Frieda Töws

Ein Vortrag von Frieda Töws geb. Wiens zum Familientref der Nachkommen von Peter Wiens (1853-1931) im Jahr 2013. (Urenkelin).

Die Auswanderung nach Russland

Warum kamen unsere Vorfahren aus Westpreußen nach Russland?

„In dem Westpreußischen Dörfchen Rosenort macht sich Unmut breit. Nur die ältesten Söhne der mennonitischen Bauern dürfen die Frau ihrer Wahl heiraten und eine Familie gründen, da sie automatisch Hoferben sind. Ihre jüngeren Geschwister haben praktisch keine Möglichkeit, ihr Leben zu gestalten. Ein Edikt des Königs ist schuld an der unerträglichen Situation! Da erscheint es wie eine glückliche Fügung, als im November 1788 ein Kolonistenwerber der russischen Zarin erscheint. Katharina II lädt die deutschen Bauern ein, unerschlossene Gebiete im Süden Russlands zu besiedeln. Das Angebot ist mit großzügigen finanziellen und anderen Privilegien verbunden. Im folgenden Jahr machen sich 200 Familien auf den Weg nach Russland und beginnen unter härtesten Bedingungen ein neues Leben.“

So ist unser Urgroßvater, Peter Wiens, 1869 im Alter von 16 Jahren mit seinen Eltern aus Westpreußen nach Russland an die Wolga, auch Trakt genannt (Dorf Lysanderhöh) gekommen. Im Jahr 1876 heiratete er Katharina Bergmann. Nach 16 Jahren glücklicher Ehe verstarb sie am 10.09.1892. Sie hatten 4 Söhne und 3 Töchter. Das Familienfoto ist allen bekannt. Später ging Peter Wiens eine zweite Ehe mit der Witwe Klassen ein, diese blieb kinderlos.

Unsere Großeltern, Cornelius und Agathe Thiessen, heirateten 1909. Großmutter ist, im Alter von 32 Jahren, zu früh aus dem Leben geschieden. Sie hinterließ fünf Kinder, von denen Katharina mit 12 Jahren die Älteste war, es folgte Peter (11 Jahre) , Helene (9 Jahre), Cornelius (6 Jahre) und Dietrich 3 Jahre jung. Zwei Kinder starben im Kindesalter.

Ein Jahr später heiratete Großvater die Cousine seiner verstorbenen Frau, Elisabeth Thiessen unsere Großmutter, die wir alle gekannt haben. Agathe und Hermann sind ihre Kinder. 3 Kinder starben im Kindesalter.

Die Revolution

Im Jahr 1930 waren die Großeltern Wiens als Folge der Revolution gezwungen ihre schöne Wirtschaft zu verlassen. Sie zogen in ein Aussiedlergebiet (Kulakowka). Bei Nacht kam unser Großvater zurück, um die Sommerküche (Backhaus) abzureißen und in Kulakowka aufzubauen. In das verlassene Haus wurden daraufhin Leute einquartiert, die zur Arbeiterklasse gehörten. 2 von 4 Zimmern bekamen die Eltern von Olinde Fast. Letztere ist heute 91 Jahre alt und wohnhaft in Hamburg. Sie teilte mit mir, ihre Erinnerungen an jene Zeit. Auf dem Dachboden des Hauses befanden sich zwei weitere Zimmer mit einer großen Bibliothek. An diesem Ort hatte meine Mutter bei Olindes Mutter heimlich schneidern gelernt.

Im Frühjahr 1931 flohen unsere Großeltern, Cornelius und Elisabeth aus Kulakowka nach Turinsk bei Swerdlowsk. Schon im Herbst 1931 mussten sie die Flucht fortführen, da Großvater wegen einer geschlachteten Kuh verfolgt wurde. Die Kuh hatten sie legal gekauft, es war jedoch nicht erlaubt privat zu schlachten. Da mein Vater zu der Zeit in Petersburg eine Ausbildung machte, zogen die Großeltern in seine Nähe nach Lyuban bei Petersburg gelegen.

Im Mai 1934 fuhr mein Vater nach Saratov, wo er sich bei einem alten Bekannten aufhielt, von da ging es weiter nach Chiwa, um meine Mutter zu heiraten. Nach vielen Umsiedlung Stationen landeten meine Eltern in Kaluga.

Im März 1938 wurde mein Vater, im Sommer jenes Jahres meine Mutter verhaftet. Großvater verkaufte die Kuh, um meine Mutter nach 3-4 Monaten aus dem Gefängnis zu befreien.

Meine Mutter fuhr mit mir und Elisabeth (meiner älteren Schwester) zu O. Cornelius ins Woroneschgebiet. Dort lebten bereits die Großeltern. Im April 1938 hatte Großvater große Sehnsucht nach den Lieben an der Wolga. Bereits in der Stadt Engels wurde er erkannt, verhaftet und mit 56 Jahren zum Opfer der Willkür Stalins, wie uns allen bekannt ist.

Die Kriegsjahre

Am 11. September 1941 wurden alle Deutschen aus der Wolga Republik nach Sibirien verschleppt. Für 60 Personen wurde ein Viehwaggon ohne Sitz- und Liegemöglichkeiten bereitgestellt. Wenn sich noch Platz fand, konnten kleine Möbelstücke mitgenommen werden. So begleitete Großmama eine kleine antike Kommode bis nach Karaganda. Ich meine das jene Kommode heute bei Walja in der Lenina 59-15 steht.

Die Reise von unserem Heimatort bis nach Tugan (Tomskergebiet) dauerte 16 Tage. Heute braucht man für diese Strecke 2 Tage. Da Tante Leni und Großmama mit mir zu Besuch auf den Trakt gefahren waren, mussten wir ebenfalls in den Zug Richtung Sibirien einsteigen.

Am 27.September erreichten wir die Station Rogoshenka. Mama und Tante Vera folgten am 27. November. Sie wurden 2 Monate später aus dem Woroneschgebiet nach Sibirien verschleppt, ihre Endstation sollte Omsk sein. Da die Nachricht mit unserer Adresse sie bereits erreicht hatte, stiegen sie in Tugan aus. Dort trafen sie (es war Gottes Führung) O. Alexander Thiessen, der ihnen weiter half.

In Rogoshenka waren wir nur kurz. Noch vor Weihnachten kamen wir ins Dorf Pesotschnoe, wo uns 2 Zimmer für 18 Personen zugeteilt wurden. Mama und Dati holten aus dem Wald einen großen hübschen Weihnachtsbaum, geschmückt wurde er mit Papierketten und Watteflocken. Wir freuten uns, obwohl Bonbons, Äpfel und Nüsse fehlten….

Drei Schwestern von Papa; Tante Leni, Tante Katharina, Dati, sowie Tante Gatchen, Max, Alexander, Agnes Thiessen und meine Mutter wurden 1942 in die Arbeitsarmee eingezogen.

Am 01.01.1942 wurde Cornelius Wiens geboren. Tante Vera siedelte mit ihrem Sohn nach Pivsawod um. Zwei ältere Verwandte, Tante Lieschen Schmidt und Tante Marie Epp starben im Jahr 1943.

Großmama blieb mit uns fünf Kindern alleine zurück. Hermann (13 Jahre), Leni (10 Jahre), Albert (6 Jahre), Alfred und ich, 4 Jahre alt. Hinzu kamen zwei weitere Kinder, deren Eltern in die Arbeitsarmee mussten. Vom Sommer 1943 bis 1946 waren Emma und Hans-Georg Laub bei uns.

Unsere Großmama hätte ihrem Alter nach eigentlich eingezogen werden müssen. Jedoch veränderte der Kommandant ihr Lebensalter um die zwei Laubs-Kinder bei ihr unterbringen zu können. Tante Leni, Tante Katharina und meine Mutter waren nur einige Monate in der Arbeitsarmee, da bekamen sie einen Brief von Großmama. Diese schrieb: „Wenn keiner von euch kommt, müssen wir alle verhungern…“

Tante Leni und Tante Katharina flohen daraufhin aus der Arbeitsarmee. Zu jener Zeit gab es noch keinen Stacheldrahtzaun und Bewachungshunde. Nach 2,5 Jahren, im Jahr 1945, wurden sie wieder verhaftet. Tante Leni für die Dauer von 8 Jahren und Tante Katharina für 7 Jahre, weil sie Kinder hatte. Glücklicherweise kamen beide bereits nach dem Kriegsende 1946 wieder nach Hause. 5,5 Jahre kämpfte Großmutter mit Arbeit, Gebet und Flehen in Sibirien für unser aller Leben. Durch Gottes Gnade sind wir alle am Leben erhalten, auch wenn wir unter Hunger, Kälte und Entbehrungen viel leiden mussten. Zur Schule sind wir erst sehr spät gegangen, Alfred und ich mit 9 Jahren und Albert noch später. Es fehlte an warmer Kleidung.

Ein Ausschnitt aus einem Brief von Dati: „Am 19.01.1946 bin ich in die Wolga gefallen, im März 1946 von einer hohen Zisterne. Gott hielt beide Male seine schützende Hand über meinem Leben. Dank ihm dafür!!“

Im März 1947 zog Großmama mit uns, Hermann, Leni, Alfred und mir nach Karaganda um.

en 3 Wochen unterwegs. Tante Katharina Schmidt und Mama kamen im September 1947 nach Karaganda. Tante Leni mit Familie und Albert folgten im September 1954 , Dati mit Familie und Tante Gatchen im Oktober 1954.

Onkel Dietrich kam nach 5 Jahren in der Arbeitsarmee im Sommer 1947. Onkel Kornelius nach 10 Jahren Gefängnishaft im Jahr 1951 nach Karaganda. Mein Vater kam nach ebenfalls 10 Jahren Gefängnis im Jahr 1948 frei.

Nach all den schweren Jahren der Trennung, haben wir in Karaganda treu zueinander gehalten. So lange unsere Großmutter noch lebte, versammelten wir uns zu besonderen Anlässen alle in ihrem Hause, in dem viel gesungen wurde. 

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