

Das Elternhaus meiner Mutter in Köppental, in dem wir zeitweilig, während der ersten Gefangenschaft des Vaters im Jahr 1921 wohnten.
Nach Sjurjukin gehörte dieses Haus in Köppental Johannes des Joh. Thießen. AW
Rechts im Bild die Zentralschule in Köppental, mein Geburtshaus

11

KAPITEL 2
Flucht nach Mittelasien und das Leben in Ak-Metschet bei Chiwa, Usbekistan
1931 – 1935

1931 wurde unser Bleiben in Orloff und überhaupt in der Besiedlung unmöglich gemacht, weil die politische und wirtschaftliche Lage wegen der forcierten Kollektivierung, sich immer mehr zuspitzte. Bei Nacht und Nebel brachten uns Freunde mit Sack und Pack zur Bahnstation. Von dort ging die Reise mit vorbestellten Fahrkarten im Zug Richtung Mittelasien. Nach einigen misslichen Zwischenfällen kamen wir in Tschaftshuj an. Das Endziel war inzwischen festgelegt – die mennonitische Siedlung Ak-Metschet bei Chiwa – und wir stiegen in einen Schleppkahn ein und stromabwärts auf dem Fluß Amu-Darja, mit mehreren Auffahrten an Sandbänke, ging die Reise nach Urgentsch in Usbekistan. Dort wurden wir mit Sack und Pack auf Arben mit großen Rädern verstaut, und sehr, sehr langsam ging es weiter bis Chiwa, und nach einer Verschnaufpause nach Ak-Metschet. Hier wurden wir von Schwester Anna empfangen, die vor einigen Jahren hierher geheiratet hatte. Ihr Mann, Hans Töws, war Dorfschullehrer und wir zogen bei ihm in das Lehrerhaus ein. Hier war die Sowjetentwicklung einige Jahre zurück, Schule und Kirche standen unter Selbstverwaltung, und bald wurde Vater als Lehrer angestellt. Schwager Hans war froh, sich der Landwirtschaft zu widmen und für mich fing eine neue Etappe an.
Unter meiner Fürsorge stand nicht nur ein Schäfchen und ein Pferd, sondern auch ein Esel. Zu diesem Esel, der eigentlich etwas ganz Neues für mich war, entwickelte sich ein besonders gutes Verhältnis. Er trug mich wohin ich wollte und blieb treu stehen, wenn ich Arbeit zu verrichten hatte oder beim Spiel mich länger aufhielt. Das Pferd war der treue Mitarbeiter, mit ihm wurden Lasten gefahren und Landarbeiten gemacht. Die Landwirtschaft war hier ganz anders, als an der Wolga, es gab nur kleine Parzellen und die mussten künstlich bewässert werden.
Zur Schule brauchte ich nicht zu gehen, hatte dafür aber Zutritt zu reichen Privatbibliotheken, wo es außer Welt- und Kirchengeschichte eine Menge Bücher für verschiedene Fächer gab. Mein großer Vorteil war, dass ich einen Vater hatte, der beliebige Fragen klären und ergänzen konnte. Nach Vollendung des 14-ten Lebensjahres durfte ich lange Hosen tragen und wurde ein Jungerwachsener. Ich freundete mich mit einem Jungen an, der zwar zwei Jahre älter war als ich, aber in unserer Entwicklung und unseren Interessen hielten wir uns die Waage. Nur eines hatte er mit voraus – er hatte eine siebensaitige Gitarre und spielte sehr gut. Jede freie Stunde verbrachten wir bei ihm oder an irgend einem lauschigen Ort, und er brachte mir das Gitarrenspielen bei und lieh sie mir auch immer wieder aus. In unserem Haus war zwar immer ein Fußharmonium, und die Mutter und die älteren Schwestern spielten sehr gut, aber Saiteninstrumente hatte ich noch nie gesehen. Gänzlich unerwartet nahm Vater einmal die Gitarre zur Hand und erinnerte sich an sein Gitarrenspiel als Student, das er später dann gelassen hatte. Was ich von ihm dann hinzulernen konnte war nicht viel, aber ich kann es heute noch! Mit meinem Freund
12
Jakob Klassen, er war auch ein guter Kunstdarsteller, lasen wir ungemein viele Bücher aus der deutschen Geschichte. Viele Gedichte konnten wir auswendig und bis heute ist „Der alte Barbarossa, der Kaiser Friedrich…“ lebendig im Gedächtnis.
Das Jungerwachsenensein hatte auch noch andere Folgen: Mein Freund Jakob hatte eine Cousine, richtiger zwei, eine etwas älter, die andere etwas jünger als ich. Beide spielten Gitarre und sangen gut. Die ältere, sie hieß Liese, warf ein Auge (oder zwei) auf mich und ihre blauen schmelzenden Augen und der lockige Blondkopf verfolgten mich viele Jahre und verursachten einen leicht federnden Gang. Praktisch sah es so aus, dass wir eine Gruppe von sieben Mädels und Jungs uns hin und wieder zu gesellschaftlichen Spielen und ausgedehnten Wanderungen trafen, aber von intimer Liebe war nie die Rede. Nach zwei Jahren fuhren die Eltern von Liese nach Kirgisien und beim Abschied im unbewachten Moment gaben wir uns den ersten, und dank der verworrenen Schicksalswege letzten Kuss. Außer Liebesbriefen gab es kein Wiedersehen mehr…
Wichtig für mich war ein Lehrgang in deutscher und russischer Sprache, den mein Vater mit einer Gruppe lernwilliger Jünglinge durchführte. Ich durfte teilnehmen. Ich erlernte die kyrillische Schrift und etwas Russisch lesen, von sprechen konnte kaum die Rede sein. Nach dem Wunsch der Eltern und im Blick auf die sich türmenden politischen Gewitterwolken über dem friedlichen Dorf Ak-Metschet, sammelte sich eine Gruppe Jugendlicher, ich war der jüngste unter ihnen, um einen gründlichen Bibelunterricht und Vorbereitung zur Taufe durchzuführen, weil die Lehrer hierfür noch da waren. Das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und mancher Bibelspruch blieben sehr lange haften.
Immer öfter erschien im Dorf ein hochrangiger Vertreter des Sicherheitsdiestes (KGB) und warb für Kollektivierung. Er war ein russischer Jude und sprach gut deutsch. Die einheimischen Dörfler hatten jedoch eine Menge Beweise für die negativen Folgen solcher Kollektivierung und weigerten sich einheitlich gegen solche Maßnahmen, sogar dann, als schon 50 Männer im Gefängnis isoliert wurden. Dieser Mann hatte es auch auf den Jungerwachsenen Friedrich Funk abgesehen und lud ihn immer wieder zu persönlichen Gesprächen ein, wobei er mir die glänzendsten Versprechungen machte: Im flotten Auto zu fahren, Hochschule besuchen zu können und ein sorgloses Leben als sein Adoptivsohn zu führen. Ich weigerte mich entschieden und offenbarte diese Gespräche bald den Eltern. Der Vater wurde verhaftet. Davor fand noch die Taufe der vorbereiteten Gruppe statt. Die Taufe war eine Besprengungstaufe, danach war eine allgemeine Fußwaschung in der Gemeinde. Als Gehorsamsakt machte ich alles mit, ohne jedoch irgendwelche geistliche Bereicherung empfangen zu haben. Mein Freund Jakob verließ das Dorf, fand in Chiwa Arbeit und wir sahen uns nicht mehr. Später erfuhr ich, dass er 1938 wegen „Kontrarevolution“ erschossen wurde.

13

Links Schule und Lehrerhaus, rechts im Hintergrund die Kirche in Ak-Metschet.
Eine Schulklasse im Jahr 1933-1934 mit Lehrer Hans Töws und seiner Frau Anna, meiner Schwester

14

Jungerwachsene in Ak-Metschet: Friedrich, Gerhard, Jakob.
Mein Busenfreund Jakob Klassen, der im Alter von 22 Jahren erschossen wurde.

15

KAPITEL 3
Zwangsaussiedlung nach Tadshikistan und die Gründung der Siedlung Nr.7 im Wachschatal 1935 – 1942

1935, im Mai Monat wurde das ganze Dorf mit den nur allernötigsten Sachen und Produkten (Lebensmitteln) auf eine ganze Armade von Lastwagen verladen und nach Urgetsch zur weiteren Transportierung gebracht – Möbel, Vieh, kurz alles Hab und Gut blieb zurück. In Urgentsch wurden die verhafteten Männer, außer acht, darunter mein Schwager Hans Töws, zu den Familien entlassen. Mein Vater kam auch zu uns. Danach wurden alle auf einen Dampfer verladen und es ging den Amu-Darja stromaufwärts nach Tschartschuj. In Tschartschui wurden alle in Güterwaggons umgeladen und per Zug ging die Zwangsaussiedlung weiter bis nach Tadshikistan.
Ausgeladen wurden wir in der Siedlung Duschanbe, die später in Stalinabad umbenannt wurde. Nach einer Verschnaufpause wurden Gepäck und Personen wiederum in LKWs aufgeladen und los ging die Fahrt über schmale Wege in schwindelnder Höhe durch die Berge in das Wachschatal – eine fruchtbare Ebene, nicht weit von der afghanischen Grenze. Hier wurden wir bei sengendem Sonnenschein ausgeladen. Ringsum kein Baum, kein Strauch, kein Wasser, keine Unterkunft. Dann brachte man Zelte, Spaten und andere Werkzeuge, und die Sklavenarbeit begann. Erstens musste ein Kanal gegraben werden, um Wasser in die Siedlung fließen zu lassen. Das Wasser war sehr sandig und man musste erst Teiche ausgraben, damit es abklären konnte um es dann als Trink- und Waschwasser gebrauchen zu können. Kaum waren nun alle in den Zelten untergebracht, als man schon zur Feldarbeit trieb. Es war Ende Mai, und noch in diesem Herbst sollte die erste Baumwollernte eingebracht werden. Zugeordnet wurden ein Kommandant und ein Agronom, die in einer Jurte einquartiert wurden. In einem kleinen Holzladen wurden Produkte zugestellt und auf unzähligen kleinen Herden kochte ein jeder etwas.
Wie schon anfangs erwähnt, bekam diese Siedlung die Nr.7, und weil wir nur Deutsche waren, den Namen „Thälmann“. In einer Versammlung wurde eine Kolchose ausgerufen, ein Vorsitzender und ein Buchhalter aus den eigenen Reihen angestellt. Mein Vater wurde Buchhalter, wir alle anderen Familienmitglieder waren Landarbeiter. Außer den Landarbeiten mussten sofort auch die Bauarbeiten beginnen mit dem Ziel, dass nicht nur eine Baumwollernte eingebracht, sondern auch Lehmhäuser mit Schilfrohrdächern bis zum Winter stehen müssten. Pausenlos wurde geschuftet bei sehr eintöniger Kost. Im Herbst wurde auch eine deutsche Grundschule eingerichtet und eine Lehrerin eingestellt, die sich mit den Bedingungen des Schulamtes einverstanden erklärte. Bei ihr lernte meine Schwester Erna. Es war im Vergleich zur gediegenen Lehrweise meines Vaters nur sehr stümperhaft.
Ich profilierte mich in der künstlichen Bewässerung und wurde bald Vorarbeiter. Im nächsten Jahr wurde noch eine größere Zahl von Russen zugesiedelt und bei ihnen wurde ich als Instrukteur für künstliche Bewässerung angestellt. Mein großer Vorteil
16
war, dass ich nun russisch sprechen musste und konnte hier auch Fortschritte erzielen. Der Lehrgang bei meinem Vater in Ak- Metschet war eine gute Vorbereitung gewesen. Ein Kindergarten wurde auch eingerichtet und da nun auch einige russische Kinder hinzukamen, lernten diese daselbst Deutsch, weil alle Mitarbeiter Deutsche waren. Das Miteinander war gut, gut war aber auch die Geschlossenhet der deutschen Siedler. Einige Zeit konnten sie noch Gottesdienste durchführen. Dann ging es aber bald rapide zum Einfrieren dieser Rechte. Zwei Frauen wurden wegen brieflicher Verbindung mit dem Ausland und zwei Ehepaare wegen Verweigerung der Sonntagsarbeit verhaftet und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Siedlung verbesserte ihre Wohnverhältnisse, dank eigener kleiner Gärten wurde die Ernährung besser, und der allgemeine Lebensstandard stieg durch gute Ernten. Das Land war sehr fruchtbar und die künstliche Bewässerung erhielt ein bedeutendes Niveau. Ich hatte jedoch das endlose Schuften satt, und der Gedanke an Weiterlernen ließ mich nicht los. Es gab auch absolut keine Perspektiven, wir waren in einem bestimmten Bezirk eingeschlossen und konnten nirgends hinkommen. Was konnte man auf einen Liebesbrief aus Kirgisien antworten, außer der Bestätigung, dass wir uns liebten?
Eines Tages im Sommer 1936 ging ich mit Vater zur Bezirksoberschule und wir erkundigten uns über ihre Kapazität, Lehrinhalte und Aufnahmemöglichkeiten. Vater wurde als Gesprächspartner anerkannt und sehr geschätzt, auch er fand die Anfänge und Perspektiven der Oberschule und bereits vorhandener Lehrer gut, und trotz meiner schwachen Russischkenntnisse wurde ich für den Beginn des neuen Schuljahres angenommen. Es gab auch aus anderen Siedlungen einige Anfänger und wir wurden in einer Baracke „Internat“ untergebracht. Für unsere Beköstigung gab das Schulamt eine Genehmigung täglich etwa 0,6 kg Brot zu erhalten, das Übrige mussten wir uns selbst beschaffen.
Der Einstieg vollzog sich reibungslos, ein halbes Jahr hatte ich den Status eines Gasthörers, der jedoch pünktlich zu jeder Stunde und für beliebige Maßnahmen da sein musste. Noten stellte man mir keine, aber das Vertrauen wuchs merklich. Russische Literatur und darunter Materialien über die Geschichte der Kommunistischen Partei hatte ich vollauf und bis zur halben Nacht las und studierte ich, wiederholte das Gelesene, nahm jede Gelegenheit zum Erzählen wahr. Ich wurde kein schlechter Erzähler und als ich im nächsten 1937 Jahr voll eingeschult wurde (die Diktate gerieten mir sofort gut), fing es mit guten Noten in allen Fächern an und mit „sehr gut“ vollendete ich das Schuljahr 1937. Sport liebte ich sehr, nahm an allen Wettbewerben teil und erhielt manche Auszeichnungen. Nebenbei lernte ich tanzen und wurde ein flotter Tänzer.
Jedes Wochenende ging’s zu Fuß 11 km nach Hause ins Dorf „Thälmann“. Ich hatte mir eine Gitarre erworben und jedes Wochenende brachte ich auf Bestellung eine für die Dorfjugend mit. Bald war ein kleines Saitenorchester organisiert und es wurden Volkslieder geübt und gesungen. Noch eine Gruppe Deutscher war hinzugesiedelt worden, die in der Ethik etwas großzügiger waren als die sogenannten Ak Metscheter. Unter diesen war ein Mädel, die sehr flott tanzte und es kaum abwarten konnte bis ich wieder im Dorf erschien. Wir tanzten mit Genuß Polkas und Walzer
17
und versuchten sogar eine kleine Aufführung zu inszenieren. Den superkonservativen Ak-Metschetern war dieses ein Dorn im Auge und ich wurde langsam ein „Außenseiter“. Voll anerkannt wurde ich als gelegentlicher Lehrer in der weiter bestehenden deutschen Dorfschule. Beordert wurde ich vom Bezirksschulamt, wo ich eine erwünschte Vertrauens- und Vermittlungsperson war. In der Schule im Dorf fiel mir ein dunkelblondes zierliches, sehr begabtes Mädel mit dem Rufnamen „Trauti“ auf. Sie war 9 Jahre, ich 19 Jahre alt. Viele Jahre später erschien sie wieder im Blickfeld…
Das Studium in der Oberschule ging intensiv weiter, die kurzen Unterbrechungen brachten keinen Nachteil. In der Schulverwaltung nutzte man mich für verschiedene Zwecke: Ich war verantwortlich für das Schullabor, für die Erscheinung der Schülerzeitung, dem Komsomol (Kommunistische Jugendorganisation) beizutreten lehnte ich immer wieder ab, und man nahm es hin.
Im Dorf Thälmann zogen wieder Gewitterwolken auf. 1938 wurde mein Vater, zwei Onkel und ein Schwager und noch mehrere Männer des Dorfes verhaftet, als Konterrevolutionäre angeschuldigt, verurteilt und auf Nimmerwiedersehen in den „Gulag“ verbannt. Einmal konnte ich meinen Vater vor der Verbannung noch sprechen und sein Vermächtnis an mich war: „Junge, lerne!“ Die materielle Lage. unserer Familie und der Dörfler war relativ gut. Meine Schwestern gaben mir sogar Geld um ein Klavier im Bezirk zu beschaffen, was auch wirklich gelang. Die älteren Schwestern Marie und Anna hatten beide ihre Männer im „Gulag“ und wohnten bei meiner Mutter. Marie hatte zwei Töchterchen. Schwester Helene und die jüngere Schwester Barbara hatten geheiratet und wohnten auch im Dorf. Die jüngste Schwester Erna kam später auch in das Internat im Bezirk und lernte in der Oberschule. Um meinen Lebensunterhalt zu haben, arbeitete ich einige Stunden am Tag; einmal in der Apotheke, dann in der Bezirksbibliothek, in den Ferien im Bezirksschulamt und anderes mehr.
Plötzlich hatte ich eine Einladung zum Sicherheitsdienst, das KGB wollte mich als Mitarbeiter mit „Zuckerbrot und Peitsche“, genauer mit vorgehaltenem Revolver anwerben. Nachdem sich dieses mehrmals trotz meiner Ablehnung wiederholte, stellte ich ein mehrseitiges Protestpapier auf, in welchem ich diese schändliche Methode anprangerte und beweisen wollte, dass sie mit der Ideologie des klassischen Kommunismus nicht zu vereinbaren sei. Danach wurde ich in Ruhe gelassen, studierte weiter, absolvierte als bester Schüler die Oberschule.
Im Jahre 1941 absolvierte ich die zehnklassige Oberschule mit guten und sehr guten Zensuren und konnte in keine Hochschule eintreten, weil wir aus dem Zwangssiedlungsgebiet nicht entlassen wurden. Weil ich gleichzeitig mit der
Absolvierung der Oberschule einige Semester im Fernstudium in dem Moskauer Fremdspracheninstitut beendet hatte, beorderte das Bezirksschulamt mich als Lehrer der deutschen Sprache in die Oberschule der Siedlung Nr.9, etwa 3 km. vom Dorf Thälmann entfernt. Auf diese Weise wohnte ich wieder bei der Mutter und den Schwestern und pendelte mit dem Fahrrad täglich zur Schule. Nach den Verhaftungen 1938 wurde die Muttersprache in der Grundschule als Unterrichtssprache verboten und Russisch als Unterrichtssprache obligatorisch
18
eingeführt. Von gottesdienstlichen Versammlungen konnte nicht mehr die Rede sein. Es wurde ein Klubraum eingerichtet, den die Jugend zu Gemeinschaftsspielen, Musik und Tanz nutzte.
Mit Beginn des Krieges im Herbst 1941 gingen die meisten Lehrer zum Wehrdienst und es entstand eine unheilvolle Lücke. Den 7. März 1942 wurde ich zum Dorfkommandanten gerufen und dort saß ein unheimlich Bekannter vom KGB mit einer Order zu meinem Arrest. Im Beisein meiner Mutter wurde ihr ganzes Haus durchwühlt, um Beweismaterial für meine Schuld zu suchen. Viel Papierkram wurde gesammelt, aber meine Abschlussdokumente und zahlreiche Belobigungen von der Oberschule und dem Schulamt fanden sie nicht. Draußen warteten schon bewaffnete und berittene Milizen und ich wurde aus den Armen meiner trostlosen, in Ohnmacht gefallenen Mutter hinausgestoßen, in einen Wagen gezerrt und in das Bezirksgefängnis gebracht.
19

Als Schüler der 9. Klasse der Oberschule im Bezirk Molotowsk, 1939, vorne, dritter von rechts.
Kurz vor meiner Verhaftung mit Mutter und Schwester Erna im Dorf Thälmann im Waschatal, 1941. Nach dem GULAG traf ich beide nicht mehr am Leben an.

20
21

KAPITEL 4
Untersuchungshaft 1942 – 1943

Die ersten Gefühle nach der Verhaftung waren eine Erleichterung von Spannungen, ungewissen Erwartungen der letzten Zeit. Ein Schüler der Oberschule vertraute mir an, dass er wegen mir zum KGB gefordert worden war und unter hartem Druck ein Papier „harmlosen Inhalts“ unterschrieben hatte. In der Schule kam es öfter vor, dass ein Hakenkreuz auf meine Kleidung geschmiert wurde und dergleichen Dinge mehr. In eine Kammer mit fahlem Licht gestoßen, beschaute ich die getünchten Wände, an welchen manche Verse geschrieben waren. Einen behielt ich sofort und für lange Zeiten: „Wer hier noch nicht gewesen ist, wird irgendwann hineinkommen, wer jedoch gewesen ist, wird es nimmer vergessen.“
Mein Untersuchungsrichter war ein älterer, gestandener KGB-Mann, der in höflicher Weise, aber sehr zielstrebig die Schuldzuweisung „Antisowjetische Agitation unter den Lehrern“ zu begründen und in krasser Weise niederzuschreiben bestrebt war. Er eilte nicht, ließ mich des öfteren unter Bewachung ins Untersuchungsgefängnis der 50 km entfernten Gebietsstadt Kurgan-Tjube bringen, wo ich Tage oder Wochen mit anderen Untersuchungshäftlingen verweilte. Die Verhöre fanden in der Regel in den Abendstunden statt und wurden dann kritisch, wenn ich zu kategorisch seine Aufzeichnungen widerlegte. Unter seinem Tisch lag immer ein gewaltiger Schäferhund, der sich erhob und sogar seine Pranken auf meine Knie legte, wenn mein Ton erregt und laut wurde. Als ich wieder einmal aus dem Gebietsgefängnis zum Verhör in den Bezirk gebracht wurde und auf meinem Platz gegenüber dem Untersuchungsrichter saß, trat auf einmal seine Tochter mit einem Präsentierteller mit Tee und Essen herein und bot mir freundlich an, mich frei zu halten. Ich lehnte es nicht ab, kannten wir uns doch sehr gut aus gemeinsamer Arbeit im Schülerkomitee. Mein Eindruck war, dass mein Untersuchungsrichter zusätzlich Zeugen und Material zu beschaffen hatte, um das Strafverfahren zu einem Abschluss zu bringen. Dieses mal schaffte er es noch nicht. Den anderen Tag wurde ich wieder mit höflicher Bewachung in das Gebietsgefängnis gebracht. Dort war jedes mal, immer wieder die demütigende Leibesvisitation, ehe man wieder in die Kammer für Untersuchungshäftlinge gesteckt wurde.
Hier hatte der Tag schon seine übliche Reihenfolge: Aufstehen, Frühstück, drei Partien Domino oder Schach, Mittagessen, Spaziergang im Gefängnishof, wieder Schach, Domino oder Lesen der vorgeschriebenen Literatur, Abendbrot, Unterhaltung und sogar Vorträge, wenn unter den Untersuchungshäftlingen jemand war, der etwas zu bieten hatte, dann Signal zum Schlafengehen. Welcher Art waren nun diese Untersuchungshäftlinge, die ich nur einmal, paarmal oder immer wieder antraf? Erstens waren alle älter als ich, zweitens hatten sie alle denselben Artikel 58 des Strafgesetzbuches der UdSSR erhalten. Nenne nur einige: drei Russen, früher zu den Menschewiken[1] gehörig; ein alter kasachischer Mullah (Geistlicher); zwei deutsche Biedermänner, einer mit Abstammung aus Bayern, Vetter Hannes, der andere ein gewiefter Geschäftsmann, aus Hessen stammend; ein jüdischer Zionist,
[1] Menschewiken eine Fraktion der SDAPR Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, deren zweite Fraktion – Bolschewiken zu Kommunistischen Partei der Sowjetunion wurde. AW

22
mit polnischer Abstammung; ein Georgier, aus Tiflis stammend, zuletzt Oberarzt in der Gebietsstadt gewesen, wo sich das Gefängnis befand, in dem wir uns nun gut kennenlernten.
Besonders gute Beziehungen hatte ich mit dem Georgier, wir machten regelmäßig Morgengymnastik und er war es auch, der öfter Vorträge hielt. Einige unseres Wachpersonals kannten ihn als Arzt und dadurch gab es Rücksichten auf unsere Kammer. Trotzdem wurde ich eines Tages zur Verwaltung gerufen und mir wurde bekannt gegeben, dass ich wegen Verletzung der Gefängnistagesordnung zwei Tage in den Karzer gesteckt würde. Im Karzer sein heißt; in einem Betonraum bei 0,1 kg Brot und einem Liter Wasser pro Tag, ohne Sitz- und Liegemöglichkeit barfuß umhertappen bis die Frist abgebüßt oder du bewusstlos rausgeschleppt wirst. Viele der mir bekannten Untersuchungshäftlinge bekamen Essübergaben von Verwandten und diese wurden mit den übrigen geteilt. Nach dem Karzer (wiederum eine fürchterliche Demütigung) erholte ich mich schnell und machte mit meinem Georgier weiter Gymnastik. Mein Vorbild in dieser Sache war Ben Hur, der auch als Jüngling verhaftet wurde, auf die Galeeren verbannt hart rudern musste und immer die Ruder wechselte, um das Körpergleichgewicht zu erhalten. Er gab die Hoffnung auf Freiheit und ein normales Leben nie auf.
Eines Tages, etwa ein Jahr nach meiner Verhaftung, wurde ich wieder zum Untersuchungsrichter in den Bezirk gebracht. Es sollte das letzte Verhör sein. Der Untersuchungsrichter schob mir eine gewichtige Akte zu und sagte, dass ich sie in Ruhe durchlesen könne. Eigentlich war mir durch die Verhöre, durch die vielfältigen Gespräche mit vielen Untersuchungshäftlingen längst klar geworden, dass man mich isolieren würde, d.h. in den Gulag verbannen. Trotzdem las ich aufmerksam alles durch und staunte nur, wer sich zu Zeugen hatte anwerben lassen – es waren Freunde und Kollegen aus der Schule, denen ich es nie zugetraut hätte. Gleichzeitig durchschaute ich auch die Taktik des Untersuchungsrichters und des Systems, dem er diente. Ich weigerte mich nicht länger, wie ich es vorher immer wieder demonstriert hatte, meine Unterschrift unter die Akte zu setzten und hiermit den Abschluss zu besiegeln. Er eröffnete mir, dass meine älteren Schwestern in einem Zimmer auf mich warteten und ich zu ihnen gehen dürfte. Der Abschied war kurz und schmerzlich, sie übergaben mir noch wärmere Kleidung, etwas Essvorrat und die Grüße der Mutter. Ich drückte meine Überzeugung und Hoffnung aus, dass dieses Verfahren mit dem Krieg mit Deutschland verbunden sei, und seine Beendigung mir wieder Freiheit bringen würde.
Den nächsten Tag wurde ich in das Gebietsgefängnis gebracht, wo ich von meinen Freunden neugierig empfangen wurde. Es dauerte noch etwa drei Monate bis man mir durch die Gefängnisverwaltung bekanntgab, dass eine Sonderkommission in Moskau in meiner Abwesenheit mich zu 10 Jahren Gulag verurteil habe ohne Konfiszierung von Hab und Gut. Briefwechsel war nicht untersagt. In gewissem Sinne waren die Würfel gefallen und ich bereitete mich innerlich auf Etappen eines Gulagslebens vor. Ich berichtete meiner Mutter und den Schwestern vom gefällten Urteil und Schwester Anna kam ins Gebiet gefahren um mich noch einmal, obzwar aus Entfernung, zu sehen. Ich wusste um die Sorgen, Tränen meiner Verwandten, aber
23
auch von den unermüdlichen Gebeten meiner Mutter. Unwillkürlich wünschte ich weit weg zu sein um mein Schicksal allein zu bewältigen.

Der Georgier Gwasalija Alexnder, mein bester Freund Leidensgenosse im Untersuchungsgefängnis in Kurgan-Tjube, 1942. Nach dem GULAG trafen wir uns noch mal und begrüssten uns wie die besten Freunde – wir hatten überlebt.

24

KAPITEL 5
Verschiedene Etappen im Gulag 1943 – 1952

Im August 1943 ging es im Lastwagen nach Stalinabad zur Formierung einer größeren Gruppe für einen Ferntransport. In der Stalinabader Etappenstation erhielt ich schon den Vorgeschmack für viele noch folgende Etappenstationen; absolute Willkür in der Unterbringung, das Ausgeliefertsein an kriminelle Typen, die sogar die Kleider vom Leibe reißen und Lumpen als Ersatz hinwarfen und Essbares verschwinden lassen, ohne dass das Wachpersonal Notiz davon nimmt.
Die Weiterreise vollzog sich in überfüllten Güterwagen mit Etappenration, bestehend aus etwas Brot und ausgerechnet gedörrten salzigen Fischen, die einen gierigen Durst auslösten, ohne dass man viele Stunden Wasser zu trinken bekam. Die erste Endstation erreichten wir im Spätherbst, es war ein Eisenerzkombinat bei Aktjubinsk in Nordkasachstan. Der Übergang aus dem heißen Tadshikistan in das kalte stürmische Kasachstan hinterließ die ersten Spuren, die harte Arbeit mit Zimmerleuten an freier Luft, oft in schwindelnden Höhen bei äußerst schmaler Kost, tat das ihre dazu und nach einem Jahr war ich völlig ausgezerrt und auf Haut und Knochen heruntergekommen. Ich wurde vom Lagerartzt in das Lagerlazarett eingewiesen und wurde sehr aufmerksam von der Ärztin beobachtet und befragt. Eines Tages sagte sie mir: „Junger Mann, sie müssen wissen, dass es hier keine Mutter auch keine Pflegeschwestern gibt, wenn sie noch leben wollen, müssen sie selber vieles ändern, auch in ihrem Verhalten zu den Lagergegebenheiten“. Sie war eine Deutsche, obzwar mit russischem Namen und auch Gefangene. Sie verschrieb eine bessere Krankenkost, ließ mich lange in der Krankenabteilung liegen und bei der Entlassung ins allgemeine Arbeitslager verordnete sie auf unbestimmte Zeit leichtere Arbeit. Für meinen Ehrgeiz war dieses eine Demütigung, aber es ging ums Überleben. Bis dahin hatte ich in einer Brigade mit Fachprofil gearbeitet, war bemüht nicht zurückzustehen und glaubte auch an das Einhalten der Vergünstigungen für besonders gute Arbeit, die von der Lagerverwaltung ausgerufen worden war. Alles diente nur dem Ziel, alle Möglichkeiten an Kraft und Begabung herauszuholen. Die versprochenen Vergünstigungen waren leere Worte. Im Nachhinein verstand ich die Mahnung der Ärztin und war dankbar dafür.
Jetzt machte ich die verschiedensten Aushilfedienste und bekam, dessen ungeachtet, bessere Verpflegung als in der Brigade. Das Gefühl Aschenputtel zu sein demütigte, aber es gab die Chance zu überleben. Ein Ende des Lagerlebens war ja noch nicht abzusehen, alle verzweifelten Bemühungen durch besonders große Hingabe bei der Arbeit Kürzungen der Frist (dass ein Arbeitstag für zwei gelten konnte) waren umsonst, auch die Bittgesuche in den verschiedensten Lager- und Regierungsinstanzen blieben unbeachtet. Eine ermutigende Abwechslung in den eintönig dahinschleichenden Tagen waren die Briefe und seltenen Päckchen (sie zu erhalten war eine Tortur, weil viele Mitesser davon profitieren wollten) von der Mutter und den Schwestern. Ihre materielle Lage war schwierig, zudem wurde
Schwester Marie und Erna in die Arbeitsarmee weit in den Ural verschickt. Trotz
25
optimistischer Natur und Aufrechterhaltung der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Mutter, stiegen immer öfter Zweifel auf und nach etwa fünf Jahren Lagerlebens veranlasste mich ein Freund in einem Vermächtnisbrief an die Mutter die unumwundene Wahrheit der verflossenen Jahre zu schreiben, er würde seine Beziehungen nützen, dass der Brief ohne Zensur die Mutter erreiche. Ich tat es in Gedichtform und in russischer Sprache. Der Brief mit dem Gedicht erreichte wirklich die Mutter und sie trug ihn immer an ihrem Herzen, bis sie bald darauf starb – den 18. März 1947. Ihre Enkelin Ilse berichtete mir nach meiner Rückkehr darüber.
Ich war jetzt im 30-sten Lebensjahr. Physisch hatte ich mich wieder erholt und auch die Arbeitsverhältnisse entwickelten sich in eine Richtung, die nicht so erniedrigend waren und eine gewisse Befriedigung boten. Gewöhnlich war es mit Freunden, die in ihrem Beruf arbeiten konnten und mich als Gehilfen unter dem Namen Lehrling nahmen – Autoschlosser, Elektrotechniker, Bäcker usw. Diese Freunde waren alle älter als ich, waren aber sehr frei in ihren Gesprächen und Lebenserfahrungen und meinten, dass es an der Zeit sei auch mich auf ihr Niveau zu bringen.
Das Lager hatte viele Abteilungen: das allgemeine Lager für Männer, eine kleinere Lagerabteilung für Frauen, eine für das Wachpersonal. Alle mit Stacheldraht voneinander getrennt und nur durch eine Pforte mit Wächter in Verbindung mit der anderen Abteilung. Durch eine größere Pforte in der Männerabteilung gingen in Reih und Glied unter Posaunen – marsch alle Männer hindurch und weiter bis zum Arbeitsplatz. Etwa 12 m von der Männerabteilung war das Lager für deutsche Kriegsgefangene eingerichtet. Durch den mehrfachen Stacheldrahtzaun konnten wir einander beobachten. Mitunter waren wir auf dem Arbeitsplatz nicht weit voneinander getrennt. Einige Male wurde ich als Dolmetscher zu ihnen geführt und konnte dabei auch etwas Persönliches erfahren. Heimweh war der stärkste Drang unter ihnen. Versorgt wurden sie viel besser als wir, das Internationale Rote Kreuz wirkte dabei mit.
Jahrelang war ich nun in der Männergesellschaft, die im Vergleich zu mir ein ganz anderes Verständnis, besonders in Frauenbeziehungen, hatten. Ich teilte meine Pritsche mit einem Donkosaken. Er war nicht nur Elektrotechniker, sondern auch ein sehr guter Schneider. Er bastelte auch aus der Gefängniskleidung beinahe schicke Kleidung, in der man sich sehen lassen konnte, besonders wenn man mit dreißig Jahren seine einstige sportliche Figur wieder erzielt hatte. Es ergab sich nun, dass eines Samstagnachmittags im Klubraum der Männerzone ein Film gezeigt wurde, natürlich über die Errungenschaften der Sowjetarmee. Zu dieser Vorführung wurden auch die Frauen zugelassen und es bestand die Möglichkeit nicht nur in Entfernung durch den Stacheldrahtzaun sich zu grüßen, sondern auch nebeneinander Platz zu nehmen und Händchen zu halten. Neben mir saß eine schlanke Frau mit krausen dunklen Haaren, dunklen Augen mit langen Wimpern und feingeschnittenem Gesicht. Sie konnte Deutsch, war Dolmetscherin bei der Deutschen Wehrmacht gewesen, war auch nach dem Artikel 58 des Strafgesetzbuches der UdSSR verurteilt. Sie war ukrainische Jüdin meines Alters. Später haben wir uns noch manches Handküsschen durch den Stacheldrahtzaun zugeworfen, vereinzelt auch ein Zettelchen durch irgendjemand ausgetauscht. Zu einem Treffen kam es nicht mehr,
26
denn ich wurde aus diesem Lager weiter nach Sibirien verschickt. Aber eine Notiz machte ich mir:

Нет, не пал я от страданья;
гордо выдержал удар,
сохранил в душе желанья,
B тeлe – силy, B cepдцe – жap!

Нет, мне жизнь не надоела,
я жить хочу, я жить люблю,
душа не вовсе охладела,
утратя молодость свою.

Еще хранятся наслажденья
для любопытства моего,
для милых снов-воображенья,
для чувства пылкость, для всего!       Russisch. Übersetzung S. Anhang. AW

Die Zeit ging weiter, aber wie langsam im Vergleich mit den Jahren, die noch geblieben sind von der Urteilsfrist. Es hatte in den vergangenen Jahren mehrere Amnestien gegeben, es hieß – für junge Leute. Ich war niemals dabei, es galt für solche, die für Wirtschaftsfragen oder Diebstahl saßen. Auch schrieb ich Gesuche und Proteste an viele Machtinstanzen – alles ohne Wirkung. Durch immer wieder frisch Hinzukommende im Lager war man unterrichtet von den Vorgängen im Lande und auch im Ausland, vielleicht wahrheitsgetreuer als in beliebiger zensierter Zeitung, die wir als Gefangene nicht bekamen. Besonders viel erschienen von den Wlasowzer (Wlasow, General, der mit seinen Soldaten zu den Deutschen übergewechselt war). Ich dachte nun viel darüber nach, wie eigentlich jetzt meine Weltanschauung einzustufen sei? Ich kam zum Ergebnis, dass ich Freidenker sei, parteilos, überkonfessionell, mit leidenschaftlichem Wunsch volle Freiheit nach außen zu erlangen und ein neues Leben zu gestalten, dass meinen Idealen entsprach und dem Weltbild der Eltern verwandt blieb.
Meine jüngste Schwester Erna war nicht glücklich über manche briefliche Auseinandersetzung über die Vergangenheit, ich konnte sie aber nie mehr sprechen, sie starb im Jahre 1949 in der Trudarmee (Arbeitsarmee) mit 24 Jahren. 1948 wurde mir angekündigt, dass ich weiter nach Sibirien transportiert würde. Die Siebensachen waren schnell zusammengepackt und hinzu kam ein bedeutendes Säckchen mit getrocknetem Brot, dass aus der Frauenabteilung überreicht worden war. War dort scheinbar kein Unbekannter. Der Transport war nicht so schlimm wie derjenige aus Stalinabad nach Aktjubinsk, aber Schikanen gab es übergenug. Die Etappenstationen waren auch nicht viel besser als damals. Nach etwa zwei Monaten kamen wir nach Stalino (Nowokusnezk) und in Lastwagen weiter zum Bestimmungslager Abagur. Mein treuer Freund, der Donkosake Alexandrow, war auch in der Gruppe. In Abagur angekommen, wurden alle nach ihrem Beruf befragt und mein großer Fehler war, dass ich wahrheitsgemäß Lehrer angab. Mein Freund, Elektrotechniker, kam sofort in ein Sonderlager mit einem Reparaturkombinat und hatte es dort sehr gut. Ich blieb zurück und plötzlich steckte man mich mit einer großen Gruppe krimineller Typen in einen großen Karzer, um in ein Sonderlager tief in der Taiga gebracht zu werden.
27
Es war ein offenes Geheimnis, was dieses Lager bedeutete – ein Nimmerwiedersehen mit der normalen Welt. Vor dem Abtransport musste nach der Regel ein ärztliches Attest durchgeführt werden, ob man noch genügend Fleisch auf den Knochen habe um den Transport durchzustehen. In dem großen Karzerraum waren keine Sitz- noch Liegeplätze, dafür Blutspuren auf dem Fußboden, die ein Zeugnis dafür waren, dass hier jemand ermordet wurde. Übermüdet legte ich mich auf den Zementboden und schlief fest ein. Auf einmal merkte ich, dass ich von einigen Kriminellen umringt war und sie auf meinem Rücken Karten ausgelegt hatten und mit Hasart <Leidenschaftlich? AW> Karten spielten und oft ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurde. Ich hatte in den vergangenen Jahren schon mehrmals dem Tod ins Auge sehen müssen, war ihm bis dahin aber nicht zum Opfer gefallen, auch jetzt schlief ich wieder ein und am Morgen ging es zum Attest. Splitternackt defilierten wir an der Ärztin vorbei und ich merkte nur, dass sie bei meinem Namen aufschaute und sich eine Notiz machte. Gleich danach wurde ich in die Krankenabteilung gerufen und auf unbestimmte Zeit eingelegt. Alle übrigen der Gruppe wurden am selben Tag noch abtransportiert, tief in die Taiga, dass soviel wie ein Todesurteil bedeutete. Die Ärztin war eine Jüdin…
Mein Freund Alexandrow, der Donkosake, hatte erfahren, wohin ich geraten war und setzte alle Hebel in Bewegung um mich zu sich in die Lagerabteilung für Facharbeiter zu bekommen. Ich in der Krankenabteilung hatte Zeit gewonnen, es war nicht anzunehmen, dass bald wieder ein Transport in die berüchtigte Taiga formiert würde. In diesen Tagen erholte ich mich sichtlich, war im Vergleich zu den anderen auch durchaus nicht magerer gewesen, aber die Ärztin wollte und konnte mich bewahren vor diesem Transport. Etwa nach einer Woche kamen zwei bewaffnete Milizen zu der Krankenabteilung und bekundeten, dass sie mich in die Facharbeiterabteilung bringen sollten. An der Pforte erwartete mich Alexandrow und führte mich sofort zum Chef des Reparaturkombinats und bevollmächtigten Leiter dieser Sonderabteilung für Facharbeiter. Er nahm sich genügend Zeit um mich kennenzulernen, Alexandrow hatte scheinbar viel Gutes von mir erzählt. Das Gespräch fiel zufriedenstellend aus, d.h. was meine Person betraf. Die handwerklichen Fachkenntnisse musste ich noch erbringen. Darin hatte ich schon einige Erfahrungen aus Aktjubinsk. Erst kam ich als Geselle zum Schmiedemeister. Mit Händen voller Schwielen und mit zusammengebissenen Zähnen stand ich immer rechtzeitig am Amboß und wurde schließlich anerkannt. Dann kam ich zum Schlosser, er war Rußlanddeutscher, jedoch als Fahrer eines Oberst in der DDR gefasst und nach Sibirien geschickt. Er war Feinmechaniker und fertigte Handschellen. Dann war ich einige Zeit Fräser, danach Dreher und schließlich wurde ich zum Normierer für die Facharbeiter der großen Werkhalle eingestellt. Endlich konnte ich wieder mit Kopf und Schreibmaterial arbeiten und bemühte mich außerordentlich die Sache perfekt zu machen. Dieses gelang besonders wegen meiner praktischen Erfahrungen in den verschiedenen Berufen, niemand der Arbeiter konnte mir ein „x“ für ein „u“ vormachen.
Selbst das Leben hier war viel besser als in allen bis dahin gewesenen Lagerabteilungen. Die Küche war gut und die Speisen nicht so eintönig. Zudem konnte, wer es wünschte, ein kleines Stückchen Land urbar machen und Gemüse anbauen. Im Betrieb arbeiteten auch einige freie Bürger, die aber immer einen
28
Passierschein vorweisen mussten. Der Chef wusste von meiner Arbeit und stellte mir zwei Freie als Lehrlinge für die Normierungsarbeiten zu . Dann wurde einer als Werkhallennormierer angestellt und ich kam in das Zentralbüro des Betriebs als Obernormierer und Gehilfe des Geschäftsführers, der auch ein Freier war und in Rente ging. Der Briefwechsel mit meinen Schwestern und den herangewachsenen Nichten verlief ungestört und die Hoffnung auf ein Wiedersehen wurde immer realistischer. Ich war schon unbeschränkter Geschäftsführer mit vielen Vollmachten und dem vollen Vertrauen des Chefs.

29
Mitgefangene und Leidensgenossen in der Lagerabteilung
für Facharbeiter im Gebiet Kemerowo:

Mit meinem väterlichen Freund Alexandrov, dem Donkosaken, 1947.


Viktor Walter im Blumenbeet, das er in zusätzlicher Arbeit vor dem Zentralbüro gepflanzt hatte., 1950.
30
Das Gedicht an meine Mutter aus dem GULAG, auf Sandpapier im Jahre 1947 geschrieben. Nach vielen Jahren ist das Original, das meine Mutter stets bei sich trug, zu mir zurückgekehrt:

Das vollständige Gedicht in russischer Sprache und inhaltliche Übersetzung ins Deutsche befinden sich im Anhang

31
Die Entlassungspapiere aus den zehn Jahren Haft:

32

KAPITEL 6
Zeiten nach der Entlassung aus dem Gulag
1952 – 1954

Es kam der Tag – 7. März 1952, mit der offiziellen Entlassung aus dem Gulag. Der Chef hatte ein offenes Gespräch mit mir als Freund und Gönner. Er riet mir zu bleiben, denn die Wirklichkeit im Lande sehe so aus, dass ich als entlassener politischer Häftling nirgends so eine gute Anstellung bekommen würde. Ich dankte ihm für dieses großzügige Angebot (für Wohnung in der Nähe würde er sorgen), könne es jedoch nicht annehmen, weil ich vor mir und meinen Verwandten nicht verantworten könne, freiwillig da zu bleiben, wo ich als Gefangener jahrelang gewesen war. Bald bekam ich die Realitäten zu spüren. Man händigte mir zwar eine Bescheinugung aus, dass ich die zehn Jahre Freiheitsstrafe nach Urteil der Moskauer Sonderkommission der UdSSR abgebüßt habe und nun zur freien Wahl eines beliebigen Wohnortes in der UdSSR ausreisen könne, aber einen Pass gaben sie nicht, sondern steckten mich in eine Etappenstation, aus welcher ich wiederum wie ein Gefangener mit einer etwas besseren Etappenration und mit spärlichem Taschengeld den 25.03.52 zurück nach Tadchikistan in den Bezirk im Wachschatal, wo man mich einst verhaftete, gebracht wurde. Der Empfang bei den Behörden war sehr formell und ein Papier wurde mir zugeschoben, mit dessen Unterschrift ich mich verpflichtete, dieses Gebiet ohne Sondergenehmigung nicht zu verlassen. Stacheldraht und Wachposten waren weg, aber wie ein Damoklesschwert hing die Drohung über dem Kopf: 25 Jahre Haft bei Nichtbeachtung des unerlaubten Verlassens dieses Gebiets. Ansonsten war ich frei, verantwortlich für mich selbst, der Suche nach einer Arbeit und Wohnung, der Gestaltung meines weiteren Lebens.
Es war Sommer, die Sonne schien, und als ich auf den noch bekannten Rasenplatz in der Nähe des Internats kam, legte ich mich in das saftige, duftende Grün und ein wohliges Gefühl der Freiheit überkam mich und damit die gedankliche Bereitschaft, ein neues Leben zu wagen und zu gestalten. Die erste, die ich traf, war eine junge Lehrerin Waltraut. Sie erkannte mich sofort, denn sie war ja die begabte Schülerin mit dem Rufnamen „Trauti“ in der Schule im Dorf Thälmann. Wir gingen zu ihrer Lehrerwohnung und unterhielten uns lange und ausführlich. Mir gegenüber saß eine junge Frau mit dunkelblondem Haar, hoher kluger Stirne, regelmäßigen Gesichtszügen und hübschen Augen, die irgendwie Jungfräulichkeit ausstrahlten. Sie war akademisch ausgebildete Englischlehrerin und seit etwa 1,5 Jahren in der Oberschule angestellt. Bei ihr wohnte ihr jüngerer Bruder, der die Oberschule absolvierte und nach meinem Eindruck auch ihr „Leibwächter“ war. Dieses erste Gespräch war nicht das letzte, man hatte sich viel zu erzählen und mitzuteilen. Ich stellte fest, dass Zuneigung geweckt war, nicht mehr. Ihr Bruder zeigte großes Interesse für mich, und ich konnte auf ihn bauen.
Ansonsten musste ich viele Dinge anpacken: Arbeit und Wohnung beschaffen und in der Kommandantur meine weitere bürgerliche Lage klären. Erstens wurde festgestellt, dass ich widerrechtlich zur Meldepflicht verpflichtet worden war. Laut meiner mitgebrachten Bescheinigung müsse mir ein Pass ausgestellt werden. Der Kommandant
33
übernahm es selber, die Sache über Moskau zu regeln und mir das Resultat zu vermitteln. Bald hatte ich eine Arbeit als Normierer in der Maschinen Traktorenstation gefunden und daneben auch eine kleine verwahrloste Wohnung. Neben dieser Wohnung war ein Teich, in welchem ich im Sommer und im Winter baden konnte. Wegen meiner Bade- und Sportlust wurde ich bald in der Betriebszeitung als Beispiel dargestellt. Die Arbeit hatte ich schnell im Griff, und auch Vertrauen bei Vorgesetzten und Arbeitern.
Langsamer ging es mit dem Vertrauen bei Waltraut, zu welcher ich schon in heißer Liebe entbrannt war. In dem Gespräch erzählte sie außer vom Studium, von der Bekanntschaft mit drei russischen Studentinnen, die sie mit einer Glaubensgemeinschaft (Baptisten) bekannt gemacht hatten, und wo sie in der Studentenzeit gemeinsam jeden Sonntag den Gottesdient besuchten. Sie war sehr angetan von dieser Gemeinde und war dort angenommen, wenn auch noch nicht offizielles Mitglied. Ich konnte nur über ihren kindlichen festen Glauben staunen. In meinem Innern begann eine neue Umbruchstimmung und ein Ringen nach neuer Weltanschauung, Freigeist passte nicht hierher. Für erst nahm ich wieder mein Fernstudium im Moskauer Fremdspracheninstitut auf und forschte eifrig in der Bibel. Beim nächsten Gespräch mit Waltraut erlebte ich etwas wie einst Petrus: Ich brach zusammen und weinte bitterlich wie nie zuvor und auch nie nachher. Außer Zuneigung und Mitempfinden wurde mir jedoch meine Liebe noch nicht erwidert. Durch andauerndes zähes Werben gab Waltraut mir im Juli 1952 schließlich ihr Jawort.
Eines Tages wurde ich zur Parteizentrale gebeten. Man begrüßte mich freundlich, sogar zuvorkommend und teilte mit, dass aus Moskau eine Direktive gekommen sei, mir einen Pass auszustellen. Leider wäre danach mein Bleiben hier im Grenzbezirk mit Sonderstatus nicht mehr möglich, darauf hätte ich mich einzustellen. Ich könnte in Ruhe meine Arbeit oder andere Verbindungen abschließen, in die Hauptstadt fahren und im Landwirtschaftlichen Ministerium eine Einweisung zu beliebigem Ort erhalten. Außerdem erfuhr ich, dass der Kommandant, der die Sache wegen meinem Pass eingereicht hatte, bei einem Dienstunfall zu Tode gekommen sei (?). Die Verwaltung meines Arbeitsplatzes bat mich, vor meiner Abreise einen Nachfolger einzuarbeiten, denn die Art und Weise meiner Arbeit als Normierer sei einmalig gewesen. Sie stellten mir eine sehr gute Bescheinigung und Führungszeugnis aus.
Dann beschlossen wir mit Waltraut im Blick auf die besondere Situation eine standesamtliche Eheschließung (für uns eine rein formelle Registrirung) vorzunehmen. Wir weihten den „Leibwächter“ Helmut in unseren Plan ein, den er mit Begeisterung aufnahm und als einziger Zeuge bei der Registrierung am 27.12.52 zugegen war. Die standesamtliche Eheschließung wurde in meinem Pass eingetragen. Zu dieser Zeit kam meine jüngere Schwester Barbara aus Kirgisien zu Besuch, und wir feierten den 4. Januar 1953 unsere Verlobung im engen Kreis bei Waltrauts Mutter Anna Quiring[1]
Jetzt wurde ich gedrängt, das Grenzgebiet zu verlassen, und mit Unterstützung von Waltrauts Familie unternahm ich eine ausgedehnte Reise zu meinen Schwestern und Verwandten, die zerstreut an vielen Orten wohnten. Die Reise wurde mehrmals
[1] Anna Quiring, geb. Jak. Fröse (08.12.1902- 20.11.1991), GRANDMA #1032880

34
unterbrochen, weil bei der Passvorweisung an den jeweiligen Grenzen der Republiken man Zweifel daran hegte, dass ein Deutscher einen Pass haben könne und man sich stundenlang durch Telefongespräche am Ort der Ausgabe überzeugen ließ, dass der Pass echt sei.
Das Wiedersehen mit den Schwestern war sehr herzlich und freimütig. Ich erhielt ihre Einwilligung für meine Heirat, obwohl sie auch ihre Heiratskandidatinnen anpriesen, aber zurücksteckten, weil bei mir nur eine einzige in Betracht käme, die liebenswürdige Englischlehrerin im Bezirk Wachschatal in Tadshikistan. Die Schwestern übergaben mir auch noch das Vermächtnis von der Mutter – zwei goldene Eheringe (die Ringe meiner Eltern) und eine silberne Taschenuhr meines Vaters. Dann fuhr ich zurück nach Tadshikistan und in Stalinabad erhielt ich eine Einweisung als Normierer nach Regar, etwa 30 km nördlich von Stalinabad. Übernachten konnte ich in einer deutschen Familie, den Eltern von Waltrauts Freundin. Sie war Mitglied der Gemeinde, zu welcher Waltraut Verbindung hatte, und stellte mich dort als Verlobten von Waltraut vor. Die Kontakte entwickelten sich sehr positiv und meine Einstellung zu dieser Gemeinde, ihren Einstellungen zur Welt, zur Wehrpflicht, zu Israel, ihren Grundordnungen und vor allem das offene liebenswürdige Entgegenkommen imponierte mir.
Im April 1953 fuhr ich nach Regar und begann dort die Arbeit als Normierer in der Stadt-Maschinen-Traktorenstation. Die Arbeit lief gut und man kam mir in vielen Dingen entgegen. Ich erhielt eine kleine, aber saubere Wohnung, und man wollte mir ein Grundstück in einem Park geben. Was man nicht vermochte, war eine Einreiseerlaubnis nach Regar als neuen Wohnort für Waltraut, die unter der Meldepflicht stand, zu erwirken. Im Ural bei den Schwestern entdeckte ich eine alte zerlesene russische Bibel mit Randbemerkungen, die ich mitnahm und nun in meinen Freistunden und Briefen von Waltraut buchstäblich verschlang. Russisch war jetzt meine zweite Muttersprache und ich kannte mich in der russischen Literatur und sogar in den allernotwendigsten kommunistischen Schriften gut aus, aber die Sprache der Bibel mit den mir im Deutschen bekannten Namen und Ausdrücken war etwas ganz Neues. Es wurde die Grundlage für mein späteres öffentliches Auftreten in der schon genannten Gemeinde in Stalinabad.
Briefe an Waltraut schrieb ich regelmäßig und mit schwungvollen Ausdrücken und Darstellungen meiner Liebe zu ihr. Die Antwortschreiben waren zwar wie immer zurückhaltend, aber mit Andeutungen von Gefühlen, die meinen Gang wieder federnd machten. Etwas sehr wichtiges bahnte sich an. Ihr älterer Bruder Traugott, Facharbeiter im Bauhandwerk, wurde dringend für Arbeiten in der Hauptstadt Stalinabad benötigt und bekam eine Ausreisegenehmigung dorthin. Er stellt die Forderung, dass er diesem Ruf nur folgen könne, wenn seine ganze Familie die Genehmigung zur Ausreise erhielte. Es wurde bewilligt und die Ausreise für den August 1953 geplant. In Stalinabad wurde ein Haus mit größerem Grundstück gekauft, an welchem die Reparaturarbeiten durch Freunde zügig vorangingen. Ich wurde gebeten im August nochmals zum Dorf Thälmann im Wachschatal zu kommen um wichtige Familienfragen zu besprechen. Ich fuhr hin und wurde
wie ein Familienmitglied empfangen. Waltraut war auch da und wir hatten endgültig Klärung in unserem weiteren Miteinander. Der 16.August 1953 wurde als
35
Hochzeitstag festgelegt und mit einem großen Teil der Dorfbewohner gefeiert. Die
Trauung übernahm Waltrauts Mutter. Der Trautext, 2.Thessal. 3.3: „Der Herr ist treu, der wird euch stärken und bewahren vor dem Argen.“ Die übliche Trauformel beantworteten wir mit einem „Ja“. Ich verpflichtete mich sie zu lieben, zu beschützen und Treue zu halten, bis dass der Tod uns scheide. Sie verpflichtete sich mich zu lieben, zu umsorgen und Treue zu halten, bis dass der Tod uns scheide.
Den nächsten Tag, den 17.August 1953 wurde ein großer Lastwagen mit Möbeln und Hausrat bepackt und fort ging es aus dem Dorf Thälmann nach Stalinabad. Das Haus war soweit repariert, dass man übernachten konnte, ich musste sofort nach Regar zum Arbeitsplatz. In Regar war keine Kommandantur eingerichtet und Waltraut konnte nicht mitfahren und wir blieben wieder getrennt. Waltraut und alle anderen unterlagen in Stalinabad weiter der Meldepflicht, hier gab es eine Kommandantur, weil viele deutsche Bauarbeiter mit ihren Familien hier nötig gebraucht wurden und sesshaft waren. In Regar ließ man mich sehr ungern los, aber es war alles versucht worden um die Wohnerlaubnis für Waltraut zu erreichen, aber umsonst. Nach einigen Wochen kam sie zu Besuch und wir waren zum ersten mal drei Tage als Eheleute zusammen. Ich bereitete jetzt alles vor, um nach Stalinabad umzusiedeln, hatte dort jedoch das erste mal nach meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft Schwierigkeiten mit einer passenden Arbeit. Zur Hilfe kam der Erlass des Landwirtschaftlichen Ministeriums, direkt in den großen Kolchosen Maschinen-Traktorenstationen einzurichten, und ich wurde als Rechnungsführer in einer nahe bei Stalinabad gelegenen Kolchose angestellt. Ich erhielt sofort ein Grundstück und Darlehen zur Errichtung eines Eigenheims in der Nähe von Waltrauts Familie. Ansonsten hatten wir eine Wohnecke im Haus ihrer Familie und ein „Himmelbett“ (eine Pritsche mit Mückenzelt) unter schattigen Bäumen des Gartens. Waltraut wurde auch bald als Englischlehrerin in eine Oberschule eingestellt und wir waren trotz mancher Missstände glücklich. Nach der Ankündigung des ersten Kindes, begann ich mit großer Arbeitslust und Aufwendung aller freien Stunden und Abendstunden mit den Vorbereitungen zum Bau des eigenen Hauses.
In dieser Zeit geschah noch etwas Wichtiges: Wir meldeten uns beide zur Taufe in der Baptistengemeinde, die Waltraut schon gut kannten (sie hatte dort den Kosenamen „Engel“), und ich Kontakte aufgenommen hatte. Nach einem Zeugnis vor der ganzen Gemeinde wurden wir beide am 20.Juni 1954 im Fluss mit Untertauchen getauft und waren nun Mitglieder der Gemeinde. Bald wurde ich Chormitglied und auch zum Dienst als Laienprediger herangezogen. So vollzog sich eine vollständige reibungslose Integrierung in eine russische freikirchliche Gemeinde.

36

Erstes Foto nach der Entlassung aus dem GULAG, 1952.
38

Waltraut und Friedrich im Januar 1953

39

Mit Schwestern und Nichten während meines Besuchs bei ihnen in Korkino, Ural, von Februar bis März 1953.
Waltraut, die frühere „Trauti“ als junge Lehrerin, 1952

40

KAPITEL 7
Eigene Familie und eigenes Heim
1954 – 1969

1956 wurde uns ein Sohn geboren, der den Namen Traugott erhielt. Hintergrund dieses Namens war Traugott Hahn, Professor der Theologie in Dorpad, Estland. Waltrauts Vater, Franz Quiring[1], hatte bei ihm studiert und schätzte ihn sehr hoch. 1958 wurde der zweite Sohn geboren und erhielt den Namen Johannes in Andenken an seinen Großvater Johannes Funk. Mit außerordentlichem Fleiß hatten wir in vier Jahren unser Eigenheim gebaut und zogen den 25.Juni 1959 ein.
Das Fernstudium im Moskauer Institut für Fremdsprachen hatte ich alle diese Jahre fortgesetzt, und im Sommer 1956 beendete ich diesen Lehrgang und musste im Stalinabader Pädagogischen Institut eine mündliche Prüfung ablegen und bestand sie glänzend. Man wurde auf mich aufmerksam und bot mir an, im Herbst den vollen pädagogischen Lehrgang im Stalinabader Pädagogischen Institut mit allen Fächern ohne Unterbrechung meiner Arbeit zu beginnen. Ich willigte ein und Waltraut auch, obwohl ich ohnehin nicht viel Zeit für meine Familie hatte. Im selben Jahr stellte man mich auch noch als Lehrer der deutschen Sprache in der Abendschule ein. So liefen viele Dinge parallel und dank guter Gesundheit und Gottes Segen mit Erfolg. 1960 wurde eine Tochter geboren, ein Sonnenschein der Familie, mit Namen Elsa, den sie jedoch nie so recht akzeptierte und lieber auf den Rufnamen „Elly“ hörte.
Unser Eigenheim hatte einen großen und gepflegten Garten, der ringsherum umzäunt war und eine hübsche Eingangspforte hatte. Vor dem Eintritt in die Grundschule hatten wir die Kinder deutsch Lesen und Schreiben gelehrt. In der Schule wurde ja alles in russischer Sprache unterrichtet, die Kinder kamen aber trotzdem gut mit. Elly wurde aufgrund ihrer Begabung schon ab der ersten Klasse in eine Musikschule aufgenommen, in der auch alle anderen Fächer vorgetragen wurden. Zu Hause angekommen, mussten alle Deutsch sprechen und auch dieses ging gut. Die Freizeit im lauschigen Garten tat allen wohl und wir liebten unser Heim.
In unsere russische Gemeinde kamen immer mehr Deutsche hinzu und es stellte sich die Frage, was wohl in der Muttersprache zu bieten sei. Der Anfang wurde mit der Bildung eines deutschen Chors gemacht. Obwohl wir die Texte kurz ins Russische übersetzten, war ein gewisses Misstrauen nicht zu verhindern. Schwieriger war die Einführung einer Stunde mit deutscher Predigt. Die Schwierigkeiten kamen nicht nur von den Russen, sondern auch von den Deutschen, die inzwischen Russisch besser verstanden als Deutsch. Unsere Kinder wurden alle eingesegnet mit dem Wort und Gebet in russischer Sprache. Wir hatten ein Klavier im Haus und alle Kinder bekamen eine Grundausbildung in Musik privat zu Hause. Auch hatten wir deutsche Literatur beschafft und wer wollte konnte lesen.
1961 absolvierte ich das Pädagogische Institut mit Auszeichnung und war nun anerkannter Lehrer der Oberschule mit allen Befugnissen. Praktisch war mein
[1] Franz Quiring (18.08.1892- nach 1938), GRANDMA #665080

42
Hauptdienst Rechnungsführer in der Traktorenbrigade, nebenberuflich war ich Lehrer in der Abendschule. Der Dienst in der Gemeinde war gefragt und ging auch weiter. Eine kurze Erklärung zu meinem Hochschulabschluß. Angenommen konnte ich nur dank der Abschlußzeugnisse der Oberschule werden. Diese Dokumente hatte man bei der Hausdurchsuchung vor meiner Verhaftung nicht finden können, und die Schwestern hatten sie aufbewahrt und bei einem Besuch bei ihnen mir ausgehändigt. Als Mitstudent war ich in unserer Studentengruppe sehr gefragt, denn ich konnte ihnen sehr behilflich sein. Es sickerte natürlich durch, dass ich aktives Mitglied der Baptistengemeinde sei. Daraufhin von der Institutsleitung befragt, mit dem Hinweis der Unvereinbarkeit des Studiums mit der Gemeindearbeit, antwortete ich: „Ich studiere aus sportlichem Interesse“. Ich durfte weiterstudieren und als die staatlichen Abschlussexamen vorbereitet wurden, hatten einige der Oberlehrer sich vorgenommen, mich im Fach „Wissenschaftlicher Kommunismus“ durchfallen zu lassen. Die Fragen beantwortete ich alle sehr gut und als sie zum obengenannten Thema zusätzliche, gezielt provozierende Fragen stellte, erhob sich der Vorsitzende der Prüfungskommission Dobrowol’skij und sagte ganz entschieden: „Es reicht, er ist ein guter Redner und ich gebe ihm die Note „sehr gut“!“. Hiermit war die Sache erledigt, und als einziger erhielt ich ein Diplom mit Auszeichnung, was von einigen Prüfern gerade verhindert werden wollte. Die Fürbitte vieler Gemeindemitglieder und besonders der des deutschen Chores hatte viel bewirkt.
Unser Haus hatte offene Türen und manche Feste wurden hier gefeiert: Einweihung, Hochzeit des „Leibwächters“, Geburtstage, Jubiläen, erweiterte Weihnachtsfeiern. Mit den Nachbarn lebten wir in gutem Kontakt und friedlich, obzwar wir alle sehr verschieden waren: Tataren, Tadshiken, Ukrainer, Russen, Ossetinnen und Deutsche. Eine deutsche Familie wohnte mit uns auf einem Grundstück. Der Kindergarten war über die Straße. Die Kinderaufsicht in Zeiten unserer Abwesenheit übernahmen teils die deutschen Nachbarn und teils die ossetinischen Freunde. Seit Ellis Geburt 1960, war Waltraut tagsüber zu Hause und abends unterrichtete sie in der Abendschule. Es geschah auch so, dass ich eine Weile in der Brigade halbtags arbeitete, bei voller Bezahlung. Die Tadshiken hatten großes Vertrauen zu mir, da ich gelegentlich ihre Feste mit ihren religiösen Riten mitfeierte und ihre Sprache ein wenig beherrschte.
Ab 1955 wurde die Meldepflicht aufgehoben und die Deutschen erhielten Pässe. In den Ferien 1957 fuhr Waltraut mit dem ältesten Sohn Traugott zu den Schwestern in den Ural. 1960 fuhren wir in den Winterferien als fünfköpfige Familie dahin und besuchten meine Schwestern. Wichtig waren noch die Fahrten mit Waltraut zu ihren Verwandten nach Karaganda und meinen direkten Verwandten von der Funkslinie nach Kirgisien. Eine betagte Cousine konnte mir die Geschichte der Ausreise unseres Großvaters Franz Funk aus Westpreußen erzählen: Als 18-jähriger Jüngling mit Gesellenbrief, fuhr er als Kutscher einer begüterten Familie nach Russland und siedelte am Trakt im Dorf Lindenau an. Er wurde hervorragender Tischlermeister und nach einiger Zeit fuhr er in einer selbstgebauten Kutsche zurück nach Kreis Elbing, Dorf Augustwalde, und holte sich von dort ein Mädel zur Frau. Die Kutsche ließ er dort als Brautgeschenk und kam mit seiner jungen Frau per Zug zurück.
Meine Arbeit in einer tadshikischen Kolchose war eine gute Rückendeckung für die Arbeit als Lehrer. Außer der Abendschule übernahm ich noch das Lehreramt in einer
43
tadshikischen 8-klassigen Schule. Mit Anwendung verschiedener Methoden hatte ich guten Erfolg und man kam zu meinen Stunden sogar aus der wissenschaftlichen Abteilung für pädagogische Arbeiten in Stalinabad, von jetzt an Duschanbe. Meine Artikel über meine Lehrmethoden sollten in einer nächsten Ausgabe der Abteilung gedruckt werden. Es kam nicht so weit… Eines Tages wurde ich zum ersten Sekretär der Duschanbiner Parteiorganisation geladen, um ein offenes Gespräch zu führen. Hinzugezogen wurde noch die Vorsitzende der ideologischen Abteilung. Nach kurzer Vorstellung gingen sie zum eigentlichen Thema meiner Überzeugungen über: Lange hätten sie mein zwiespältiges Verhalten als Sowjetpädagoge und Baptistenprediger geduldet, in der Hoffnung, dass ich überholte Glaubensanschauungen lassen würde. Jetzt solle ich entschieden den Glauben aufgeben und nur Pädagoge einer Sowjetschule sein. Die Diskussionen gingen mit Argumenten von beiden Seiten lange Zeit hin, ohne dass jemand überzeugt werden konnte. Meine Entscheidung war, dass ich den Glauben nicht lasse, ihre – dass ich entlassen würde. Den 16.08.65 wurde ich vom Lehreramt suspendiert und war gezwungen als Arbeiter in eine Textilfabrik zu gehen. Waltraut arbeitete weiter in der Schule. Das Versprechen hatte der Parteisekretär mir gegeben, dass man sie im Lehrerdienst belassen würde.
Die Arbeit in der Gemeinde ging weiter und unser Familienleben in unserem Heim auch. Elly lernte weiter mit Erfolg in der Tschaikowsky-Musikschule, die Buben konnten in eine Oberschule mit erweitertem Deutschunterricht versetzt werden. Besorgt waren wir über Waltrauts Gesundheit, die durch zwei weitere Geburten sehr geschwächt war. Es waren Mädchen, eines den 23.Februar 1963 im achten Monat, das andere den 11. April 1964 im neunten Monat tot geboren.
Im August 1967 machte Waltraut eine Touristenreise nach Estland, erlebte dort viel Verständnis und Entgegenkommen und auch Erholung. Sie kam mit der Überzeugung zurück, dass das Klima dort für sie seht wohltuend sei und wir doch dorthin übersiedeln könnten. 1968 machte ich eine Erkundungsreise nach Estland, knüpfte einige Kontakte und stellte fest, dass in meinem Pass ein geheimer Vermerk war, der mir gewisse Städte und Grenzgebiete verbot. Wieder zurückgekehrt, ging ich sofort in die Passabteilung des Ordnungsamtes. Sie bestätigten diesen Geheimvermerk und fügten hinzu, dass er nun verjährt sei und stellten mir einen neuen Pass aus. Der Estlandgedanke ließ uns aber nicht mehr los und innerlich und äußerlich wurden Vorbereitungen getroffen.
Wir entschlossen uns noch eine Reise nach Mittelrussland ins Wolgagebiet zu machen, der Einladung einer gläubigen russischen Familie aus Samara folgend. Per Flugzeug kamen wir an, wurden sehr freundlich empfangen und in der Familie untergebracht. Wir besuchten auch den Gottesdienst in der Baptistengemeinde und als Gastredner hielt ich die Hauptpredigt. Nach dem Gottesdienst lud uns ein bejahrter Bruder zu sich zum Mittagessen ein, ich hatte großes Vertrauen zu ihm gefasst und erzählte ihm von unserem Leben in Duschanbe, von unserem Dienst in der Gemeinde und dem Entschluss, wegen Waltrauts Gesundheitszustand nach Estland überzusiedeln. Er hörte sehr aufmerksam zu, vernahm meine Schwierigkeiten in der Entscheidung Familieneigenheim und Dienst in der Gemeinde zu verlassen und entschied: „Bruder, dieses bringen wir gemeinsam vor den Herrn. Die Ehefrau ist für Dich der nächste Mensch und wenn es ihr Gesundheitszustand erfordert, musst du
44
zu Opfern bereit sein.“ Diese eindeutige Einschätzung von einem fremden, aber glaubensüberzeugten Mann war eine Hilfe zur Überwindung eigener Zweifel und Abraten wohlmeinender Freunde und Bekannter in Duschanbe.
Wir machten noch eine Dampferfahrt auf der Wolga mit kurzem Aufenthalt in einigen Ortschaften, wie z.B. in Dawlekanowo, wo mein Vater das Lehrerseminar absolviert hatte. Trafen auch noch die Familie eines ehemaligen Mitgefangenen, der gesundheitshalber etwas früher entlassen wurde und hier in einem schönen Wald mit seiner russischen Frau wohnte. Mit den Kindern fuhr ich noch nach Uljanowsk (Simbirsk) und besichtigte das Haus, in dem Lenin geboren wurde, und dessen Einrichtung – eine solide, sehr deutsch aussehende großbürgerliche Einrichtung. Mit Waltraut fuhren wir auch zu einer Verwandten von Waltraut, übernachteten da und trafen noch die Frau und Tochter ihres Cousins Hans Quiring, der in der Arbeitsarmee umgekommen war. Dann verabschiedeten wir uns von unseren Gastgebern und flogen wieder zurück nach Duschanbe.
In allen Instanzen gaben wir unsere Übersiedlung bekannt und nahmen Abschied, immer in kleinen Gruppen. Den 12.August 1969 verkauften wir das Haus, packten etwas Möbel und Hausrat in einen Container und saßen in den leeren Zimmern, als wir noch einen seltenen Besuch empfingen – Corry ten Boom. Sie setzte sich ans Klavier und spielte das Lied „Ich bin durch die Welt gegangen“. Dann segnete sie alle unsere Kinder in deutscher Sprache und wir beteten gemeinsam. Zehn Jahre hatten wir in Frieden nach innen und außen hier gewohnt und reichlichen Segen empfangen. Ich fuhr danach ab, Waltraut und die Kinder zogen vorübergehend zu Waltrauts Familie und kamen später nach.
46

Unser eigenheim in Duschanbe, 1959 fertiggestellt

47

Deutscher Gemeindechor in Duschanbe, 1956

48

Diplom

49
Abzeichen

Abzeichen vom pädagogischem Institut
Sportabzeichen „Gerüstet zur Arbeit und Abwehr“

51

KAPITEL 8
Estland 1969 – 1975

Mit sehr guten Empfehlungsschreiben als Ätzer und Gravierer für Kupferwellen an das Textilkombinat in Narva, Estland, verließ ich den letzten Arbeitsplatz in Duschanbe. Unter der Leitung von Tulaer Spezialisten hatte ich mich zum Facharbeiter hochgearbeitet. In Narva wurde ich von Werkhallenleitern sehr erfreut angenommen mit der Hoffnung, dass ich ohne Verzug anfangen würde zu arbeiten. Ganz anders war der Empfang des Direktors, hart gesottenem Kommunisten und Russen, am nächsten Morgen im Kreis seiner Getreuen. Meine Personalakte lag bereits vor ihm auf dem Tisch und unumwunden begann er seine Vorbehalte gegen meine Einstellung: „Sie sind Baptist und werden in der Werkhalle predigen“. Weder meine, noch die der Fachleute Einwände nützten etwas – ich nahm meine
Bescheinigungen und mein Arbeitsbuch und fuhr weiter nach Tartu (früher Dorpat). Dort wurde ich als Holzsortierer und stellvertretender Sägegatterführer eingestellt. Eine Wohnung wurde etwa 30 km nordwestlich von Tartu, in einer sehr hübschen Waldgegend zugewiesen. Zuzug der Familie war selbstverständlich und erwünscht, nur die Frage der täglichen Transportverbindung zur Schule und zum Arbeitsplatz bereitete der Verwaltung Schwierigkeiten. Diese Frage wurde gelöst, als noch drei deutsche Familien hinzukamen, alle mit Schulkindern. Der Betrieb stellte einen Kleinbus für diese Pendelfahrten zur Verfügung, und so wohnten wir in der Waldidylle Kaiavere, arbeiteten und lernten in der alten Universitätsstadt Tartu.
Die Frage nach Gemeindeanschluss und dem Besuch einer Musikschule konnte hier viel besser entschieden werden als in Narva. Unsere Dreizimmerwohnung war auf der ersten Etage und hatte einen prächtigen Ofen, der mit Birkenholz beheizt wurde, die Wohnküche hatte einen Herd mit Gussplatte. Elektrobeleuchtung und Wasserleitung funktionierten, es gab jedoch keine Heizkörper und kein heißes Wasser. Neutapezierung, Fußbodenanstrich und einige Möbelstücke besorgte ich mit viel Anstrengung und Fleiß vor der Ankunft der Familie. Sie kamen den 23. November 1969 an. Der bitterste Wermutstropfen war, dass Waltraut nervlich strapaziert und völlig entkräftet in Estland ankam. In Kaiavere gab es weder ein Krankenhaus, noch irgendeine medizinische Versorgung oder Apotheke. Telefon gab es nur eines, bei dem Hausverwalter, der deutsch sprach und uns zugetan war. Gut deutsch sprach auch Ridaliste, der Leiterpresbyter der Baptistengemeinde in
Tartu, und auch er war uns vorzüglich gut gesonnen. Ich war schon in der Gemeinde tätig und meine Dienste in der russischsprachigen Gemeindegruppe wurden wahrgenommen, noch bevor meine Familie ankam. Schon dann wurden wir als Mitglieder angenommen und uns wurde großzügig Selbständigkeit gewährt. Wir hätten auch eine deutsche Gruppe bilden und in der Muttersprache Gottesdienst halten können. Weil die Gruppe aber klein war, schlossen wir uns der bestehenden russischen Gruppe an, predigten russisch und übten deutsche Chorlider ein und sangen, wo wir gefragt wurden. Ich Schloss mich dem estnischen Chor an und predigte in der estnischen Versammlung deutsch mit Übersetzung. Im Gesang musste ich estnisch singen und schaffte es auch nicht schlecht, denn mit kleinen Ausnahmen
52
haben wir dasselbe Alphabet. Sofort am Anfang hatte ich einen deutsch- estnischen Sprachführer erhalten und übte jede freie Minute. Zu meinem eigenen und der Gemeinde Leidwesen brachte ich es nie zu einem freien Sprechen. Die meisten Esten sprechen und verstehen Russisch, mögen sie aber nicht gebrauchen. Viele der Älteren verstehen und sprechen gern Deutsch. Die Jüngeren sprechen immer mehr Englisch.
Jetzt zurück zu unserer Ankunft in Estland. Waltraut musste für längere Zeit ins Krankenhaus, konnte sich mit dem Wohnort in Kaiavere nicht anfreunden, und langsam bereiteten wir einen Wechsel des Arbeitsplatzes und Wohnortes vor. Eine Anstellung als Lehrer kam für Waltraut und auch für mich nicht in Frage, weil die russisch dominierende KGB diesen Gedanken einfach nicht zuließ. Die Kinder kamen in die jeweiligen Klassen in Schulen mit russischer Unterrichtssprache. Elly und Traugott besuchten auch noch eine estnische Musikschule, die Klavierlehrerin sprach mit ihnen Deutsch. Den Ansprüchen als Pioniere einzutreten konnte ich in Gesprächen mit verständnisvollen Lehrern abwehren, genauso den Komsomol für Traugott. Die Kinder liebten die Natur mit den Möglichkeiten Waldtiere kennenzulernen, unbeschwert Ski zu laufen und im Sommer aromatische Waldbeeren zu sammeln sehr. Sie nützten diese Gelegenheit ausgiebig. Wir hatten hier öfter Besuch von Verwandten und Freunden. Alle, die unsere Wohnsituation in Duschanbe kannten, waren über unser einfaches Leben hier irritiert. Das freundliche Entgegenkommen der Esten allgemein und besonders der Gemeinde überbrückten viele Schwierigkeiten. Waltraut erholte sich auch wieder und ging mit anderen deutschen Frauen gelegentlich Feldarbeiten machen. Kartoffeln hatten wir dadurch immer genug und sehr schmackhafte.
Wegen eines Nierensteins musste ich zur Operation und lag im Krankenheus auf dem Domberg in Tartu. Vor dem Entschluss zur Operation fuhr ich nach Elva zu einem finnischen Bruder, wir nahmen die Sache sehr ernst und beteten zu Gott um Klarheit. Die Operation musste sein und Bruder Togi bemühte sich um unsere Familie. Im Krankenhaus hatte ich viele Besuche, und die Verbundenheit zur Gemeinde wurde immer fester und herzlicher. Die Arbeit im Holzkombinat war schwer und sehr intensiv, deshalb wurde ein Angebot eines Baubetriebes als Maurer zu arbeiten von mir angenommen. Sie boten allen deutschen Arbeitern neue moderne Wohnungen im Bezirk Puhja, 30 km westlich von Tartu an. Hier sollte ein Brikettwerk entstehen und dazu wurden wir herangezogen.
Im August 1971 zogen wir nach Puhja über, mit Sack und Pack. Wir erhielten eine Dreizimmerwohnung mit Küche, Bad, Toilette, Elektrobeleuchtung und Elektrogeräten, fließendem Kalt- und Warmwasser. Viele Esten staunten über diese Bevorzugung, weil sie selber oft jahrelang umsonst warteten. Unsere Freunde aus der Gemeinde gönnten es uns von Herzen. Eines Tages, als ich von der Arbeit und die Kinder aus der Schule kamen, standen viele Geschwister aus der Gemeinde im Vorraum und begrüßten uns mit Gesang und Geschenken. Es ergab sich ein wunderschöner Abend mit Gesang und Klavierspiel – Traugott und Elly spielten vierhändig, zum Erstaunen der Gäste. Die Arbeit als Maurer und später als Rohrleger ging flott voran und war leichter, da wir die Arbeitsstelle in der Nähe hatten und nicht beständig pendeln mussten wie von Kaiavere zum Holzkombinat. Für die Kinder änderte sich kaum etwas, nur dass sie im Linienbus fuhren. Die Umgebung
53
war hier kultureller: Krankenhaus, Geschäfte, Apotheke, Zahnarzt, Kirche und Friedhof. Zugeteilt wurden uns kleine Gemüsegärtchen. Waltrauts Gesundheitszustand besserte sich sichtlich, und sie bewarb sich um Arbeit. Kurze Zeit war sie Raumpflegerin, konnte dann jedoch Dolmetscherin im Brikettwerk werden, weil hier deutsche Ingenieure aus der DDR die Montageaufsicht hatten. Die Gemeindearbeit ging weiter und wurde erweitert, weil es in Estland inzwischen viele deutsche Gemeindegruppen gab, die ich im Auftrag des Bundes der estnischen Baptisten besuchte und gewünschte Anleitungen gab. In Puhja freundeten wir uns mit dem Pastor der Ev. Kirche an, welcher gut Deutsch sprach und uns bereitwillig einen Raum vor seinem Studierzimmer für unsere Chorübungen zur Verfügung stellte. Wir dankten es ihm damit, dass wir hin und wieder in seinem Gottesdienst sangen.
Ein besonderes Ereignis war noch, dass wir von einer kanadischen Glaubensschwester einen PKW, „Saporoshez“, als Geschenk für den Dienst in den deutschen Gruppen erhielten. Alle Funks männlichen Geschlechts machten Führerschein, und der Wagen war stets in Bewegung. An einem Sonntag, gefüllt mit Diensten in der Gemeinde, fuhr ich abends, es war Windter 1974, nach Hause und landete auf der Intensivstation des Krankenhauses Marja-Mosa. Als ich die Augen öffnete war ich umringt von sorgenvollen Ärtzegesichtern. Spontan sagte ich: „Jumala onestega teie“ – Gott segne sie. Ihre Blicke erhellten sich; er wird leben! Die Familie, die Nachbarn, die Gemeinde – alle waren erschüttert und alle vollzogen hingebend Fürbitte, ständig, andauernd. Auf der Decke meines Krankenbettes lag ein Zettel mit den Worten aus Jesaja 43,1-2 „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen und die Flammen sollen dich nicht versengen“. Nach einigen Wochen meldete ich mich wieder am Arbeitsplatz. Ich wurde zur Hebung der Qualifikation, d.h. als Brigadier für Rohrleger, nach Tallin geschickt, hatte dort rege Verbindung mit den Gemeinden, besonders mit der am nächsten gelegenen Methodistengemeinde, ansonsten mit den Baptistengemeinden daselbst.
Wieder zurück in Puhja, wartete noch eine große Aufgabe – die Zusammenstellung eines Manuskripts zum Sammelband geistlicher Lieder in deutscher Sprache, auf Geheiß des Moskauer Baptistenbundes. Unsere Familie und die ganze deutsche Gruppe arbeiteten mit großem Eifer und viel Zeitaufwand bis in die Nachtstunden an diesem Manuskript. Ehepaar Arder hatte die Aufsicht, und Veronika Arder übernahm die Arbeit mit der Schreibmaschine. Arpad und Veronika Arder waren gut deutsch sprechende Esten, Verbindungsleute zwischen Esten und eingewanderten Deutschen aus Mittelasien. Die fertiggestellten Manuskripte mussten vom KGB genehmigten Bevollmächtigten für Kirchenfragen begutachtet werden. Auf diese Weise hatte ich oft Gelegenheit mit ihm zu sprechen, und er schätzte mich als intelligenten Mann mit guten Deutschkenntnissen. Gleichzeitig brachte er mich auch in Berührung mit einem estnischen Mann vom KGB, der bei Fragen zur Ausreise nach Deutschland vermitteln konnte.
Die Aussiedlung nach Deutschland war indessen für uns beschlossene Sache, sogar ein Westdeutscher mit Namen Funck war brieflich gefunden worden. Er schickte eine Anforderung, die zunächst abgelehnt wurde, aber bei äußerst zurückhaltender
54
Vermittlung des oben erwähnten KGB-Mannes, erhielten wir schließlich die Ausreisegenehmigung. Große Hilfe war jedoch auch das Einverständnis meines Arbeitgeberchefs und des Presbyters der Baptistengemeinde in Tartu. Hinzu kam auch noch die Begegnung mit dem Ehepaar Walter und Ruth Zeschky in Tallinn. Ehepaar Zeschky mit noch zwei anderen Ehepaaren waren für uns die ersten Begegnungen mit Glaubensgeschwistern aus Westdeutschland. Sie waren auf Einladung des estnischen Baptistenbundes gekommen. Bei diesem Treffen bekamen wir die ersten Informationen und Eindrücke von den Freikirchlichen Gemeinden in Deutschland. Wir machten uns persönlich mit Ehepaar Zeschky bekannt, nahmen wieder Abschied und wussten da noch nicht, dass wir uns bald in Deutschland treffen würden. Bald stellten sich alle auf das Ausreisen der Funksfamilie ein. Es blieb noch die Genehmigung für Traugott zu erreichen, der inzwischen Student im 3. Semester der Landwirtschaftlichen Akademie und dem Alter nach einberufungspflichtig zum Krigsdienst war. Auch diese Hürde wurde genommen und am 21. Dezember 1975 war öffentlich, mit großer Teilnahme, das Abschiedsfest im der Baptistengemeinde „Kolgata“ in Tartu. Verwandte von außerhalb, viele Freunde, Esten und Deutsche, waren gekommen. Den 27.12.75 fuhren wir per Bahn nach Moskau und von dort, nach manchen Schikanen im Flughafen, den 30.12.75 per Flugzeug der deutschen Lufthansa nach Frankfurt am Main. Dort empfing uns das Rote Kreuz und war erster Wegweiser in einen neuen Lebensabschnitt.

58

KAPITEL 9
Deutschland 31.12.75 bis heute <1998. AW>

„O deutsche Sprache, Mutterlaut,
wie bist du mir so hold, so traut;
Musik bist du fürs deutsche Herz,
ziehst aus der Ferne heimatwärts.“

Von Frankfurt wurden wir mit dem Bus nach Friedland gebracht und feierten Sylvesterabend in der Kapelle in Friedland. Auf dem Weg zur Kapelle gingen wir mit besonderem Hochgefühl an der Friedlandglocke vorbei. Wie heimisch war uns sofort, als der Pastor bekannt gab, dass heute ausnahmsweise der Baptistenchor aus Göttingen singen würde. Es war natürlich, dass ich den Dirigenten ansprach und erklärte, wer wir sind und woher wir kommen. Am nächsten Morgen kamen zwei PKW nach Friedland und holten uns zum Neujahrsgottesdienst nach Göttingen.
Den 7. Januar 1976 wurden wir zum Durchgangsheim Unna-Massen weitergeleitet. Hier besuchte uns Ehepaar Zeschky, begrüßte uns herzlich und lud uns zu sich nach Hause und in die Gemeinde ein. Diese freundschaftlichen Beziehungen bestehen bis heute und waren uns eine große Hilfe im Einleben in der neuen Heimat. Waltraut kam ins Krankenhaus nach Unna, somit waren wir länger im Durchgangsheim als üblich. Außer dem ganzen Papierkram mit den Eingliederungsdokumenten, nahm ich Kontakt mit der Lehrervereinigung in Düsseldorf zwecks einer Anstellung als Lehrer auf. Für Waltraut liefen diese Bemühungen gut und führten zu einer Einstellung. Für mich gab es ungünstige Sachverhalte (Alter, wenige Dienstjahre usw.), daher kam es nicht zur Einstellung als Lehrer, dafür aber zur Einstellung als Berater und Betreuer für Ostumsiedler, wobei die Dokumente meiner pädagogischen Ausbildung ihre Wirkung hatten. Die Einrichtung dieser Arbeitsstelle wurde vom Vertreter des Baptistenbundes, Dr. Günter Wieske, in die Wege geleitet.
Wir wählten Bergneustadt als neuen beständigen Wohnsitz und bezogen am 22. April 1976 eine Vierzimmerwohnung im Stadtteil Hackenberg. Die Unterstützung der Stadt war großzügig; wir erhielten Möbel, Geschirr, Bettzeug. Die Buben waren zu dieser Zeit schon zu Sprachkursen in Murnau. Beide hatten keine Schwierigkeiten; Traugott war etwas eher fertig und bewarb sich sofort um einen Studienplatz an der TH Aachen, Hans nahm etwas länger an den Sprachkursen teil und ging dann auf ein Gymnasium in Emmerich. Elly kam in das Wyllenweber-Gymnasium in Bergneustadt. Das erste eigene „Möbelstück“ war ein Klavier, damit die Übungen fortgesetzt werden konnten.
Den 01.09.76 wurde ich als Berater und Betreuer für Ostumsiedler vom Baptistenbund eingestellt. Die Besoldung erfolgte zu 80% vom Innenministerium und zu 20% vom Baptistenbund. Waltraut wurde den 01.08.77 als Englisch- und Russischlehrerin an der Hauptschule in Bergneustadt eingestellt. Die ganze Familie
59
war am Bau eines Eigenheims interessiert, da die Grundstücke zu günstigem Preis angeboten wurden. Im Juli 1978 erhielten wir die Baugenehmigung in Leienbach, und mit großem Einsatz der ganzen Familie wurde der Bau zum 30. Juli 1979 bezugsfertig. Wir zogen aus der Sozialwohnung ins Eigenheim, und wurden im August 1979 im Meldeamt, als wohnhaft „Am Leiweg 10“, eingetragen. So ist es bis heute!
Den 19.08.78 feierten wir im Gemeindezentrum der Ev. Kirche auf dem Hackenberg unsere Silberhochzeit, die Predigt hielt Pastor von Woyski nach dem Text aus 2. Thessal. 3.3. Die gemeindliche Eingliederung erfolgte gleich nach unserer Ankunft in Bergneustadt in der Ev.-Freikirchlichen Gemeinde Wiedenest. Ich wurde sofort als Mitarbeiter für die Umsiedlergruppe gewählt und später auch als Ältester der Gemeinde erkannt. Es gab bedeutende Differenzen, aber noch viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen den einheimischen Mitgliedern und den Umsiedlern. Alle unsere Kinder entschieden sich hier für Jesus und seine Gemeinde.
Im Februar 1984 bestand Johannes bei der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe die Abschlußprüfung als Forstwirt.
Im November 1988 absolvierte Elsa Funk-Schlör die Musikhochschule Köln, Abteilung Aachen, mit dem Prädikat „Staatlich geprüfte Musikschullehrerin und selbständige Musiklehrerin“ mit der Gesamtnote „sehr gut“.
Traugott Funk absolvierte die TH Aachen 1983 mit sehr guter Gesamtnote und der Qualifikation „Diplom Maschinenbauingenieur“.
Den 10. August 1990 wurde Waltraut in den Ruhestand verabschiedet. In der Hauptschule fand eine Abschiedsfeier statt mit Teilnahme des Lehrerkollegiums, die einige Lieder vortrugen, und einer ausführlichen Rede des Schulrektors. In seiner Rede hob der Rektor die gute Ausstrahlung von Waltraut auch durch ihr Bekenntnis zum Glauben hervor. Es war eine über Erwarten gute Feier. Den 24. Mai 1984 erhielt Waltraut eine Ehrenurkunde für treue Pflichterfüllung während ihrer 25jährigen Tätigkeit im Öffentlichen Dienst: „Ich freue mich, Ihnen die anliegende Urkunde über langjährige Dienstzeit als Lehrerin und Erzieherin unserer Jugend überreichen zu können. Im Namen des Regierungspräsidenten Köln: Unterschrift“.

60

2. August 1996 fand ich folgende Notiz mit eigener Hand geschrieben: „Im achtundsiebzigsten Lebensjahr habe ich merklich die abnehmende Ausdauer in physischer Arbeit, im Durchführen meiner Morgengymnastik, im flotten Gang empfunden. Schneller tritt Müdigkeit auf.“

Zurück zu meinem Dienst in Deutschland.

„Herr, zeige mir Deine Wege und lehre mich Deine Steige!
Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich!“ Psalm 25, 4-5

Ich hatte ein Angebot als Lehrer in einem Gymnasium für schwer erziehbare Kinder, schlug dieses Angebot jedoch aus, weil ich bereits den Dienst als Berater und Betreuer für Ostumsiedler angenommen hatte. Diese Arbeit war mit vielen Fahrten zu Durchgangsheimen verbunden und führte zu vielen Gesprächen mit Leuten aus verschiedensten Ortschaften und Ländern. Etwas hatten alle gemeinsam: sich ähnelnde Schicksalswege und Unsicherheit im Neuanfang in Deutschland. Der Dienst war oft aufreibend, aber interessanter als je einer zuvor!
Im zweiten Rahmen des von der Bundesregierung, im Frühjahr 1976 beschlossenen Eingliederungsprogramms, begann ich meine Arbeit als Vertreter und teilzeitlich Angestellter des Bundes Ev. Freik. Gemeinden als Berater und Betreuer für Ostumsiedler. In Betracht gezogen werden muss, dass ich selber erst den 31.12.75 aus der Sowjetunion nach Deutschland einreisen konnte, und somit parallel mit der eigenen Integration anderen behilflich sein sollte. Die Frische der eigenen Erlebnisse erleichterte den Zugang zu den Rückwanderern und förderte ihr Vertrauensverhältnis zu mir. Durch Besuche vieler Familien, bei welchen ein erweitertes Gespräch über Herkunft, Auswanderungs- und Eingliederungsschwierigkeiten, Wohnverhältnisse, beruflichem und gemeindlichem Einleben geführt wurde, ergab sich die Schlussfolgerung, dass die Wohnverhältnisse durchschnittlich gut sind. Die Wohnungen sind mit allen nötigen Möbeln und Geräten ausgestattet. Etliche Beschwerden entstanden dadurch, dass die durchweg kinderreichen Familien hin und wieder in Spannungen mit den Nachbarn gerieten, und deshalb bei vielen der starke Wunsch entwickelt ist, so schnell wie möglich, die Vergünstigungen der Rückwanderer zum Aufbau eigener Wohnräume zu verwenden und mit Einsatz eigener Kräfte durchzuführen. Außerdem gab es einzelne Schwierigkeiten mit beruflicher Arbeit. Allgemein sind die Firmenleiter mit der Arbeit der Rückwanderer zufrieden und immer bereit sie einzustellen. Ein Firmenleiter drückte sich folgendermaßen aus: „Den Rußlanddeutschen geht ein guter Ruf voraus. Wir können uns auf sie verlassen, und wenn sie sich schon mal
61
krankmelden, dann sind sie auch wirklich krank, sie simulieren nicht.“ In den meisten Fällen müssen sie jedoch eine Tätigkeit ausführen, die nicht ihrem früheren Beruf entspricht. Bei etlichen ruft dieses eine gewisse Resignation hervor, die meisten jedoch stellen sich leicht um, da sie dieses schon vielfältig in der Sowjetunion tun mussten. Des Öfteren konnte ich schon bei Aufnahmen in Beruf- und Sprachkurse vermitteln. Auch sonst wenden sich Firmen bei der Suche nach guten Arbeitskräften an mich.
Nachdem ich einen Wagen kaufen konnte und einige Sicherheit im Fahren und in der Weg- und Schilderorientierung erhalten hatte, begann die konkrete Verbindung mit dem Grenzdurchgangslager Friedland und dem Durchgangswohnheim Unna-Massen. Es waren immer sehr anregende Unterhaltungen mit den neuen Umsiedlern, die mit großem Interesse von dem neuen Leben und den sie erwartenden Verhältnissen hören wollten.
Unsere Familie hatte sich schnell integriert. Wir unternahmen viele Reisen, öfter ich allein, aber auch möglichst viele zusammen mit Waltraut und jemandem von den Kindern. Schon nur Deutschland allein bot und bietet uns viele Möglichkeiten zu Entdeckungsreisen, hinzukamen; die Schweiz, Österreich, Italien, Holland, USA und Kanada. Meine Träume aus der Kindheit wurden Wirklichkeit: Ich stand an der Tellskapelle, erlebte Tirol, war im Hause des Freiheitskämpfers Andreas Hofer – „nach Mantua zum Tode führt ihn der Feinde Schar…“, stand begeistert vor dem Standbild des Schöpfers vom „Donauwalzer“, konnte die Wigwams der Indianer in ihren Reservaten sehen und, nach langjährigem abwägen und Rechnen, eine Standuhr im Wohnzimmer als Familieneigentum aufstellen.
Ein Schock war für mich die Ankündigung, dass ich im April 1983 in den Ruhestand gehen müsse. Mit meinen fünfundsechzig Jahren fühlte ich mich frisch und gesund und hatte nach meiner Meinung auch noch lange nicht alles für meine Familie geschafft. Gut, dass mein sportlicher Drang zum Lernen noch nicht erloschen war. Auf gings in die Industrie- und Handelskammer von Düsseldorf zur Staatlichen Prüfung als Dolmetscher-Übersetzer. Als man mir das Zeugnis als staatlich geprüfter Übersetzer aushändigte, fragte ich nach dem Siegel, der meine Übersetzungen bescheinigen könne. O weh, dafür waren sie nicht zuständig, sondern das Oberlandesgericht Köln könne nach ausgiebiger Prüfung meiner Person ein solches geben oder verweigern. Ich erhielt das Recht zum Siegel mit der Inschrift: „Vom Oberlandesgericht ermächtigter Übersetzer für die russische Sprache“. Im Haus wurde ein Übersetzungsbüro eingerichtet und teilweise erledigte ich noch neben meiner Arbeit als Übersetzer Honoraraufträge in der Beraterarbeit.
Was den Wohnort betrifft, sind wir in unserem Heim mit großem gepflegten Garten fest eingebunden. Obwohl die Kinder alle ausgezogen sind, haben sie und auch die Enkel ihren Platz hier und sind immer herzlich willkommen, auch mit Übernachtungen. Im Hause wurden auch schon viele Familienfeste gefeiert und Jugendtreffen gab es auch viele. Dafür hatten die Kinder das Dachgeschoß sehr hübsch ausgebaut, mit Studiofenster und gemütlichem Kamin.
62
Ab 1990 sind Waltraut und ich Mitglieder der Ev. Freikirchlichen Gemeinde Derschlag. Ich schloss mich dem Männerchor an, Waltraut ist aktiv im Frauenkreis (hierzu Anlage Nr.5). Heute sind alle unsere Kinder mit Familien Mitglieder in Baptistengemeinden am jeweiligen Wohnort. Haus und Garten werden mit gelegentlicher Haushilfe von Waltraut und Friedrich Funk bewältigt. Bis heute noch.
Bergneustadt, den 19. März 1997
Friedrich Funk

Nachtrag

Im Laufe des Jahres 1997 nahm ich regelmäßig Tabletten gegen Bluthochdruck ein und der Hausarzt stellte eine Schrumpfung der linken Niere fest. Beschwerden hatte ich keine, aber durch eine Röntgenaufnahme wurde eine Nierentätigkeit von nur 20% diagnostiziert. Daraufhin wurde ich an einen Nierenspezialisten überwiesen, der die Schrumpfung beider Nieren feststellte. Als die Werte von Kreatinin und Harnstoff im Blut bedenklich wurden, ordnete er die Einleitung einer Dialysebehandlung an. Heute, den 26.Januar 1998 kann ich mich immer noch nicht dazu entschließen.. Meine Einstellung ist nach reiflicher Überlegung folgende: Den Rest der Nierenfunktion mit natürlichen Mitteln anzuregen, aber keine künstlichen Eingriffe (in diesem Fall Dialyse) vornehmen zu lassen, sondern den natürlichen abwarten und hinnehmen.

Gottesdienst in der Notkapelle im Durchgangsheim Unna-Massen, 1982
Beratungssprächstunde in einem Raum der Kapelle in Unna-Massen, 1986
Als Rentnerpaar und Großeltern, 1990

70

Anhang

Стихотворение матери из лагеря

Сижу на койке арестантской
И грустных дум поток несчастный
Проходит по главе моей,
Остановясь на памяти твоей.
Я выну карточку твою
И рядом на стол положу,
На седины твои смотрю,
Событья последних лет произведу.
И вот он, день седьмого марта
Год девятнадцать сорок два….
Пусть ныне будет местом старта
Волны воспоминания.
В этот день , прибыв с работы,
Меня уж ждёт уполномочный
И ордер мне суёт под нос:
„Ты арестован“- произнёс.
Тут обыск, всё верх дном…
Бумагами усеян всё кругом…
Опись имущества – его хоть нет,
записан был велосипед.
А мать на сундуке сидит,
Остывшим взором вдаль глядит,
от боли грудь сжимается
А руки отнимаются.
Лишь полномоченного окрик:
„С вещами собирайся вмиг!“
Вывёл её из состоянья бесчувсвенного,
Тяжкого страданья.
Она на шею мне кидается,
Глаза слезами омрачаются:
„Я вынести это не в силах,
Последний ты в цепи утратах!“
Я успокоить мать спешил:
„Психоз войны“ – я ей твердил,
„Скоро война кончается
И всё это забудется.“
„Давай скорей!“ я спохватился,
Не знаю как в фургоне очутился,
А взгляд был обращён туда,
Где без сознанья мать оставил я.
А дальше?? – дальше КПЗ, допрос,
И предъявили мне
Статью восемь плюс пятьдесят,
Большими сроками чреват.
„Занялся ты среди учителей
Антисоветской агитацией“ …
В обвиненье это я не вник,
Ведь я был молодой и их воспитанник!
„Не отпирайся, подпиши,
В донесеньях нету лжи!“…
И пёс тут грозно зарычал –
И я всё дело подписал.
Свидание с матерью просил,
Вместо неё сёстры пришли.
„Не выдержала наша мать,
Болеет и не может встать.“
Потом тюрьма для следственных держала
В безвестии год одиннадцать дней,
Переживаньями полны. А мать год целый напролёт,
Бессонная всё ждёт и ждёт,
Вестей от сына, приговор.
Но нету, нет, с каких уж пор?
Март месяц, восемьнадцать дней,
Год сорок третий, поскорей меня в контору вызывает ,
Подписывать бумажку приглашают.
Я пододвинул, посмотрел катушка полная в ИТЛ!
Я расписался, будто счёт… А дома мать всё ждёт и ждёт.
72
Теперь этапы, пересылки, и мир блатной и их проделки,
Столыпины и переходы , след оставили свой верный.
Везде была, всюду со мной, молитва матери родной.
Из многих бед меня спасала… а дома мать всё ждёт и ждёт!
В Актюблаг я прибывал, занятье всякое здесь был…
Но по профессии — не ждать – я покорился стал втыкать
Проходит день, проходят два, за ними шли и месяца….
Вдруг стал я письма получать, смотрю на адрес – пишет мать!
„Как я рада, ты живой, в чём нуждаешься, родной?
Пиши, с нетерпеньем жду, не забывай ты мать свою“
Время идёт, уже зима, морозы крепкие, пурга,
а мы на самой высоте леса и фермы ставили.
На узкой лесенки на пятом этаже, стоял я с стойкой в руке
вдруг отскольнулся, оступил, со стойкой вместе вниз летел.
За перекладину я ухватился, сверхчеловечной силы удержался,
пока на помощь не пришли, живым и целым вынесли.
А тут меня все обступили, чуть не воскресшим окрестили.
А голос мне твердит в душе: „Молитва матери в игре! “
Работа, климат непривычный, баланды жидкие и холод зычный…
Всё это в короткий срок вело меня в сангородок.
В большой тревоге мать опять, „надо посылки высылать“
Сама в тяжёлом положенье, мне присылает подкрепленье.
И я поправился, весна: работать начал я слегка,
то там, то тут, – всё испытал, придурком лишь я не бывал…
А время шло, время идёт, сижу теперь уж пятый год.
А сколько гордости, мечты за этот срок погребены?!
Одно могу теперь сказать: не забывал и не забуду мать,
которая годами напролёт всё терпеливо сына ждёт!
Так согласитесь все со мною, за дни, убитые тоскою
за все мучительные сны, мы мать вдвойне любить должны!
И если я вернусь домой, и застаю тебя живой,
Любить, помочь и уважать, я поклянусь, родная мать!

**********
Мама, не хочу допускать мысль о том, что я тебя больше не увижу, но всеравно она иногда привяжется и поэтому решил тебе прислать это стихотворение – нехудожественную, но правдивую. Прошу сохранить как память. Твой сын Фридрих. Объяснение некоторых слов:
1. Катушка полная – Десять лет
2. втыкать – тяжело физически работать
3. Придурок – человек, умеющий заискиванием перед начальством достать лёгкую работу.
73
Freie Übersetzung des Gedichtes in russischer Sprache:
Aktjubinsk
Teure Mama!
Ich sitze auf der Arrestantenpritsche, ein Schwall trauriger Gedanken geht mir durch den Kopf und bleibt bei Dir haften.
Ich suche Dein Foto und stelle es vor mir auf, sehe auf Deine grauen Haare
und rufe die Erinnerung, die Geschehnisse der letzten Jahre zurück…
Und da ist der 7. März 1942, der startet die Welle der Erinnerungen. An diesem Tag,
bei meiner Rückkehr aus der Schule erwartet mich schon ein Bevollmächtigter mit
einer Order zu meinem Arrest. Er zeigte sie vor und sagte: „Du bist verhaftet.“
Sofort begann die Hausdurchsuchung, alles wurde durchwühlt, Papiere lagen
überall auf dem Boden zerstreut. Dann wurde der Besitz aufgeschrieben – ein
Fahrrad. Die Mutter saß mit erloschenem Blick auf eine Truhe, die Kehle war
ihr zugeschnürt und die Hände hingen herab…
Erst der Befehl des Bevollmächtigten: „Schnell die Sachen packen!“ rissen sie aus
ihrer Erstarrtheit. Mit überströmenden Tränen fiel sie mir um den Hals und rief:
„Dieses halte ich nicht durch, denn du bist der Letzte in der Kette der Verhafteten!“
Ich bemühte mich die Mutter zu beruhigen, indem ich erklärte, dass der
Vorgang eine vorübergehende Kriegspsychose sei, bald endet der Krieg
und alles erledigt sich.
„Schneller!“- ertönte der Befehl. Ich riss mich los, wurde zur Tür herausgestoßen, in
einen Wagen gezerrt und los ging die Fahrt zum Untersuchungsgefängnis in den
Bezirk. Mein Blick starrte zurück, wo ich die besinnungslose Mutter hinterlassen
musste.
Weiter folgten Haft und Verhöre. Beschuldigt mit Artikel 58, P.10, die hohe
Haftstrafe vorsah. „Du hast antisowjetische Agitation unter den Lehrern
betrieben,“- sagte der Untersuchungsrichter. Unlogische Beschuldigung, denn
ich war ihr ehemaliger Schüler und noch sehr jung

„Bemühe dich nicht zu widerlegen, in den Berichten sind keine Lügen!“ Der
Schäferhund knurrte drohend und ich unterschrieb die Akte.
Ich bat um eine Begegnung mit der Mutter, es kamen jedoch die Schwestern
und sagten, dass die Mutter krank im Bett liege.
Danach war ich im Untersuchungsgefängnis über ein Jahr. Die Mutter bangte und
wartete in Ungewissheit auf eine Nachricht, auf das Urteil – aber ohne Erfolg.
74
Am 18. März 1943 wurde ich zur Gefängnisverwaltung gerufen, und man gab
mir zur Unterschrift eine Mitteilung: Zehn Jahre Straflager. Ich unterschrieb
es wie eine Rechnung, und zu Hause wartet die Mutter weiter auf eine
Entscheidung, die sie bald erhielt.
Jetzt folgten die Etappen und Etappenstationen, die üblichen Gaunerbanden mit
ihrem Treiben, die vergitterten Stolypinwaggons und zwischendurch Fußmärsche,
alles hinterließ Spuren.
Aber überall, in jeder misslichen Lage begleiteten mich die Gebete der Mutter,
und bewahrten vor vielem Leid, während die Mutter immer noch irgend ein
Lebenszeichen erwartete!
Endlich erreichten wir den Verbannungsort „Aktjublag“. Man musste sofort arbeiten,
zudem harte physische Arbeit, kein Gedanke an Schreibtischarbeiten oder
dergleichen.
Ich musste mich fügen, schuftete bis zur letzten Kraft. Die Tage schlichen hin,
auch Monate und endlich erreichte mich ein Brief von der Mutter:
„Wie glücklich bin ich, dass du noch am Leben bist, schreibe was dir fehlt, ich
erwarte mit Schmerzen ein Lebenszeichen von dir, vergiss deine Mutter nicht!“
Die Zeit geht weiter, es ist schon Winter, Frost und Schneestürme toben und
wir müssen trotzdem auf der vierten Etage ungeschützt Holzarbeiten
verrichten. Auf einer schmalen Leiter mit einer Holzstütze im Arm glitt ich
aus und flog in die Tiefe.
Es gelang mir mich an einem Querbalken festzuklammern, bis man mir zu Hilfe kam
ehe ich abgestürzt war. Alle umringten mich und starrten mich wie einen
„Auferstandenen“ an. Aber eine innere Stimme sagte deutlich: „Hier ist das Gebet der Mutter im Spiel.“
Die schwere Arbeit, die Kälte und die schmale Kost führten mich bald ins
Lagerlazarett. Wieder ist die Mutter in großer Unruhe und sandte Pakete,
obwohl auch sie in Not waren.
Es wurde Frühling, ich erholte mich langsam und durfte leichte Arbeiten ausführen,
nur demütigte mich dieses hart, es ging ums Überleben. Wieviel Stolz,
Selbstbewusstsein und Hoffnung mussten begraben werden…, aber die Zeit schlich
weiter, bin schon fünf Jahre in Unfreiheit.
Aber ein Gedanke lässt mich nicht los: „Ich möchte überleben, noch einmal
die Mutter sehen und ihr das vergelten, was sie im Gebet in Sorgen und
Erwartungen für mich investiert hat!“
75
Übersetzung der Verse auf Seite 18

Nein, ich erlag nicht den Leiden,
stolz hielt ich die Stürme aus;
bewahrte in der Seele Wünsche,
im Körper Kraft, im Herzen Feuer.

Nein, des Lebens bin ich nicht überdrüssig –
ich will leben, ich liebe zu leben.
Die Seele ist nicht erstarrt
durch Verlust junger Jahre;

Es sind noch Vorstellungen wach
für meine Wissbegierde
und für süße Träume in der Zukunft,
für Gefühle und Leidenschaft – für Vieles…

search previous next tag category expand menu location phone mail time cart zoom edit close