Lebensgeschichte Jakob Fröse (1911-1996)

Diese Lebensgeschichte von seinem Onkel hat mir Woldemar Fröse zugeschickt. Ich habe einige Fussnoten und Kommentare hinzugefügt. Ich habe auch einige Fotos hochgeladen, die ich auch von Woldemar bekommen habe. <AW>

Jakob Fröse. Eine kurzgefasste 

Lebensgeschichte

gewidmet den Kindern, Enkeln und Urenkeln

Im 18. und 19. Jahrhundert unserer Zeitrechnung tobten in Westeuropa die verschiedensten Kriege. Religionskriege sowie auch Kriege zwischen einzelnen Fürsten. Die Folge davon war die Verarmung der Bevölkerung. Viele der Menschen waren daher gezwungen, ihr Glück in der Fremde zu suchen. Die Einen wanderten nach Amerika aus, die Anderen folgten den Manifesten des russischen Zaren Peter dem Ersten und Katharina der Zweiten.

Meine Vorfahren übersiedelten nach Russland und siedelten sich dort in den unabsehbaren Steppen der unteren Wolga an. Die Stammeltern der Großmutter mütterlicherseits kamen aus Holland. Ihre Familie trug den Namen Hamm. Der Großvater Jakob Jantzen aber war aus Ostpreußen.

Jakob Jantzen – Großvater von Jakob Fröse, rechts Katharina Jantzen. Sie hält ihren Vater an der Hand. Die künftige Mutter von Jakob Fröse

Von des Vaters Seite ist unser Stammbaum sehr kurz. Wir wissen nicht, woher wir kamen. Der Stammbaum beginnt mit unserem legendären Urgroßvater Cornelius Fröse, den man aus bestimmten Gründen den Tollen nannte.

Laut Erzählungen meiner Großmutter hatte er in Wirklichkeit einen tollen Charakter. Überall wollte er der Erste, der Erfahrenste, der Klügste sein. An Feiertagen hatte er immer einen besonderen Platz am Ende der Festtafel, von wo aus er mit lauter Stimme den Gästen meistens von seinen Jagdabenteuern und anderen erstaunlichen Erlebnissen erzählte. Alle hörten ihm in solchen Minuten mit offenem Munde zu und nahmen es ihm nicht übel, wenn er dabei im Eifer mit der Faust auf den Tisch schlug so, dass das Tafelgeschirr nur so klirrte. Meine Großmutter erzählte mir einstmals, dass sie, noch als junges Mädchen, an stillen Sommerabenden am lauten Klappern der Wagenräder und am wilden Galopp der Rosse bereits aus einer Entfernung von 1,5 bis 2 km genau feststellen konnte, dass nur er, ihr zukünftiger Schwiegervater sich näherte. Nur er war fähig, mit solch einem Tempo und Eifer durch die Straßen zu fahren. Sein größtes Vergnügen im Leben war die Hasenjagd. Der größte Feiertag im Spätherbst, wenn schöner, weißer und kalter Schnee über Nacht die Erde bedeckte. An diesem Tag, noch lange vor Sonnenaufgang, versammelten sich bei ihm alle seine sieben Söhne, die natürlich auch alle Jäger waren. Nach einem kleinen Frühstück ging es dann hoch zu Pferde mit einem Rudel Windhunde auf die Hasenjagd. Wie ein Wintersturm sausten sie durch die Steppen, die Straßen, die Gärten und wehe einem Häschen, das in ihren Bereich gelangte.

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Wenn in einem solchen Fall die viel sittsameren Lysander – Bürger des Nachbardörfchens diese Reiterschar schon von weitem erblickten, dann sagten sie zu ihren Kindern: ,,Geht schnell ins Zimmer, die tollen Fröses nähern sich. Sie sind heute wieder einmal in Wut und da kann man von ihnen alles erwarten, nur nichts Gutes.“

Obwohl alle Söhne unseres Ururgroßvaters wilde Recken waren, konnte man sie doch im Allgemeinen nicht tadeln. Jeder hatte seine eigene Wirtschaft und manche von ihnen noch eine Spezialität. Wenn z. B. bei dem reichen Isaak eine Kuh krank wurde, dann bat er Jakob Fröse zu Hilfe, denn der war überall als guter Veterinär bekannt. Wollte man ein Pferd kaufen oder verhandeln, fuhr man zu Hermann Fröse, dem jüngsten Sohn. Dieser konnte besser als alle anderen das Alter und den Gesundheitszustand jedes beliebigen Tieres bestimmen. Wenn man Rat in Agrotechnik brauchte, ging man zu Aron Fröse usw

Jakob Fröse war mein Großvater. Von ihm weiß ich sehr wenig. Er war ein stiller Mensch und liebte es nicht, wenn etwas von ihm erzählte. Sogar fotographieren ließ er sich nie. Er starb noch vor meiner Geburt.

Meine Eltern Aron Fröse und Katharina Jantzen waren lebensfrohe, gesunde und schöne Menschen. Der Vater prahlte in der Jugend öfters mit seiner Kraft. Um diese zu zeigen, trug er Säcke mit 80 kg Gewicht auf die höchsten Getreidespeicher. Als Gast beim Großvater Jantzen zeigte er einstmals ein solches Wagestück. Er biss mit seinen Zähnen in die Ecke eines Tisches mit einigem Tafelgeschirr darauf, hob ihn auf und trug ihn im Zimmer umher. Alle waren darüber erstaunt und noch lange danach zeigte der Großvater allen seinen Verwandten und Bekannten die Abdrücke der Zähne seines Schwiegersohnes in diesem Tisch.

Cousins - beide heißen Aron Fröse
Cousins – beide heißen Aron Fröse. Links der Vater von Jakob Fröse

Jedoch nicht lange dauerte dieses Glück. Noch vor meiner Geburt erkrankte unser Vieh an einer Milzseuche und verreckte. Mit Hilfe der Nachbarn, Verwandten und einigem Kapital der Großmutter wurde wieder Vieh angeschafft, welches im nächsten Winter erneut krepierte. Dieser Zustand und die schweren Arbeiten beim Begraben des Viehs sowie dem Desinfizieren aller Gebäude ruinierten die Gesundheit des Vaters. Er war danach sein ganzes Leben lang immer kränklich.

Meine Mutter, ein aufgewecktes und redseliges Frauchen, war bei allen Menschen unserer Gegend beliebt. An den langen Winterabenden erzählte sie allen lustige Geschichten und beschäftigte sich mit dem Nähen von Kissenbezügen und Bettdecken. Sie häkelte Spitzenkragen, Gardinen und andere künstlerische Erzeugnisse. Öfters wurden meine Eltern von Bekannten an Festtagen eingeladen und dies nur deshalb, weil die Mutter die ganze Gesellschaft unterhielt. Sie wusste immer etwas Interessantes zu erzählen. Niemals suchte sie in der „Tasche“ nach neuen Worten und neuen Erzählungen.

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So verging die Zeit voller Mühe und Arbeit – erleichtert nur durch ein glückliches Familienleben – und am 12. September 1911 wurde ihr erster Sohn geboren, den man zu Ehren seiner beiden Großväter Jakob nannte.

Von allen Seiten beglückwünschte man meine Eltern und wünschte dem kleinen Jakobchen viele, viele Lebensjahre ohne Mühe und Krankheiten… Anfänglich schienen diese Wünsche in Erfüllung zu gehen. Jakobchen wuchs normal, war gesund und lächelte ständig. Im Alter von neun Monaten konnte er nicht nur gehen, sondern schon laufen. Er war aber so klein, dass er unter allen Tischen hindurchlaufen konnte ohne auch nur irgendwo anzustoßen.

Doch die glücklichen Stunden meiner Eltern waren gezählt. Nach kurzer Zeit erkrankte ihr Liebling und kam dem Tode so nahe, dass niemand mehr an seine Genesung glaubte. Jedoch das Schicksal oder eine höhere Kraft, bestimmt, ihn nicht sterben zu lassen, sondern ihm ein langes Leben zu bescheren. In diesem Leben sollten sich aber wie die Wogen im Meer, wie Ebbe und Flut, Glück und Unglück ununterbrochen ablösen.

In der folgenden Zeit entwickelte sich das Jaköbchen – so neckte man ihn später – gesund und munter. Seine Eltern und die Großmutter konnten sich nicht genug an ihm erfreuen. „Du, Jakob“ sagte die Großmutter öfter zu mir, „du wirst einmal Lehrer werden, du hast die Gaben dazu“.

Jedoch nicht lange währte diese Idylle. Es entflammte der Imperialistische Krieg. Der Vater wurde als Mennonit vom Dienst mit dem Gewehr in der Hand befreit und aus diesem Grunde in die Arbeitsarmee mobilisiert. Die Mutter blieb mit der Großmutter allein in der Wirtschaft. Allmählich verschlechterte sich ihre wirtschaftliche Lage. Die Menschen wurden täglich unzufriedener. Es entstanden politische Organisationen, die gegen die Zarenregierung auftraten. In der Luft schwebte der Geist des Kommunismus. Man strebte nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen – unabhängig von Rang, Reichtum oder Bildungsstufe.

In der Folge von all diesem Durcheinander brach dann 1917 die sozialistische Revolution aus. Der Zar wurde gestürzt und im Lande begann der Bürgerkrieg. In dieser Zeit wusste man oft nicht, wer an der Regierung war. Heute waren es die „Weißen“ mit ihren zaristischen Generälen und morgen die „Roten“ unter der Führung Lenins. Unter den Repressalien dieser beiden Kräfte litten alle Bürger und besonders die ärmere Bevölkerung. Im Jahre 1918 entstand der sogenannte Volkskommunismus, während dem man den Bauern nicht nur das Getreide, sondern alles Essbare abnahm damit die Stadtbevölkerung zu versorgen.

Die Gesichter der Eltern waren jetzt sehr betrübt. Oft weinte meine Mutter, denn sie hatte für ihr Jaköbchen nichts weiter zu essen als Brezeln, gebacken aus einem Gemisch von Kleie mit Kürbis. – Und dennoch war das noch nicht der Höhepunkt der Qualen. Es nahte das schreckliche Hungerjahr an der Wolga, das Jahr 1921. Im Sommer dieses Jahres verdorrten dort auf den Feldern nicht nur die Getreidekulturen, sondern auch die Gräser. Schon im Sommer begannen die Pferde vor Hunger zu verrecken. Überwintert wurden nur die Rinder, da diese mit ihrem komplizierten Verdauungsapparat auch altes, mehrjähriges Stroh fressen konnten.

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Alles Jungvieh, das bis zum Winter noch erhalten geblieben war, wurde geschlachtet und verzehrt. Man erzählte sogar, dass in den großen Wolgadörfern, wo die Hungersnot noch schlimmer war, manche wie wahnsinnig wurden und sogar Fleisch von Leichen nicht verschmähten. Viele, viele Deutsche verhungerten in diesem Jahr. In unseren Mennonitendörfern war die Lage etwas leichter. Hier gab es doch noch einige Vorräte. Manchen war es gelungen, in den Jahren zuvor etwas Getreide zu verstecken. Alle hatten Kühe, die ihnen auch mit Strohfutter etwas Milch gaben. Die Schulkinder wurden einmal am Tage in einer amerikanischen Küche gespeist. Das war eine große Erleichterung für die Eltern. Alle die diesen Winter überlebten, atmeten im Frühling 1922 auf. Es war ein segensreiches Jahr. Alle Felder waren mit frischem Grün bedeckt. Zur Verwunderung aller wuchs überall ein Barbenkraut welches, wie die Alten damals sagten, Gott für uns gesät hatte. Diese wilde Kultur war ein herrliches Futter für das übriggebliebene Vieh. Aus seinem Samen gewann man kostbares Pflanzenöl, das einige Jahre lang alle anderen Fettarten ersetzte.

In dieser Zeit verkündete man Lenins Neue Ökonomische Politik und in der Folge wurde die erzwungene Getreideablieferung durch eine Naturaliensteuer ersetzt. Man gab den Bauern Samen zur Bestellung der Felder. Man half ihnen beim Anschaffen von jungem Rassevieh. Durch eine Genossenschaft organisierte man die Verteilung einfacher Getreidemähmaschinen, Reihensähmaschinen und anderer einfacher Maschinen.

Solche Maßnahmen wirkten auf unsere Bauern wie Hefe im Teig. Sechs Jahre brauchten sie nur dazu um unsere kleinen Ortschaften in blühende Oasen zu verwandeln. Auf einigen landwirtschaftlichen Ausstellungen zeigten wir in jener Zeit reinrassige, schwarzgefleckte Kühe holländischer Rasse. Ebenso Orloffer Traber und englische Mastschweine, spanische Schafe und vieles andere. Unser Jungvieh und die Käsearten aus unseren Käsereien fanden Verbreitung in allen Gegenden unserer großen Heimat. Die kleine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen war wiederum ein Musterbeispiel für alle anderen Völker der Sowjetunion.

In diesen, für alle Bauern glücklichen Jahre, verbrachte ich den größten Teil meiner Schulzeit. Unser Dörfchen Orloff war klein. Es hatte nur ungefähr 20 Wirtschaften, aus denen nicht mehr als 30 Kinder die Schule besuchten. Die Beschäftigungen wurden von einem Lehrer in einem Zimmer durchgeführt. Alle waren in drei Klassen eingeteilt und verbrachten in jeder Klasse 2 Jahre. Nach sechs Jahren beendeten wir die Schule mit guten Kenntnissen in der Muttersprache und Mathematik. Wir konnten fließend Russisch lesen und schreiben, hatten einige Kenntnisse der Geometrie und Naturkunde. Kurz gesagt, wir waren vorbereitet, fleißige und kulturelle Bauern zu werden. Nach der Dorfschule besuchte ich noch zwei Jahre eine Siebenjahres – Schule und beendete diese im Frühjahr des Jahres 1927.

Wie verbrachte ich aber in diesen Jahren meine freie Zeit?

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Für Kinderspiele hatte ich selten Zeit. Im Sommer half ich viel den Eltern. Der Mutter im Garten, wo viele Blumen blühten wie Tulpen, Schwertlilien, Päonien, Rosen, Astern, Löwenmaul, Vergissmeinnicht und andere. Während der Erntezeit half ich schon dem Vater beim Beladen der Erntewagen und dem Setzen der Heu- und Getreideschober. Während der Streifzüge in der Umgebung sammelte ich bunte Glas- und Porzellanscherben. Davon hatte ich eine große Kollektion in meinem kleinen selbstgebauten Häuschen. In der Winterzeit spielte ich oft Dammbrett und las alle auffindbaren Bücher. Mit besonderem Interesse studierte ich drei Bände über Weltgeschichte und einige über Sternenkunde. Auch jetzt schlief mein Sammlerinstinkt nicht. In diesen meist armen Jahren bestanden meine Sammlungen aus künstlich hergestelltem Konfekt. Es entstand aus einigen Stücken Toilettenseife, die damals eine große Rarität darstellten. Als Amerika uns konservierte Milch sandte, sammelte ich die zierlichen Papierumschläge, mit denen die Büchsen beklebt waren. Schon damals interessierte ich mich für Schmetterlingssammlungen.

Von 1927 bis 1929, gerade zwei Jahre, arbeitete ich als erwachsener braver Ackersmann und machte mich mit allen Arbeiten in der Landwirtschaft vertraut. Ich war ein guter Fuhrmann und Reiter. Alle diese mir damals angeeigneten Fertigkeiten waren mir in meinem späteren Leben oft nützlich. Sie halfen mir, die größten Schwierigkeiten in der Arbeitsarmee zu überwinden. Aber auch diese glückliche Zeit verlief für mich nicht ohne Gemütserschütterungen. Im Jahre 1924 starb meine liebe Mutter an Wassersucht. Die überlebten Schwierigkeiten hatten ihren Körper ruiniert und sie musste uns für immer verlassen. Für mich, ihrem Liebling, war dies ein schrecklicher Schlag. Nie mehr in meinem Leben wurde von mir jemand mit dem Wort ,,Mama“ angesprochen. Es war für mich heilig und konnte auf keinen anderen Menschen übertragen werden. Nur in späten Abendstunden vor dem Einschlafen flüsterte ich: ,,Mama, wo bist du? Bist du im Himmel, dann schaue auf uns nieder. Behüte und beschütze uns vor allen Unannehmlichkeiten in unserem weiteren irdischen Leben. Vergiss uns nicht, wie wir auch dich nie vergessen werden“.

Im Herbst 1929 beendete man die Neue Ökonomische Politik. Lenin war schon einige Jahre tot und der Tyrann Stalin begann jetzt mit Sturm und Drang und schrecklichen Repressalien den Sozialismus auf seine Art weiter aufzubauen. Jetzt galt die Losung: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns und muss vernichtet werden.

Meine Kindheit und erste Jugendzeit waren damit abgeschlossen. Von nun an hieß es nur kämpfen und kämpfen für die „lichte Zukunft“ des Kommunismus.

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II. Teil

der Lebensgeschichte des russischen Deutschen Jakob Fröse 

1929 bis 1941

Im Sommer des Jahres 1929 wurde der „Neuen Ökonomischen Politik“ Lenins ein Ende gemacht, da sie die Kleinbourgeoisie wieder hatte aufleben lassen.

Alle wohlhabenden Bauern nannte man jetzt Kulaken (Kulak auf deutsch = Faust) und begann mit ihrer Endkulakisierung, was folgendermaßen durchgeführt wurde. Ein Vertreter des Dorfsowjets überbrachte jedem von ihnen einen Befehl, in dem es hieß, dass sie eine hohe Getreidesteuer abzuführen hätten. Wenn sie diese Steuer nicht aufbringen konnten, wurde ihnen als Strafe dafür fast alles Vieh abgenommen und in die umliegenden Sowjetwirtschaften überführt. Nach einigen Tagen stellte man an sie eine noch höhere Forderung, die sie natürlich wiederum nicht ablieferten – wofür man sie jetzt endgültig entkulakisierte. Der Bauer wurde arrestiert und zur Zwangsarbeit geschickt. Manche wurden sogar erschossen. Den anderen Familienmitgliedern aber nahm man alles bis auf ein Minimum ab. Letzteres bestand nur aus der Bekleidung. So wurden sie auf einem Wagen bis an die Grenze unseres Rayons gefahren. Dort erlaubte man ihnen, sich Erdhütten aufzubauen oder auszugraben um zu überwintern. Nachdem man sich mit den wohlhabenden Bauern, beschäftigt“ hatte, ging man zu den mittleren Bauern über. In unserem Dorf wurde auf diese Weise etwa die Hälfte der Bauern entkulakisiert.

Schon am Anfang des Winters, nachdem man die noch übrig gebliebenen Bauern genügend eingeschüchtert hatte, gingen die sogenannten Aktivisten, zu denen auch ich gehörte, von Haus zu Haus und schrieben alle auf, die freiwillig in die Kollektivwirtschaft eintreten wollten. Der Erfolg war überraschend. Fast 100% der erwachsenen Bevölkerung wurden an einem Tag Kolchosbauern.

Jeder dieser Bauern hatte das Recht, eine Kuh, ein Schaf, ein Schwein und einige Hühner für sich zu behalten. Alles andere, außer dem Haus und der Kleidung, musste in die kollektivwirtschaft abgegeben werden.

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In dieser Zeit musste man sich sehr viel mit der Bevölkerung beschäftigen. So wollte man ihre Weltanschauung ändern, wollte sie für den Sozialismus begeistern und sie mit den Beschlüssen der Partei bekannt machen.

Wer sollte aber diese Arbeit durchführen? Bei uns Mennoniten gab es damals keine Pioniere, keine Komsomolzen, keine Kommunisten – und doch wurden alle diese Arbeiten gründlich durchgeführt. Wir waren immer in den ersten Reihen bei der Erfüllung der Pläne unserer Regierung. Dabei halfen die sogenannten Aktivisten, das waren meistens junge Burschen die von den Losungen des Sozialismus für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beseelt waren. So waren wir bereit, Tag und Nacht für sogenannte Stäbchen, die der Brigadier täglich ausstellte, zu arbeiten. Wir verbreiteten Zeitungen und Neuigkeiten aus der Literatur unter der Bevölkerung. An den Winterabenden gingen wir in den Klub, den man in der ehemaligen Kirche <in der Orloffer Kirche. AW> eingerichtet hatte und zeigten dort kleine Theaterstücke, deklamierten Gedichte und sangen Lieder. Oft zeigten wir sogar sogenannte lebende Zeitungen. Der Text dazu wurde von uns selbst in Gedichtform niedergeschrieben und den Kolchosbauern meistens vorgesungen. Wir kritisierten darin einerseits Faulenzer, Nichtstuer und Diebe, lobten aber andererseits die sogenannten Stachanowarbeiter[1]. Sang von den Erfolgen der besten Feldbaubrigaden, den besten Melkerinnen und Viehpflegern. Im Sommer arbeiteten wir als Agitatoren und lasen in den Feldbaubrigaden Zeitungen vor. Wir gaben Zeitungen heraus und gaben manchmal sogar kleine Konzerte. Wie verlief aber die gewöhnliche Arbeit in den Brigaden? Hierbei gab es besonders in der ersten Zeit, den Jahren 1929 bis 1931, sehr große Schwierigkeiten. Niemand wollte dort für ,,Stäbchen“[2] arbeiten. Die armen Bauern hatten meistens während der Entkulakisierung etwas für sich „privatisiert“. Für ein Jahr waren sie mit allem versorgt und schauten deshalb von der Seite auf die Kolchosarbeiter. Sie dachten, strampelt nur mit Händen und Füßen für die helle Zukunft des Kommunismus, wir werden noch etwas warten um wenigstens die ersten Resultate der neuen Wirtschaftsordnung zu sehen.

Die wenigen Mittelbauern, die in die Kollektivwirtschaft aufgenommen waren, saßen meistens in der Kolchosverwaltung. Sie waren als Wirtschaftsleiter, Inspektoren für Arbeitsqualität und Buchhalter beschäftigt. Für die schwere Arbeit kamen jetzt wieder die Aktivisten an die Reihe. Wir, mit unserem Enthusiasmus, waren auch dazu bereit.

Als man in unserer Nachbarschaft eine Feldbaubrigade bildete, da waren wir 4 junge Burschen das Herz dieser Brigade. Hauptsächlich in der Winterzeit waren wir die einzigen Arbeiter, die das Vieh fütterten und um dasselbe bemüht waren. Um uns die Arbeit zu erleichtern, richteten wir es uns in einem der Zimmer recht gemütlich ein. Möbel, sogar ein Harmonium, hatten wir uns aus den jetzt leerstehenden Kulakenhäusern herangefahren. So konnten wir jetzt hier in der freien Zeit etwas ausruhen und sogar musizieren, denn zwei von uns waren ganz gute Musikanten

[1] Stachanow arbeitete in den 1930er in einer Kohlengrube und überfüllte seine Tagesnorm um das Mehrfache. Diese Arbeitsweise fand viele Nachahmer. AW

[2] Stäbchen oder Striche wurden jedem Kollektivisten für einen Tag Arbeit in der Kolchose in seine Liste gesetzt. Nach der Ernte bekam er einen Anteil vom Erwirtschafteten in Naturalien „ausgezahlt“. Steuern und Abgaben reduzierten stark das Einkommen der Bauern. AW

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Mit Geige und Harmonium spielten sie lustige Tänze, so dass wir uns öfters nicht enthalten konnten, einen schönen Walzer oder eine lustige Polka zu tanzen. Nachts schliefen wir ruhig und träumten von unserem blühenden zukünftigen Leben. Von der glücklichen Zeit im Kommunismus, wo jeder arbeiten kann nach Belieben und verbrauchen nach Bedarf. Darüber, dass wir für „Stäbchen“ arbeiteten, die natürlich nichts wert waren, machten wir uns keine Gedanken. Mit Essen und Kleidung versorgten uns die Eltern.

Große Schwierigkeiten erwarteten uns im ersten Kolchosfrühjahr, dem Jahr 1930. Die Pferde, die im Winter am Strohfutter nicht verreckt waren, hatten keine Kraft und die Arbeit ging nur im Schneckentempo voran. Den großen Aussaatplan konnten wir natürlich nicht rechtzeitig erfüllen und mussten deshalb bis in den Sommer hinein vertrocknete Felder umgraben und Weizen säen. Jeder von uns wusste, dass diese Arbeit Schaden anrichtet, denn der Weizen wird nicht aufgehen und auf solchen Feldern würde in diesem Jahr auch kein Gras mehr zu erwarten sein. Die älteren Menschen schüttelten die Köpfe, wenn sie uns bei dieser Arbeit sahen. Es durfte aber nichts dagegen gesagt werden, weil jeder, der nur an der Richtigkeit der Parteilinie zweifelte, sofort als Volksfeind bezeichnet und moralisch und physisch vernichtet wurde.

Die Ernte des ersten Kolchosjahres war gering. Für unsere Arbeit bekamen wir fast nichts. Alles Getreide bis zum letzten Korn musste an den Staat abgeliefert werden und die Bevölkerung erwarteten Hunger und Not. Es kam soweit, dass man altes Stroh zweimal durch die Dreschmaschine gab und die verschimmelten und von den Mäusen zernagten Körner den am notleidendsten Kolchosbauern für ihre Arbeitseinheiten zuteilte.

Im Winter 1931 hörte man davon, dass wir bald Traktoren erhalten würden. Daher besuchten wir nun jeden Abend Kurse zum Erlernen und Vertraut machen mit den neuesten landwirtschaftlichen Maschinen. An solch einem Abend kam damals zu mir der Vorsitzende unserer Kollektivwirtschaft Heinrich Penner und fragte mich, ab ich auch andere Kurse besuchen würde. Es sollte ein Junge ins Rayonzentrum geschickt werden und zum Kontrollassistenten für unsere Milchviehwirtschaften ausgebildet werden. Ich war einverstanden und fuhr am nächsten Morgen nach Selmann, dem Rayonzentrum, von wo aus ich schon nach einem Monat als junger Spezialist in die Milchfarm unserer Kollektivwirtschaft zurückkehrte. Meine erste Arbeit bestand jetzt darin, die Journale über die Abstammung und die Reinrassigkeit jedes Rindes unserer holländischen Rasse zu führen. Weiterhin musste ich jede Woche für jede Kuh die nötigen Futtereinheiten festlegen. Hierbei kam dann eine große Dummheit zum Ausdruck. Eine Kuh brauchte z. B. 30 Futtereinheiten am Tage. Um diese durch Stroh zu ersetzen, denn anderes Futter hatten wir nicht, hätte die Kuh täglich einige Tonnen davon fressen müssen. Das war natürlich nicht möglich und man lachte mich dafür aus. Einmal im Monat musste ich Fettgehalt der Milch jeder Kuh bestimmen. Im Sommer leitete ich die Arbeiten beim Ausgraben der ersten Silogruben. Bei dieser Arbeit traf ich die Geige spielenden Hänschen; einer aus unserer ersten Feldbaubrigade. Er war auch nicht Traktorist geworden und arbeitete als ältester

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Tabel-Führer im Kolchos. Außerdem war er überall bekannt als ausgezeichneter Dorfmusikant. Auf der Suche nach einer Musikschule, wo man sich die nötigen theoretischen Kenntnisse der Musik aneignen konnte, kam er in unsere Hauptstadt Engels[1] an der Wolga. Dort, so erzählte er mir, wird eine Schule für die Kolchosjugend eröffnet und vielleicht willst du dort eintreten. Ich war über diese Nachricht sehr erfreut. Damals hing doch überall die Losung: „Lernen, lernen, nochmals lernen“ und dem wollte ich folgen. Als mein Freund zum zweiten mal nach Engels fuhr, übergab ich ihm meine Zeugnisse über den Abschluss der Siebenjahres-Schule und wartete auf Antwort. In der zweiten Augusthälfte hieß es dann, Genosse Fröse, sie sind als Student des dritten Kurses der Arbeiterfakultät am Deutschen Pädagogischen Institut aufgenommen, erscheinen sie am 1. September 1931. Ich war glücklich. Mein Kindheitstraum und die Prophezeiungen meiner Großmutter und unseres Nachbarn, dass ich einmal Lehrer werden würde, schienen sich zu verwirklichen. Obwohl die materielle Lage damals sehr schwierig war, wurden wir dort dreimal täglich mit Essen versorgt. Von zu Hause bekamen wir keine Hilfe. Meine 360 Arbeitseinheiten, die ich in diesem Jahr in der Kolchoswirtschaft schon verdient hatte, musste ich der Wirtschaft schenken, denn wir bekamen ja an der Ausbildungsstelle etwas zu essen.

Zu Hause aber wurde die materielle Lage ungeheuer schwer und manche hungerten wirklich. Voller Enthusiasmus durchflogen wir neugebackene Studenten das Programm der Mittelschule in einem Jahr und im Sommer 1932 wurden wir ohne Examen, ohne Prüfungen alle – ohne Ausnahme – auf den ersten Kursus des Pädagogischen Instituts überführt. Auch hier gab es Schwierigkeiten. Das Gebäude war ohne Verstand von einem Architekten neu gebaut worden. Im Winter waren nur zwei warme Räume vorhanden. In allen anderen war es so kalt, dass wir

Studenten nur mit Bleistiften schreiben konnten. Die Tinte war eingefroren. In das Internat brachte man uns zum Heizen Espenbäume aus dem Wald, die wir nur zum Brennen bringen konnten, wenn es uns gelang, irgendwo in einem Lagerraum des Magazins Verpackungsmaterial aus Holz zu stehlen.

Jeden Winter waren meine Füße deshalb mit roten Frostbeulen bedeckt. Trotzdem verloren wir aber nicht den Mut, denn wir waren jung und glaubten an die Versprechungen der Kommunisten, die uns eine glückliche rosafarbene Zukunft prophezeiten.

Noch ein wichtiges Ereignis, von dem es sich lohnt, zu schreiben, fand im Winter desselben Jahres statt. Es wurde mit allen Studenten sämtlicher Kurse ein Diktat geschrieben, das Folgen hatte. Drei Tage dauerte die Durchsicht dieser Arbeiten, bis sich endlich unsere Pädagogen entschieden, das Resultat zu veröffentlichen. Über 50% aller Studenten beherrschten ihre Muttersprache nicht! Sie hatten schlechte Noten für ihre Arbeit bekommen und viele unserer Mitstudenten wurden danach vom Studium ausgeschlossen.

[1] Engels die Hauptstadt der neugegründeten Republik der Wolgadeutschen. Davor hieß sie Pokrowsk, umgangssprachlich wurde dieser Ort auch Kosakenstadt genannt. AW

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Die anderen aber wurden ermahnt, fleißig zu lernen. Nach jedem Semester wurden jetzt Prüfungen durchgeführt und alle unsere Arbeiten streng zensiert. Ich erhielt für das bewusste Diktat eine gute Note, was ich meinen Kenntnissen der Muttersprache verdankte, die ich in unserer kleinen Dorfschule erworben hatte.

Die Zeit aber eilte mit Riesenschritten voran. Ich wurde der beste Student des zweiten Kurses der Ersten Biologischen Fakultät unseres Institutes und man versprach mir für gute Resultate beim Lernen eine Prämie. Die Brotkarten wurden verändert; wir konnten uns jetzt schon öfters satt essen. Mir und einem meiner Mitstudenten versprach man Arbeit als Laboranten des Zoologischen Kabinetts und uns dafür sogar zu entlohnen. Alle atmeten auf und dachten, dass wir jetzt die größten Schwierigkeiten in unserem Leben überstanden hätten.

Das Unglück stand aber bereits vor meiner Tür. Im April berichtete auf einer Studentenversammlung einer der Studenten unseres Kurses, – der einige Jahre älter war als ich, dass er als Kind einen Sommer bei unserem Nachbarn zu Hause als Kuhhirte gearbeitet und auch unsere Kühe mitgehütet habe. Weiterhin sagte er, dass wir Ende der Zwanziger Jahre mit unseren beiden Nachbarn einen Traktor als Eigentum gehabt hätten. Letzteres war natürlich gelogen und dennoch beschloss man, den Direktor des Institutes zu bitten, mich als Kulakensohn aus dem Institut zu entfernen. Am nächsten Morgen schon hing im Vestibül desselben der Befehl, dass der Student Fröse, Jakob, wegen antisowjetischer Ausfälle auf drei Jahre aus dem Institut ausgeschlossen ist. Ich dachte, dass hier ein Missverständnis vorliegt und ging zum Direktor mit der Frage, wessen man mich eigentlich beschuldige. Darauf erwiderte er, dass gestern auf der Komsomolversammlung sich jemand erinnert hätte, dass ich einstmals im Winter nach dem Besuch einer Politveranstaltung gesagt hätte, dass mir die Beschlüsse des 17. Parteitages nichts geben würden. Ich war wie vom Blitz getroffen, denn es war gelogen und doch auch etwas Wahres daran. In Wirklichkeit sagte ich damals nach einer Politzusammenkunft, die einer unserer Studenten ohne jegliche Vorbereitung durchgeführt hatte, dass sie mir nichts gegeben hätte. Von den Beschlüssen des 17.Parteitages war aber damals nicht die Rede. In solcher Lage nach Gerechtigkeit oder Wahrheit zu suchen, konnte in jener Zeit keine Rede sein. Man musste sich in solchen Fällen verstecken um nicht noch mehr verleumdet zu werden.

Ich fuhr nach Hause, wo man mich ganz gut aufnahm und begann in der Buchhaltung der MTS (Maschinen- und Traktorenstation) zu arbeiten. Ungefähr zwei Monate dauerte es, bis ein Spitzel dem Direktor dieser Organisation mitteilte, welchen schrecklichen Sowjetfeind er in seine Buchhaltung aufgenommen habe und schon am nächsten Morgen wurde ich von dort wie ein fremder Hund fortgejagt.

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Wiederum schlich ich in meine Kollektivwirtschaft, aber nicht um die Hände in den Schoß zu legen, sondern um weiter für mein Dasein zu kämpfen. Ich schrieb ein Gesuch an die Abteilung für Volksbildung unseres Rayons und bat sie, mich als Lehrer in meinem Heimatdorf anzustellen. Da in meinen Dokumenten nichts von dem Ausschluß aus dem Institut vermerkt war, wurde meiner Bitte entsprochen und ich begann am 1. September 1934 meine Arbeit als Biologielehrer in unserer Siebenjahresschule.

Dort war ich in meinem Element und als geborener Lehrer hatte ich natürlich in dieser Arbeit Erfolg. Alle Schüler waren in meinen Stunden diszipliniert und liebten mich. Ich war wie Hans im Glück berauscht von meinen Erfolgen.

Jedoch nicht lange dauerte dieser schöne Traum. Nach einigen Monaten wurden alle Lehrer unserer Schule ins Nachbardorf auf eine Versammlung eingeladen, auf deren Tagesordnung nur eine Frage stand: Kampf den klassenfeindlichen Elementen in unserer Mitte! Ein Spitzel des Ministeriums für innere Angelegenheiten erzählte hier in seiner Ansprache, dass der Lehrer Jakob Fröse vor einigen Monaten für antisowjetische Ausfälle aus dem Institut ausgeschlossen wurde und verdächtigte mich der schrecklichsten und verlogensten Taten, die ich dort begangen haben sollte. Alle waren darüber erstaunt. Meine Erwiderung dazu wurde nicht mehr angehört und in der Folge davon wurde ich schon am nächsten Morgen nicht mehr zum Unterricht zugelassen.

Zum dritten Mal wanderte ich mit gesenktem Kopf wiederum in meine Feldbaubrigade, wo man mich immer mit offenen Armen empfing. Dort wusste man genau, dass ich ein parteiloser Kommunist, ein Aktivist für die sozialistische Wirtschaftsform, ein ehrlicher Mensch bin und kein antisowjetischer Agent oder Kulakensohn.

Im Winter dieses Jahres übernahm man mich trotz aller Vorwürfe, die gegen mich erhoben worden waren, in die Kolchosverwaltung als Rechnungsführer. Nebenbei, in der freien Zeit, organisierte ich jetzt die Kolchosjugend zu künstlerischer Tätigkeit. Wir gaben zusammen Wandzeitungen heraus und führten andere Arbeiten als Agitatoren für den sozialistischen Wirtschaftsaufbau aus.

Ich hatte mich in dieser Zeit schon mehr oder weniger mit meiner Lage zufriedengegeben und die Hoffnung, Lehrer zu werden, schwand von Tag zu Tag. Ich wurde wortkarg und hatte zu niemanden mehr Vertrauen. Mit den Lehrern unserer Schule jedoch blieb ich in ständigem Kontakt. Ich traf sie öfters in den Traktorenbrigaden, im Klub auf der Dorfbühne, wo wir gemeinsam Theaterstücke aufführten und besuchte sie manchmal auch als Gast um mich mit ihnen über Pädagogik und Politik zu unterhalten. So lagen wir – einstmals drei junge Enthusiasten – im August im hohem Grase und schauten in den blauen Himmel um von unserer Zukunft zu träumen.

In dieser Zeit öffnete sich die Schultür und der Direktor kam direkt auf mich zu und überreichte mir ein Schreiben. Erstaunt darüber, fürchtete ich mich, es zu lesen,

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denn ich erwartete von niemandem mehr etwas Gutes. Vielleicht, so dachte ich, hat jemand für mich noch eine strengere Bestrafung erdacht, die mich dann endlich nicht nur moralisch, sondern auch physisch vernichten soll. Der Direktor bemerkte meine Sorge und meinte, ich soll nicht bange sein, es gäbe eine gute Nachricht. Ich las und konnte anfangs nicht begreifen, was geschehen war, denn es stellte sich heraus, dass ich nicht umsonst gehofft hatte. Es war ein Wunder geschehen, ich war rehabilitiert und vom 1. September 1935 wieder als Lehrer angestellt.

Lehrer und Schüler vor der Schule in Orloff. Jakob Fröse sitzt rechts (12). Ausführliche Bildbeschreibung unter Kolonie>Orloff>Fotos

Wiederum arbeitete ich in der Schule meines Heimatdorfes. Jetzt aber schon in der Zehnjahresschule. Um meine Kenntnisse zu erweitern, gelang es mir schon nach zwei Jahren als Fernstudent in das Deutsche Pädagogische Institut aufgenommen zu werden und mein Studium fortzusetzen. Auch hier – wahrscheinlich zum Ärger meiner Feinde – hatte ich Erfolg. Meine schriftlichen Arbeiten wurden allen anderen Studenten auf der Ehrentafel gezeigt. In meinem Studentenbüchlein mehrten sich die ausgezeichneten Noten mit jedem Examen. Ich bemühte mich, die Studenten, die am Institut geblieben waren, einzuholen und schnellstens das Institut zu beenden.

Zwei Jahre verflossen so voller Mühe und Arbeit bis sich eines Tages – richtiger, während einer Nacht, wieder dunkle Wolken über mir zusammenballten. Mein Vater wurde arrestiert, zum Volksfeind erklärt und in ein Konzentrationslager abtransportiert. Ich spürte in diesen Tagen schon den Hauch meiner Verfolger, denen es nur noch übrig blieb zuzugreifen, mich auch zu arrestieren und für immer zu liquidieren.

Beschuldigungen gegen einen beliebigen Menschen zu finden, war damals sehr leicht. In den furchtbarsten Folterkammern der Untersuchungsrichter konnte man in einer Nacht den unschuldigsten Menschen zwingen, für sich selbst das Todesurteil zu unterschreiben. Jedoch in meinem Leben war dies nicht vorgesehen. Sie durften mich nicht fangen, denn in diesen Tagen erschien ein Regierungserlass, in dem stand, dass die Kinder nicht verantwortlich für die Taten der Väter gemacht werden. Ich atmete erleichtert auf. Für dieses Mal war ich wieder gerettet, musste aber in Zukunft jedes Wort bedenken, ehe ich es aussprach. Man war damals überall von Geheimagenten umzingelt und wurde ständig belauscht.

Ein Beispiel hierzu, wie schwer es damals war, in der Schule zu arbeiten. Eine unserer Lehrerinnen erzählte damals im Lehrerzimmer, dass sie am Abend zuvor einen sehr interessanten Gast aus dem Rayonzentrum bewirtete und sich lange mit ihm unterhalten habe. Nach einiger Zeit wurde dieser Mensch als „Volksfeind“ verhaftet. Unsere Lehrerin aber wurde danach zum Päd. Sowjet eingeladen, im Verlauf einiger Stunden geprüft und befragt, ob sie von diesem Volksfeind nicht als Spionin angeworben sei. Man beschimpfte sie dafür, dass sie sich mit einem solchen Menschen freundschaftlich unterhalten und ihn sogar gelobt hatte.

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Dieser Vorfall und viele andere Zwiste im Lehrerkollektiv unserer Schule führten dazu, dass man einen Teil unserer Lehrer in andere Schulen versetzte und sie durch junge Spezialisten aus dem Pädagogischen Institut ersetzte. Mich versetzte man in die Siebenjahresschule der Sowjetwirtschaft Nr. 105.

Im Jahr 1938 geschah für mich noch ein wichtiges Familienereignis. Ich heiratete. Obwohl mich die deutschen Mädchen von allen Seiten wie Schmetterlinge umflatterten, entschied ich mich für ein Russenmädchen, das einzige in unserem Mennonitendörflein.

Sie arbeitete in unserer Käserei als Laborantin und ich fand in ihr eine gesprächige, lustige und mutige Lebensgefährtin. Mit ihr zusammen begannen wir am 1. September 1938 auf der Sowjetwirtschaft Nr. 105 unsere Lehrerarbeit. Sie arbeitete in den Anfangsklassen der Russenkinder; ich als Biologe in den Oberklassen der russischen sowie auch der deutschen Schüler.

Jakob Fröse mit seiner Frau Xenia, geb. Kolesnikowa.

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Im Jahre 1939 wurde ich als Leiter des Lehrteils dieser Schule angestellt und organisierte im Einklang mit dem neuen Direktor der Schule ein fleißiges Lehrerkollektiv, das guten Erfolg bei der Erziehung der jungen Generation hatte.

Im Sommer 1941 hatte ich endlich den vierten Kursus der Biologischen Fakultät des DPl beendet und begann mich auf das Staatsexamen vorzubereiten.

Jedoch wurde dieser Prozess plötzlich auf lange, lange Zeit unterbrochen. Am 21.Juni um 12 Uhr hörten wir plötzlich die aufgeregte Stimme des Direktors am Lautsprecher, der erklärte, dass heute früh am Morgen Kiew und noch einige Grenzstädte unseres Landes bombardiert wurden. Das faschistische Deutschland hatte ohne Kriegserklärung unsere Heimat überfallen. Mit großer Übermacht in Kriegstechnik und vielen Erfahrungen in der Kriegsführung war es den Faschisten schon gelungen, unsere Grenze zu überschreiten und wir alle sollten uns vorbereiten, unsere Heimat zu verteidigen.

Der größte und grausamste Krieg in der Geschichte der Menschheit hatte begonnen.

III. Teil

der Lebensgeschichte des russsischen Deutschen Jakob Fröse

1941 – 1948 

Schon in den ersten Tagen des Krieges wurden im ganzen Land fast alle Männer mobilisiert und an die Front abtransportiert. Zu Hause blieben nur dringend notwendige Spezialisten wie Mechaniker, Kraftfahrer, Kombineführer und auch die Lehrer. Uns sagte man: Helft der Sowjetwirtschaft beim Einbringen der Ernte und bereitet die Schule auf das neue Schuljahr vor. Wenn wir euch brauchen, erhaltet ihr Nachricht.

Voller Unruhe verliefen jetzt die Tage und jeden Morgen und Abend erwarteten alle – ob Groß oder Klein – die Übertragung der Politinformationen durch die Lautsprecher. Die Nachrichten wurden von Tag zu Tag trauriger. Täglich eroberten die feindlichen Soldaten erneut besiedelte Gebiete. Unsere Soldaten mussten zurückweichen, denn man hatte sie schon einige Jahre auf einen Angriff vorbereitet. Die Verteidigungslinien aber waren vernachlässigt worden. Als Hitler den westlichen Teil Polens einnahm, besetzte die Sowjetarmee den östlichen Teil. Wir vertrieben Finnland aus der Nähe der Stadt Petersburg. Die Ostseestaaten wurden in die Sowjetunion einverleibt.

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Unsere Regierungsmitglieder ließen in dieser Zeit einen großen Feldzug zu, sie dachten, dass Hitler all seine Kräfte für den Kampf gegen England, Frankreich, die Vereinigten Staaten braucht und uns deshalb nicht überfallen wird. Außerdem hatten wir auch noch kurz vor Beginn des Krieges mit Deutschland einen Nichtangriffspakt abgeschlossen, in dem die Aufteilung der ganzen Welt zwischen beiden Staaten geheim vorgesehen war. Hitler war der erste, der diesen Pakt brach. Er fürchtete die Macht der Sowjetunion und dachte, je eher ich sie vernichte, desto eher komme ich als Führer an die Weltmacht und kann mein Ziel erreichen, Diktator dieses Weltstaates zu werden. Unsere Regierung befürchtete in dieser Zeit, nach vielen Niederlagen an der Front, dass das Volk diese Fehler entdeckt und der Enthusiasmus an der Front sich abkühlen würde. Deshalb suchte sie nach einem Klassenfeind, der an allem Übel schuld ist und auf den man den großen Volkszorn lenken kann. Als diesen Feind erklärte man jetzt die Rußlanddeutschen, die an der Wolga wohnten.

Und so erschien am 28. August 1941 der tragische Regierungserlass, in dem es hieß: Da sich unter der deutschen Bevölkerung an der Wolga tausende und abertausende Spione und Diversanten eingenistet haben, beschließen wir, sie alle in entlegene Orte des asiatischen Teils der Sowjetunion umzusiedeln. Drei Tage gab man uns Zeit, sich darauf vorzubereiten. Die Schweine wurden geschlachtet und das Fleisch eingesalzen. Brot wurde geröstet und noch ca. 16 kg Mehl durch Handel erworben. Die Kleidung, das Fahrrad, das eiserne Bettgestell wurden in eine Kiste verpackt und so waren wir fertig zur Abreise. Für das zurückgelassene Vieh gab man uns eine Quittung, gemäß der wir an Ort und Stelle ebensolches Vieh wieder zurückerhalten sollten.

Meiner Frau, einer Russin, schlug man vor, sich von mir scheiden zu lassen und zu Hause zu bleiben. Sie tat dies natürlich nicht und so fuhren wir am nächsten Morgen zur Eisenbahnstation, wo man uns in kleine Viehwaggons einpferchte und im Schneckentempo ins Ungewisse nach Osten wegfuhr. Schon nach drei Tagen wurden wir nachts an der Eisenbahnstation Petuchowa in Nordkasachstan, wo man uns schon erwartete, ausgeladen. Wiederum lud man uns auf Wagen, vor die Ochsen gespannt waren und wir fuhren jetzt im Ochsentempo durch eine recht schöne Gegend. Überall blinkten kleine Seen, die mit einem Kranz aus Binsen umgeben waren und es wuchsen viele schöne weißstämmige Birken, die den Wanderer zum Ausruhen einluden. Aber wir hatten keine Zeit, wir mussten weiterfahren – ins Ungewisse.

Am zweiten Tag landeten wir im ersten Dörflein, wo man uns mit heißer, wohlschmeckender Suppe und Weißbrot beköstigte. Nach dem Essen, während der Zeit, in der die Ochsen weideten, schaute ich mir einige Hütten aus der Nähe an und konnte nicht feststellen, aus welchem Material sie gebaut waren. Erst später erfuhr ich, dass man solche Wände aus festen Erdschichten, die man mit dem Pflug aus der Ursteppe herausriß, aufbaute. Die Dächer waren mit demselben Material gedeckt. Man hatte diese feste Schicht nur mit dem Spaten ausgestochen und abgerundet. Wenn man diese jetzt akkurat wie Dachpfannen aufeinanderlegte,

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bekam das Dach ein recht schönes Aussehen. Von Weitem schien es, als habe man

sie mit alten grauen Kasachenmützen bedeckt.

Am Ende des dritten Tages erreichten wir endlich das Zentralgehöft der Sowjetwirtschaft, für die man uns bestimmt hatte. Zuerst umringten uns die Kinder. Sie schauten uns von allen Seiten an um vielleicht Hörner auf dem Kopf oder Hufe an den Füßen zu sehen, denn so wurden in jenen Zeiten die Faschisten in den Zeitungen dargestellt. Nachdem sie sich aber überzeugt hatten, dass wir gewöhnliche Menschen seien, verschwanden sie bald. Der stellvertretende Direktor suchte unter uns Schmiede und Schlosser, die man hier brauchte und zurückbehalten wollte. Lehrer brauchte man nicht. Alle freien Plätze waren von Polen besetzt, die man als Kulaken schon früher hierher übersiedelt hatte. Wiederum nach einem Tag kamen wir endlich auf die entlegenste Farm, für die man uns bestimmt hatte und wurden vor einem Haus am Wald ausgeladen. In ein Zimmer, indem schon eine Familie wohnte, wurden noch zusätzlich unsere drei Familien eingewiesen. Meine Frau, die sich unter solchen Verhältnissen besser orientieren konnte als ich, machte sich sofort mit einigen Frauen des Ortes bekannt und schon nach einer Stunde saßen wir auf unserer Kiste in einem anderen Zimmer, das ein Spezialist der Landwirtschaft bewohnte. Auf der Suche nach Arbeit begab ich mich am nächsten Morgen, teils zu Fuß, teils zu Pferd, mit noch anderen Weggenossen in das Rayonzentrum, das nur 85 km von uns entfernt war. In der dortigen Abteilung für Volksbildung erhielt ich dieselbe Antwort wie auch in der Schule des Ortes und so war ich schon nach fünf Tagen mit leeren Händen wieder bei meiner Familie.

In dieser Zeit hatte meine Frau noch weitere Bekanntschaften gemacht und zufällig gehört, dass ganz in der Nähe der Zentralfarm, in einem Örtchen, das man auf kasachisch Bjelegan nannte, zwei junge Frauen noch eine dritte kleine Familie aufnehmen würden. Ohne lange nachzudenken, warfen wir unser Hab und Gut auf einen vorbeifahrenden Ochsenwagen und fuhren als ungebetene Gäste dem dritten Quartier entgegen. Dort wurden wir recht gut aufgenommen und schon am nächsten Tag ging ich wieder auf die Suche nach Arbeit. Jetzt aber direkt in den Pferdestall. Dort begrüßte mich eine Gruppe Halbwüchsiger, die in jener Zeit überall das Kommando führten und nun meine Person von allen Seiten musterten. Wahrscheinlich kamen sie zu dem Schluss, dass man so einem intelligenten Menschen keine schnellen Pferde anvertrauen kann. Sie suchten daher aus der Herde einen halbverreckten Ochsen aus, spannten ihn in einen Wagen ein, der in ähnlichem Zustand war und sagten: „Lieber Mann, mit diesem Gespann, das für die Menschen in jeglicher Hinsicht ungefährlich ist, wirst du jetzt den Dienst beim Gemüsegärtner beginnen“.

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Den ganzen Herbst lang fuhr ich mit dem Ochsen Kartoffeln, Kürbisse, Zwiebeln, Kohl und Rüben zu den Brigaden und Lagern, wo man das Gemüse für den Winter aufbewahrte. Als der strenge Winter begann, wurde mir schon ein normales Ochsengespann anvertraut und ich musste jetzt täglich in den Wald fahren und dort das im Sommer aufgeschichtete Reisig aus dem Schnee graben, in die Siedlung fahren und unter den Spezialisten der Sowjetwirtschaft von Haus zu Haus verteilen.

So verging der Winter. Die Lage an der Front verschlechterte sich. Die meisten Betriebe im Westen unserer Heimat waren von den Faschisten eingenommen oder zerstört worden und aus diesem Grund beschloss die Regierung, im Osten des Landes eine neue Kriegsindustrie und Metallurgie aufzubauen. Aber mit wem? Alle arbeitsfähigen Männer – außer den Deutschen – waren an der Front. Für Letztere entschied man sich dann auch und begann schon im Winter des Jahres 1942 zuerst die Mobilisierung aller deutschen Männer – etwas später auch der Frauen – in die sogenannte Arbeitsarmee.

Ich wurde am 30. März des Jahres mobilisiert. Die Sowjetwirtschaft[1] brachte uns an die Eisenbahnstation, von wo aus wir abtransportiert wurden. Dort wurden wir nach schon bekanntem Brauch wieder in Viehwaggons geladen und dann ging es wieder vorwärts ins Ungewisse. Jedoch nicht lange. Schon nach zwei Tagen landeten wir in einer öden Gegend im Gebiet Tscheljabinsk. Hier, so sagte man, werdet ihr ein Hüttenkombinat aufbauen um so der Front nützlich zu sein. Frühmorgens führte man alle in einer Kolonne zu einem großen Tor, von dem aus sich zu beiden Seiten hohe Stacheldrahtzäune mit Wachtürmen anschlossen, Es war ein Konzentrationslager. Ich wusste natürlich, dass im faschistischen Deutschland solche Lager existierten. Dass es sie aber bei uns gab und sogar für Menschen, denen man nicht die geringste Schuld für ihr Tun nachweisen konnte, wusste ich nicht. Mit klopfendem Herzen durchschritten wir das grauenerregende Tor und fanden dort unser „Heim“ auf lange, lange Jahre.

Gleich neben dem Tor stand ein Tisch, an dem man uns registrierte. Am zweiten Tisch saß schon eine Kommission aus mehreren Mitgliedern bestehend. Hier mussten wir unsere Fingerabdrücke zurücklassen. Man musterte uns äußerlich und fragte jeden nach dem Beruf. Von Kindheit an war ich immer schwächlich und deshalb war ich in dieser Reihe der letzte. Erleichtert, dass diese Menschenschlange endlich endete, fragte man mich ganz freundlich: Na, Mensch und was bist du von Beruf? Meine Antwort, ich sei Lehrer, erheiterte sie noch mehr und einer sagte: „Schade um dich aber solch einen Beruf brauchen wir hier nicht“. In diesem Augenblick fiel auf mich der durchdringende Blick einer Frau, die ebenfalls hinter dem Tisch saß und meinem Gefühl nach, eine Lehrerin gewesen sein musste. Ich spürte, dass sie mich bedauerte. So war sie wohl auch die Ursache des größten Glückes in meinem Leben, wovon ich schon nach kurzer Zeit erfuhr.

[1] Gemeint ist die Sowchose. Ein Staatlicher Landwirtschaftsbetrieb. AW

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Am nächsten Morgen wurde ich einer Brigade für leichtere Arbeiten zugeteilt. Die Mitglieder der üblichen Brigaden mussten täglich 12 bis 14 Stunde ohne Ruhepause mit Spaten und Picken im gefrorenen Boden Gräben ausheben. Wir aber schleppten aus den umliegenden Wäldchen Sträucher herbei, die wir quer über den Weg legten damit die Lastautos nicht im Morast versanken. Unser Arbeitssoll war um die Hälfte niedriger als in den anderen Brigaden. Von der Erfüllung des Arbeitssolls aber hing unser Leben ab. Bei Nichterfüllung bekam man Kessel Nr. 1, was täglich nur 400 Gramm Brot bedeutete. Nach zwei Wochen waren dann die Mitglieder einer derart bestraften Brigade so ausgehungert und ausgemergelt, dass sie zu nichts mehr fähig waren.

Im Laufe des Sommers stand noch jeder von uns seinen Mann. Gebaut wurde an Werkstätten, Hochöfen und Walzwerken. Als aber der strenge Winter kam, ging es mit unseren Kräften zu Ende. Stehend oder sitzend starben viele Menschen an ihren Arbeitsplätzen. Jeden Morgen schleppten die Aufräumer Leichen aus den Baracken. Diese Menschen waren abends eingeschlafen und nie mehr erwacht. Sie hatten ausgekämpft und als Dank dafür stapelte man sie jetzt nackt in einer Scheune auf um sie später in eine Grube, nicht weit vom Lager, zu werfen.

Auch unsere Brigade wurde allmählich kleiner. Mein Körper war so angeschwollen, dass meine Beine mir den Dienst versagten und ich wurde daher auf eine Krankenstation überführt. Das waren Baracken, in denen es von Hunderten, meist angeschwollenen, Kreaturen wimmelte. Dort hatten wir völlige Ruhe. Es war auch warm und wir bekamen dreimal täglich etwas zu essen. Mittags gab es Suppe morgens und abends auch etwas Haferbrei und außerdem noch 400 Gramm Brot. Bei dieser Kost hatten sich einige von uns sogar etwas erholt. Als die Frühlingssonne wieder die Erde erwärmte, schickte man diese Menschen wieder in ihre Brigade zurück. Unsere Brigade kam nun in eine Ziegelei, wo wir ein ganzes Jahr lang eingesetzt blieben und sogar eine Belobigung für die dort geleistete Arbeit erhielten. Als wir von dort zurück ins Hauptlager fuhren, sahen wir nachts ein Leuchten am Horizont. Die Hochöfen waren schon in Betrieb gesetzt. Das Hüttenwerk, gebaut von deutschen Menschen mit bloßen Händen, lieferte schon Eisen und Stahl für die Front. Auch du, dachte ich, hast Dein Scherflein dazu beigetragen. Das soll uns dem Sieg näher bringen und die Begnadigung aller Rußlanddeutschen beschleunigen.

Im Sommer 1944 wurden zwei kleine Brigaden in eine Hilfswirtschaft geschickt. Da ich als ehemaliger Bauernjunge mit allen Arbeiten in der Landwirtschaft vertraut war, bestimmte man mich in einer davon als Leiter. Die Verpflegungsration bekamen wir aber aus dem Hauptlager. Die Hilfswirtschaft lieferte uns Gemüse als Zugabe. Auf den Wiesen ringsum wuchsen Erdbeeren und Pilze. Die frische Luft in unseren Strohhütten, die Gleichgültigkeit seitens eines alten Soldaten, der uns bewachen sollte, führten dazu, dass wir uns hier wie in einem Erholungsheim fühlten. Jedoch auch hier gab es manchmal trübe Stunden.

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Als die Roggenernte begann, fingen manche an, Körner zu rösten und mit Appetit zu essen. Infolgedessen starben in kurzer Zeit sechs Mitglieder unserer Brigade an Darmverschlingung. Aber alles hatte sein Ende, so auch unser Lagerleben. Es wurde geschlossen und wir mussten zurück an die Bauobjekte. Ganz unerwartet war in dieser Zeit der Leiter unseres Trockenhauses erkrankt und ich durfte ihn vertreten. Am Tag grub ich jetzt die nötige Menge Kohle aus dem Schnee und schleppte sie zu meiner neuen Wohnung. Nachts aber trocknete ich die Filzstiefel der Arbeitsarmisten. Oft saß ich nun vor dem warmen Ofen, träumte von meiner Frau, meinem Kind und den glücklichen Tagen, die wir gemeinsam verlebt hatten. Ganz unerwartet piepte es in einer Ecke. Mäuse, dachte ich und alle Träume waren

sofort verflogen. Man war nur noch vom Selbsterhaltungstrieb besessen. Am nächsten Morgen besorgte ich mir vom Lagerleiter eine Mäusefalle und meine Jagd auf frisches , Wild“ begann. Die Tierkörper wurden sorgfältig bearbeitet, auf einen Draht gesteckt und über der Glut gebraten. Das war ein Schmaus ! Nie zuvor hatte ich so gute Speisen gegessen! Zu bedauern blieb nur, daß dieses „Wild“ sehr schnell ausgerottet war.

Im Januar 1945 waren fast alle Bauobjekte unseres Kombinates schon fertiggestellt. Die noch übriggebliebenen jungen und gesunden Arbeitsarmisten wurden jetzt als Arbeiter in den neuen Werkstätten und Betrieben eingestellt. Alle anderen, die im Hauptlager schon keinen Nutzen mehr bringen konnten, schickte man in Hilfswirtschaften, wo sie in der Landwirtschaft arbeiten sollten. Ich kam in eine große Witrschaft mit einer Gefängniszone und Hunderte von Arbeitsarmisten darin. Nach kurzem Bekanntmachen mit ihnen erkannte ich plötzlich einen Nachbarn von zu Hause. Dieser hatte die Fallsucht und war vom ersten Tag an als Holzhacker angestellt. Schon nach einigen mit ihm gewechselten Worten fragte er: Hast du ein Kesselchen? Ich gab ihm eines und schon nach einigen Minuten brachte er es mir aus der Küche voll Kraut- und Kartoffelbrei. Von jetzt an, sagte er, wirst du, Kamerad Fröse, hier nicht mehr hungern. Ich werde für dich sorgen. Einige Tage später sagt er: Ich habe mit dem Abrechner des Lagers gesprochen und der hat mir versprochen, in einem günstigen Fall an dich zu denken. Letzterer war auch ein ehemaliger Lehrer und hielt sein Wort. Schon nach einer Woche saß ich in der Buchhaltung des Lagers an einem Tischchen und arbeitete als Rechnungsführer für Verpflegung. Diese Arbeit war leicht. Im Sommer arbeitete ich in den Heubeschaffungsbrigaden, wo wir viel Erdbeeren aßen. Nach anderthalb Jahren, die ich dort verbrachte, sah ich äußerlich schon ganz stattlich aus. In mir erwachte sogar das Gefühl, satt zu werden.

In dieser Zeit schrieben wir schon das Jahr 1946. Der Krieg mit Deutschland war siegreich beendet und viele Kriegsgefangene kamen jetzt in unser Lager. Sie ersetzten uns und wir waren jetzt überflüssig. Von Rechts wegen hätte man uns nach Hause lassen müssen. Das geschah aber nicht. Alle, mit Ausnahme von Frauen und einigen Spezialisten, wurden in die Wälder des Uralgebirges geschickt.

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Dort arbeiteten anfangs nur die Jüngeren und Stärkeren als Holzfäller. Alle anderen befassten sich mit der Heubeschaffung. Nach der Heuernte gab man jedem von uns buchstäblich Beil und Säge in die Hand und wir mussten Holz fällen. Meine, in der Hilfswirtschaft bei Suppe und Gemüse gesammelten Kräfte schwanden jetzt im Riesentempo und ich erinnerte mich an das alte Sprichwort: Süppchen macht lustig aber schwach auf den Beinen. Nach einigen Wochen lag ich schon wieder krank und verzweifelt in der Baracke. In diesem Zustand hörte ich ganz zufällig von meinem Bettnachbarn, dass man in unserer Zentralbuchhaltung einen Rechnungsführer benötigt. Diese Nachricht rüttelte mich auf wie aus einem Traum und schon am nächsten Morgen war ich auf den Beinen. Mit einem schrecklichen Geschwür am Halse sah ich mich nach einem Lastkraftwagen um, der mich ins Rayonzentrum fahren sollte. Dort angekommen erfuhr ich zu meinem großen Erstaunen, dass es in unserer Welt immer noch Wunder gab. Ich hatte wieder Glück. Gerade mich brauchte man dort! Gerade solch einen Rechnungsführer mit den Fertigkeiten, die ich mir früher in der Hilfswirtschaft angeeignet hatte, konnte man dort gebrauchen!

Morgens saß ich an meinem neuen Arbeitsplatz in einer großen Buchhaltung. Dort arbeiteten nur erfahrene Spezialisten, die die Schrecken des Lagerlebens meist nur am Rande gesehen hatten. Sie lebten schon mit neuen russischen Frauen und fühlten sich im Allgemeinen ganz wohl. Unter ihnen konnte man fröhliche Gesichter sehen und sie lachen hören.

Jeden Monat bekamen wir nun unseren Arbeitslohn. Für den ersten kaufte ich mir neue Arbeitsschuhe. Für den zweiten einen getragenen Anzug und später noch einen Militärmantel. Jetzt sah ich wieder einem Kulturmenschen ähnlich.

Mit diesen Ereignissen tauchten in meinem Innern immer stärker folgende Fragen auf: Warum lässt man uns schon zwei Jahre nach Beendigung des Krieges immer noch nicht zur Familie zurück? Warum nutzt man uns nicht dort, wo wir unsere Kenntnisse besser anwenden und nützlicher sein könnten? Mein Tischnachbar in der Buchhaltung, ein witziger Kerl, sagte einmal zu mir: Weißt du Kamerad Fröse, ich kenne unseren Kommandanten gut, ich spreche mal mit ihm, vielleicht lässt er dich für einige Tage nach Hause. An so etwas konnte ich damals nicht einmal denken. Und dennoch geschah etwas nie Dagewesenes. Als Arbeitsarmist, als deportierter Deutscher, bekam ich Urlaub um mich mit Frau und Kind zu treffen. Meine Frau, eine Russin, war nicht in die Arbeitsarmee mobilisiert worden. Sie

arbeitete als Buchhalterin und lebte für jene Zeit materiell nicht schlecht. Wir waren glücklich zusammen, bauten Luftschlösser und schmiedeten Pläne für unser Leben in der Zukunft. Einer dieser Pläne bestand darin, durch die Rayonabteilung für Volksbildung eine Aufforderung an die Leitung unseres Lagers schicken zu lassen und sie darum zu bitten, mich als Lehrer freizustellen und in jenem Rayon einzusetzen. Zwei solcher Abforderungen sandte man daraufhin an unser Lager, jedoch ohne Erfolg.

Es verging noch ein Jahr und wiederum traf mich ein Schicksalsschlag.

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Zehn von uns sogenannten Spezialisten wurden durch demobilisierte Frontkämpfer ersetzt und wir wurden wiederum in den Wald geschickt und mussten dort schwere Arbeit verrichten. Ich zeigte dem Kommandanten ein ärztliches Attest, demzufolge mir jede schwere physische Arbeit verboten war. Er antwortete: Sei nicht widerspenstig, geh und arbeite. Ich werde versuchen, dich als Lehrer zu dispensieren. Was sollte ich machen? Nach einigen Wochen aber kam er endlich und ich erhielt die nötigen Papiere um als Lehrer zurück zur Familie zu fahren. Ich war frei. Welch ein Glück! Schon am nächsten Morgen verließ ich nach sechs langen, langen Jahren unser Lagerleben, in dem ich nur Qualen und Schmach durchgemacht hatte und nicht nur einmal dem Tod nahe war, für immer.

Zu Hause angekommen, spürte ich bald, dass ich doch noch nicht ganz frei war. Nach einiger Zeit wurde ich zum Sekretär der Parteiorganisation gerufen, wo man mir sagte: Lieber Mann, wenn du bei uns leben willst, dann musst du arbeiten. Bist du Lehrer? Dann zeige uns ein entsprechendes Dokument. In der Abteilung für Volksbildung versprach man mir Arbeit – aber erst im Herbst. Deshalb ging ich am nächsten Morgen wiederum in den mir schon bekannten Pferdestall. Drei Monate lang war ich jetzt wieder Hilfsarbeiter in der Sowjetwirtschaft. Am 15. August stellte man mich endlich als Lehrer in der Prischimer Siebenjahresschule in Nordkasachstan ein. Ich war glücklich. Mit einer Unterbrechung von sieben Jahren konnte ich wiederum in die Klasse treten und meine Schüler herzlich begrüßen.

Meine mir vom Schicksal bestimmte Lebensbahn lag jetzt im hellen Licht vor mir und ich war bereit, alle meine Kräfte, all mein Wissen nur dazu zu benutzen, um meinem Volk zu dienen, um meine Schüler als fleißige, ehrliche Bürger der zukünftigen Gesellschaft zu erziehen.

IV. Teil

der Lebensgeschichte des russischen Deutschen Jakob Fröse

1948 – Gegenwart 

In der Prischimer Schule war ein gutes Lehrerkollektiv am Werk, das mich sehr freundlich und wohlwollend aufnahm.

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Niemals hörte ich von jemandem auch nur die geringste Anspielung darauf, dass ich doch ein deutscher Übersiedler sei, der unter der Aufsicht eines Kommandeurs stehen muss. Dieses Verhalten mir gegenüber gab mir wieder neue Kraft und ich arbeitete immer produktiver. Im ersten Jahr war an unserer Schule das Fach Biologie besetzt und so gab man mir vorläufig die Fächer Physik, deutsche Sprache, Malen und Zeichnen. Um nicht in eine andere Schule versetzt zu werden, war ich damit zufrieden. Ich organisierte aber unter den Schülern einen Zirkel für Junge Naturfreunde. Mit ihnen zusammen verschönerten wir das Gelände um die Schule herum. Dazu mussten die Misthaufen, die die Schule umgaben, in die Lehmlöcher, aus denen man während des Krieges Lehm gewonnen hatte, geworfen und mit Schwarzerde bedeckt werden. Zuletzt wurde ein großes Blumenbeet darauf angelegt. Eine Fläche von einigen hundert Quadratmetern wurde mit einem Zaun aus Weidenruten umzäunt und urbar gemacht. Noch im Herbst pflanzten wir dort Faulbeerbäumchen, wilde Schwertlilien und Veilchen, die wir in den umliegenden Wäldchen fanden. Im Winter bekam ich aus dem Gebietszentrum eine Kollektion Gemüse- und Blumensamen. Der Agronom der Sowjetwirtschaft verhalf uns zu zwei Apfelbaumsetzlingen und einigen Johannisbeersträuchern.

Mit all diesen „Reichtümern“ begannen wir die Frühjahrsarbeiten auf unserem zukünftigen Versuchsfeld. Zu unserer großen Freude wuchs im Sommer dort alles wie auf Hefe gebettet. Zum Erstaunen der ganzen Bevölkerung erblühten dort noch nie gesehene schöne Blumen und es wuchsen Gemüsepflanzen, die eigentlich nur für den Süden bestimmt waren.

Im Herbst meines zweiten Schuljahres in Kasachstan besuchte der Leiter der Volksbildungsabteilung unseres Gebietes unsere Schule. Er besichtigte unser Schulfeld, lobte uns und befahl mir, einen Bericht über unsere Arbeit vorzubereiten. Während der Winterferien las ich diesen Bericht auf einer Versammlung der

Schuldirektoren und Biologen des Gebietes vor und wieder wurde unsere Arbeit gutgeheißen. Ich wurde mit meiner ersten Ehrenurkunde als Biologielehrer ausgezeichnet.

In dieser Zeit hatte man mir schon den Biologieunterricht in der Schule übertragen und in meinen Zukunftsträumen erwachte jetzt das Bedürfnis, auch ein biologisches Kabinett zu haben. In der Dreizimmerwohnung unserer Schule, in der ich untergebracht war, konnte man so etwas nicht aufbauen. Trotzdem begann ich mit den Vorbereitungen.

Im Korridor unserer Schule hatte man eine Ecke abgeteilt, in der die Aufräumerinnen ihre Lappen, Eimer und Besen aufbewahrten. Dieses Kämmerchen erbat ich mir nun von dem Direktor der Schule. Ich montierte dort einige Regalbretter und begann, darin die schon von uns angefertigten Anschauungsmittel für Biologie aufzubewahren. Alle Pflanzen unseres Versuchsfeldes sowie auch Blätter, Zweige und Blüten unserer Waldbäume wurden getrocknet und als Herbarium aufbewahrt. Wir fingen Schmetterlinge, Käfer, Heuschrecken. Diese trockneten wir und legten eine Sammlung an. Wir sammelten Früchte und Beeren, Eier verschwundener Vögel, konservierten Weichtiere wie Würmer in Formalin.

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Alle so vorbereiteten Exponate wurden in schönen, selbst angefertigten Schachteln unter Glas ausgestellt. Ganz zufällig erlernte ich die Anfertigung von Tierbälgern und begann von diesem Tage an in einem Museum der Tierwelt unserer Gegend zu arbeiten. Jede freie Minute wurde jetzt dazu genutzt um aus den Trophäen, die mir unsere Jäger brachten, naturgetreue Tierbälge herzustellen.

Die Zeit verlief so unbemerkt. Es vergingen sieben Jahre. Unsere Siebenjahresschule hatte sich schon in eine Zehnjahresschule verwandelt. Die Sowjetwirtschaft errichtete für uns eine schöne neue und große Schule. Das schönste und hellste Zimmer in dieser Schule wurde mir als Biologen übergeben und ich war in der Lage, es völlig mit selbst angefertigten Anschauungsmitteln auszustatten. Allein in den Vitrinen gab es schon mehr als 100 Tierbälge. Viele Besucher dieses Kabinetts trugen damals in unser Album ihre guten Eindrücke ein und wunderten sich, wie man so etwas mit bloßen Händen – ohne spezielle Vorbereitung – herstellen kann. Wir bekamen in der Nähe dieser Schule auch ein größeres Versuchsfeld. Eine Fläche von 1,5 Hektar wurde urbar gemacht und darauf ein Obstgarten angelegt Ein Vierfeldersystem wurde nach allen Regeln der Kunst errichtet und viele, viele Blumenarten angepflanzt. Die größte Bedeutung dieses Versuchsfeldes sahen wir damals in folgendem: Alle Schüler sollten diese Pflanzen kennenlernen und bei ihrer Aufzucht unbedingt beteiligt sein. Wir wollten neue und sehr nützliche Obst- und Gemüsepflanzen unserem rauen Klima anpassen und von allen Pflanzenkulturen hohe Ernteerträge erzielen. Wir wollten den Schülern und der örtlichen Bevölkerung die Schönheiten der Natur zeigen und sie lehren, diese zu schätzen und zu lieben.

Am Anfang der sechziger Jahre wurden die meisten Seminare mit den Biologen des Gebietes jetzt bei uns durchgeführt. Sie kamen zu uns um sich mit meiner Arbeit als Biologe bekannt zu machen. Und ich brauchte mich dabei nicht zu schämen. Unsere Kinder liebten die Arbeit auf den Schulfeldern und nahmen alle – ohne Ausnahme – daran teil. Sie waren alle stolz auf das Werk ihrer eigenen fleißigen Hände. Mein größter Stolz jedoch bestand darin, dass auf meinem Schulversuchsfeld und in meinem biologischen Kabinett von niemandem und niemals ohne Erlaubnis eine Blume gepflückt oder ein Grashalm geknickt wurde.

Niemand dachte daran, das zu vernichten, was er selbst errichtet, selbst gepflanzt und aufgezogen hatte.

Neunzehn Jahre hatte ich in dieser Schule gearbeitet. All mein Wissen und alle Fertigkeiten vermittelte ich meinen Schülern und die Zeit verflog wie im Fluge. Für gute Arbeit erhielt ich in dieser Zeit fünfzehn Ehrenurkunden, bekam das Abzeichen ,,Bester der Volksbildung“, wurde mit einem Orden und einer Medaille ausgezeichnet.

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Im Jahre 1966 bekam ich noch den Ehrentitel – Verdienter Lehrer der Kasachischen SSR“ verliehen. Schon nach einem Jahr aber wurde ich dann von einem Inspektor des Instituts für Qualifizierung der Lehrer in die Mamljutsker Senatorenschule geworben. Diese Schule war neu und erst zwei Jahre in Betrieb. Sie lag in der Nähe der Sibirischen Eisenbahn, unweit vom Gebietszentrum Petropawlowsk. Hier gab es ein Treibhaus. Der Direktor, ein aktiver Reformator unseres Erziehungssystems, wollte eine Musterschule errichten und orientierte sich dabei an der Lehre des berühmten Pädagogen Makarenko. Die Leitworte der Erzieher und Lehrer waren hier: Arbeit macht das Leben süß, macht es nicht zur Last. Der nur hat Bekümmernis, der die Arbeit hast.

Alle Schüler waren in Gruppen verschiedenen Alters eingeteilt, an deren Spitze ein Kommandeur stand. Mit solchen Gruppen war es leicht zu arbeiten. Die Älteren halfen den Jüngeren beim Aufstehen und Ankleiden, im Badehaus und bei der Erfüllung der Hausaufgaben. Er war bequem, die Arbeit in unserer Hilfswirtschaft zu organisieren und wir hatten auch Erfolg. Ein kahler Hügel wurde im Verlauf der Jahre in eine blühende Oase verwandelt. Vier Hektar darin nahm der Obstgarten ein, vier der Gemüsegarten. Auf 12 Hektar Fläche säten wir Körnerkulturen. Auf zwei Hektar rund um die Schule herum, war ein Park angelegt, auf 3,5 Hektar ein Kiefernhain. Auf 2500 m2 wurde von mir ein Versuchsfeld angelegt, auf dem ich mit über 100 Pflanzenarten die verschiedensten Versuche in der Landwirtschaft durchführte. Hier, im sibirischen Nordkasachstan, gelang es mir sogar, südliche Rosen, Weinstöcke, japanische Quitten, Kirschen und andere, von uns nie gesehene, Pflanzen zum Gedeihen zu bringen. Unser Direktor erhielt für diese Arbeit die höchste Auszeichnung eines Pädagogen. Er wurde, „Volkslehrer“.

Meine Arbeit aber wurde hier meistens nur in den unteren Volksschichten geschätzt. Die höheren Parteimitglieder bemerkten mich nur als guten Arbeiter und Gehilfen des Direktors. Sie waren von den Erfolgen desselben verblendet, denn er stellte damals bei uns die ,,Sonne“ dar, der mich, den „Mond“, ständig verdunkelte.

Im Jahr 1971, am Tag meines sechzigsten Geburtstages, der sehr feierlich in der Schule durchgeführt wurde, übergab ich meine Arbeit als Biologielehrer und Leiter unserer Versuchsfelder meinem Sohn Valerie. Dieser hatte gerade 1971 die Biologische Fakultät des Pädagogischen Instituts beendet und war bereit, die von mir angefangene Arbeit weiterzuführen.

In den Ruhestand als Rentner ging ich jedoch erst nach zwei Jahren. Seit 1973 helfe ich nun meinem Sohn in der Frühlings- und Herbstzeit, sowie den Leitern der Produktionsbrigaden während der Sommerferien. Alle Arbeitspläne für die Hilfswirtschaft werden von mir für den ganzen Sommer verfasst. Ich versorge sie mit neuen Samensorten, neuen Setzlingen und ergänze diese nach der Arbeitszeit und an den freien Tagen. Ich bin ständiger Führer der Exkursionsteilnehmer, die unsere Schule besuchen.

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Bis jetzt führe ich noch die Tagebücher über den Zustand aller unserer Pflanzenarten und summiere im Herbst die Ernteergebnisse und die Resultate bei der Erziehung der Kinder. In meiner Familie ist auch alles in Ordnung. Meine älteste Tochter wurde unlängst mit großen Feierlichkeiten in den Ruhestand als Rentnerin geleitet. Sie war zuvor Buchhalter-Revisor. Der Sohn führt die von mir begonnene Arbeit weiter. Er ist schon Biologie-Methodist. Die zweite Tochter ist auch Biologin und schon längere Zeit Direktorin der Station für junge Naturfreunde im Städtchen Jermak. Die jüngste Tochter ist stellvertretende Leiterin in der Apotheke desselben Städtchens Jermak. Vierzehn Enkel und sechs Urenkel umgeben uns Großeltern jetzt öfters. Alle sind gesund und lebenslustig. In allen steckt noch etwas von der Waghalsigkeit ihres Ur-Ur-Urgroßvaters, des sagenhaften „tollen“ Fröse. Zu bedauern ist zwar, dass nur drei von ihnen noch den Namen der Familie Fröse tragen und nur einer von ihnen, der Letztere, sich gegenwärtig darauf vorbereitet, später Pädagoge und Biologe zu werden.

Meinen achtzigsten Geburtstag feierte ich wiederum in der Schule. Im Beisein einiger Vertreter der Volksbildungsabteilungen des Rayons sowie auch des Gebietes, vieler Verwandten und Bekannten berichtete der Direktor der Schule in einem Vortrag über meine geleistete Arbeit in unserem Volksbildungssystem. Einige ehemalige Arbeitskollegen begrüßten mich und überreichten mir zum Andenken wertvolle Geschenke. Vor dem Abschluss dieser Feierlichkeiten führten die heutigen Schüler zu meiner Ehrung noch ein schönes Konzert auf. Zu Hause angekommen wurde von den nächsten Verwandten und alten Arbeitsgefährten die Feier nach russischem Brauch noch fortgesetzt. Es wurde gegessen, getrunken, es wurden Lieder gesungen und Anekdoten aus den Jahren, die wir früher gemeinsam verbracht hatten, erzählt.

Wenn ich jetzt auf meinen Lebensweg zurückschaue, kann ich nur sagen:

Jakob, Gott sei Dank, du bist ein Glücksvogel! Alle furchtbaren Lebensstürme, die dich umbrausten, hast du überstanden, alle schwarzen Wolken an deinem Himmel zerstreut. Du hast das dreiundachtzigste Lebensjahr erreicht und das war niemandem von deinen nächsten Vorfahren gelungen. Du bist mehr oder weniger gesund und arbeitsfähig. Deine runzeligen Hände und dein grauer Kopf haben dir immer treu gedient und die von dir gepflanzten und aufgezogenen Zeder- und Wacholderbäume sowie auch die Fichtenhaine werden deine ehemaligen Schüler und die örtliche Bevölkerung noch lange an ihren wunderlichen Lehrer erinnern. Alle Mitglieder deiner großen Familie aber werden dich, ihren lieben Vater, Großvater und Urgroßvater nie vergessen.

Mamljutka, Sanatoriumschule, Nordkasachstan 

14.11.1994, Jakob Fröse

Jakob Fröse beim Besuch seines Heimatortes 1990. An dieser Stelle stand sein Elternhaus in Orloff, Am Trakt
Jakob Fröse
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