Diesen Artikel von Johannes Warkentin über den Beginn des Krieges 1941 habe ich von Tamara Born bekommen. Hier wird beschrieben wie dieses Ereignis auf die Deutschen in der Wolgarepublik auswirkte und über ihre Deportation nach Sibirien. A.W.
Johannes Warkentin, geb. 1914 in Medemtal, Saratow. Besuchte das pädagogische Technikum in Seelmann und arbeitete anschließend als Lehrer in seinem Heimatdorf. Lebte nach der Vertreibung unter Sonderkommandatur in Schirowski, Perm, wo er als Maschinenwart im Elektrizitätswerk arbeitete. Nach Aufhebung der Sonderkommandatur war Lehrer und Leiter einer Abendjugendschule.
Johannes Warkentin siedelte 1992 nach Deutschland um.
Das Schuljahr 1940/1941 in der Siebenjahrschule von Saratow war beendet, die Lehrer, zu denen ich gehörte, hatten Urlaub. Doch die meisten von uns dachten nicht an Urlaubsreisen, denn wir waren Fernstudenten an der Pädagogischen Hochschule in Engels. Jetzt begann für uns das Studium. Der 5-Jahres-Plan hatte obligatorisch eine Schulbildung von 7 Jahren verordnet und so wandelte man fast alle Anfangsschulen mit vierjähriger Schulzeit in Siebenjahrschulen um. Das erforderte neue Lehrkräfte, weshalb sich viele Lehrer an der Pädagogischen Hochschule von Engels weiterbilden ließen. Das Fernstudium war so organisiert, dass es während der Schulferien 40 Tage lang Vorträge und Prüfungen gab.
Dadurch gelang es vielen Pädagogen, durch fleißiges Studium ihre Kenntnisse zu erweitern und ein Hochschuldiplom zu erwerben.
Am 22. Juni, etwa gegen 10 Uhr, die Studenten hatten gerade Pause und standen im Korridor, kam plötzlich ein junger Mann vom Hof gelaufen und rief: „Genossen, es ist Krieg! Krieg! Molotow spricht im Radio. Kommt schnell auf die Straße!“ Dort standen unter dem Lautsprecher bereits viele unserer Kollegen. Totenstille. Alle horchten gebannt den Worten des Außenministers. Im Radio war zu hören: „Genossen, wir wiederholen die Ansprache des Volks-kommissars, Genosse Molotow.“ Da läutete die Glocke, doch keiner regte sich. Erst nach den Worten: „Nasche delo prawoje, wrag budet rasbit, pobeda budet sa namy!“ („Unsere Sache ist gerecht, der Feind wird geschlagen, der Sieg wird unser sein!“) gingen die Studenten auseinander. Doch nicht in die Lehrerzimmer; es gab für alle nur einen Weg: nach Hause, ins Kriegskommissariat und dann an die Front.
Noch am selben Tag fuhren wir zur Station Besymjanaja, kamen dort nachts an und warteten bis zum Morgen auf dem Bahnhof. Und dann ging’s zum Kriegskommissariat, wo man uns jedoch sagte: „Fahrt nur nach Hause, wir finden euch.“ Die ersten Kriegstage vergingen. Ungewissheit, die von traurigen Nachrichten von der Front gespeist wurden, machten das Leben unerträglich. Schon einige Tage vermisste man im Dorf einige Jungen aus der obersten Klasse. Sie waren noch vor Kriegsbeginn auf Fahrrädern zu ihren Verwandten gefahren, die im Gebiet Saratow lebten. Als sie wieder zurückkehrten, berichteten sie, man habe sie angehalten, als sie durch ein russisches Dorf fuhren, weil sie deutsch gesprochen hätten. Man habe sie einige Tage gefangen und sogar als Spione erschießen wollen. Doch dann habe man sie freigelassen.
Das Erlebnis der Jungen ging von Mund zu Mund. Offenbar traute man uns nicht. Diese Sorge wurde noch dadurch verstärkt, dass wir keine Benachrichtigung vom Kriegskommissariat erhielten. Als Deutsche waren wir doch nicht zuverlässig genug, um unsere Heimat verteidigen zu können. Am Morgen des 31.08.1941 regnete es. Ich hatte zu Hause keine Ruhe gefunden und war aufs Feld gegangen, um bei der Erntearbeit zu helfen. Man hatte mich zum Mähdrescher geschickt, der jedoch stand, weil man bei der Nässe nicht arbeiten konnte. Ich war gerade dabei, einen kleinen Schaden an der Maschine zu reparieren, das Mittagessen wurde gebracht, als ich jemanden rufen hörte: „Genosse Lehrer, hören Sie mal, was der Fuhrmann in Zeitung gelesen hatte.“ In der Zeitung stand, dass alle Deutschen aus der Wolgarepublik nach Sibirien gebracht werden. Mein erster Gedanke war: „Unmöglich! So etwas hat noch nicht einmal die Zarenregierung geschafft“.
Das Mittagessen schmeckte nicht. Wir legten uns ohne ein Wort zu sagen hinter den Mähdrescher. Keiner hatte Lust, bei dem Regen zu arbeiten. Dann kam auch der Brennstofffahrer aus der MTS mit lehren Fässern zurück und sagte: ,,In der MTS haben sie ein Maschinengewehr aufgestellt und das Brennstofflager wird von Soldaten bewacht. Niedergeschlagen machten wir uns auf den Heimweg. Am Dorfeingang wurden wir von Soldaten angehalten, die unsere Kleider durchsuchten. Auf der Straße begegnete uns ein Lehrer, der uns mit bitterem Spott begrüßte: Na, da kommen ja die Tausenden und Abertausenden von Diversanten und Spione…“ „Mensch, was redest du den daher?“ „Habt ihr denn noch keine Zeitung gelesen? Hier steht’s“ und er las laut vor: „Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets…“ Noch während er las, näherte sich ein junger Kollege: „Habt ihr schon die Nachricht vom ersten großen Sieg der Sowjetarmee vernommen? Die Rote Armee hat die Deutsche Wolgarepublik erobert.“ „Lass die dummen Späße! Wem ist denn jetzt noch zum Lachen?“
Am nächsten Morgen rief man mich in die Kolchosverwaltung. Ein junger Leutnant stellte sich vor, informierte mich, er sei dafür zuständig, den Erlass hier in der Siedlung in die Tat umzusetzen, habe aber Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und brauche mich deshalb als Dolmetscher.
Tag und Nacht bereiteten sich die Bewohner auf den Transport vor. Vieh wurde gesclachtet, das Fleisch verarbeitet, Brot wurde gebacken und vieles mehr. Dann setzte man alle Transportmittel, Wagen Pferde und Maschinen, in Bewegung, um die Familien mit ihrer geringen Habe zum Bahnhof zu befördern.
Als bereits die letzten Familien auf Wagen saßen, bat mich der Leutnant, ihn auf einem Kontrollgang durch das Dorf zu begleiten. Er befürchtete, es könnte ein Feuer ausbrechen. Mit einem LKW fuhren wir auf jeden Hof und prüften, ob noch Glut in den Öfen geblieben war. Überall sahen wir die Spuren eines überstürzten Aufbruchs. In einem Backhaus stand ein ganzer Trog mit gemahlenem Fleisch. Die Menschen waren nicht mehr dazu gekommen, es zu Wurst zu verarbeiten. Vor einer anderen Tür lag ein großer Hund, der uns nicht ins Haus ließ. Der Leutnant zog seine Pistole und schoss ihn nieder. Dann gingen wir über den winselnden Hund durch die Tür. Auf der Straße brüllte das durstige Vieh. Die alte Stute, die morgens und abends die Walze am einzigen Brunnen des Dorfes zum Drehen brachte, stand vor dem Brunnen und wartete. Um die leeren Wasserkrüge drängten sich Kühe, denen bei jeder Bewegung die Milch aus den Eutern spritzte. Ihre Augen waren fieberrot und weit aufgerissen. Die sonst so braven Tiere brüllten in ihrer Not wie wilde Löwen. Auf der Straße trabten die Zuchthengste der Pferdefarm. Seitdem man sie freigelassen hatte, hatten sie wohl miteinander gekämpft und jetzt wieherten sie mit blutenden Wunden und vom Durst gepeinigt nach ihren Pflegern.
Nirgendwo fanden wir etwas, das ein Unglück hätte hervorrufen können. So betrübt die Menschen auch waren, wollten sie doch ihrer Heimat keinen Schaden zufügen.
Wir hielten vor meiner Haustür. Der Leutnant erlaubte meiner Familie und mir eine Kommode und die Bände von Goethe, Schiller und Heine mitzunehmen. Wir ahnten damals noch nicht, dass meine Frau Elfriede in Sibirien Goethes „Faust“ gegen einen Krug Milch eintauschen würde, um Nahrung für unsere kleine Tochter Editha zu haben. Und aus Schillers „Glocke“ werden russische Jungen wohl ein „Ziegenbein“ (Papierpfeife) gedreht haben, um mit Behagen blauen Dunst in die Luft zu blasen. Dabei verglommen auch die Zeilen Schillers, die in höchstem Maße zutreffend unsere Situation beschrieben haben:
Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
sich alle Bande frommer Scheu,
das Gute räumt den Platz dem Bösen
und alle Laster werden frei…
Jedoch das Schrecklichste der Schrecken,
das ist der Mensch in seinem Wahn.
Doch das kam später. Jetzt fuhren wir zum letzten mal durch die heimatliche Steppe. Am Wegrand ein Mähdrescher, unweit davon hoch aufgeschichtet goldener Weizen. Vorbei an totem Vieh mit aufgedunsenen Wänsten, dann an einem Wagen mit gebrochenem Rad, vor dem ein totes Pferd lag. Das treue Tier hatte den Menschen seinen letzten Atemzug gegeben.
Wir fuhren viele Tage. Der Zug schleppte uns durch die Karakumwüste, dann durch Südkasachstan bis Alma-Ata und weiter nach Norden bis Nowosibirsk. Drei Wochen lang schüttelte uns der Waggon. An einem kalten Septembermorgen schob man unsere Waggons auf ein Nebengleis. Als die Türen geöffnet wurden, liefen einige Männer zum Bahngebäude, um Wasser zu holen. Dort lasen sie „Barabinsk“. „Barabinsk“ – so ging die Kunde von Waggon zu Waggon.
Auf diese Weise verstreute man die Deutschen wie Sand in der Wüste, im großen Sibirien, in Kirgisien, in Kasachstan und in der Kulundasteppe.
Die Eisenbahn schien zu regieren: wo ein freies Gleis war, wurde ausgeladen. Unsere Eltern brachte man in ein anderes sibirisches Gebiet, nach Tomsk. Das Schicksal wollte es, das sie ausgerechnet in Stalins Verbannungsort kamen. Nach unserer Ankunft übergaben uns die Wachmänner der örtlichen Behörde. Wir lagerten am Gleis auf freier Steppe. Am nächsten Tag wurden die Ersten von Fuhren abgeholt, mit kleinen Steppenpferden davor und von 12 bis 14jährigen Jungen gelenkt. Nach und nach verkleinerte sich unsere Gruppe. Am dritten Tag waren endlich die Bewohner unseres Dorfes an der Reihe. Man lud unsere Kommode auf einen Wagen, daneben fand meine Frau mit unserer kleinen Tochter Platz.
Die erste Nacht verbrachten wir in einer Hütte. Auf dem Ofen lag ein alter Kriegsinvalide mit einem Holzbein. „Nemzy, Nemzy“, lies er hören und musterte uns vom Kopf bis zu den Füßen. Er bewegte seinen rechten Zeigefinger so, als wolle er auf uns schießen, zeigte dann drei Finger der rechten Hand und schlug sich mit der Faust auf die Brust. Drei Deutsche Soldaten hatte er im Ersten Weltkrieg erschossen. Dazu lächelte er zufrieden. Er hatte seine Pflicht getan.
Das war unser erster Kontakt mit der sibirischen Bevölkerung. Ja, das Regime des großen Führers, des Vaters aller Völker, Stalin, hatte den Alten auf seinem Ofen gut auf die Begegnung mit den Russlanddeutschen vorbereitet. Ilja Ehrenburgs Artikelserie in der Prawda „Tötet! Tötet die Deutschen!“ fand hier fruchtbaren Boden…