Die Noth in Russland

Dieser Brief wurde von dem Ältesten Johannes Quiring an Glaubensbruder Mannhardt in Westpreußen geschrieben und später in der Zeitschrift „Gemeindeblatt“ veröffentlicht. Darin beschreibt er die Not der Bauern an der Wolga im Jahr 1891, die infolge einer Missernte entstanden war. Auch die Aussichten auf das Jahr 1892 waren schlecht.
Die Links zu diesem Brief habe ich von Arnold N-F bekommen:
https://mla.bethelks.edu/gmsources/newspapers/Gemeindeblatt%20der%20Mennoniten/1871-1900/1892/DSCF9448.JPG
https://mla.bethelks.edu/gmsources/newspapers/Gemeindeblatt%20der%20Mennoniten/1871-1900/1892/DSCF9449.JPG
Ich habe den Brief abgeschrieben, ohne die Rechtschreibung zu korrigieren. Es konnten mir aber auch Fehler unterlaufen. Besonders im letzten Teil des Briefes, wo der Text sehr unscharf ist. A.W.

Koeppenthal, den 27. Dezember 1891

Lieber Bruder

Veranlaßt durch ihre werthen Zeilen von 7. d. M., wie durch eine Anfrage des Werder’schen Mennonitengemeinden sehe ich mich veranlasst, Ihnen heute einen längeren Bericht über die Zustände in unseren Colonien und ihrer nächster Umgebung zugehen zu lassen. Ich stelle es Ihnen hiebei anheim , denselben zur allgemeinen Kenntnißnahme in den „Mennonitischen Blättern“ oder dem „Gemeindeblatt“ veröffentlichen zu wollen.
Von einer derartigen Noth, wie Sie schreiben, daß sie in Alexanderthaler Gemeinde herrschen soll, ist mir nichts bewusst. Im Gegentheil ist dort immerhinnoch so viel gebaut worden, daß die Gemeinde genötigt war, derartige Anleihen zu machen, wie wir hier. Eine schwache Mittelernte war auch dort nur, doch von wirklichen Noth ist keine Rede, vielmehr kann Alexanderthal verwechselt worden sein mit Alexanderhöhe, einem Lutherischen Dorfein unseren Nähe. Dort ist die Noth so groß wie irgendw<o> in unseren Wolgagegend. Aber Winteraussaat ist auch dort Dank den Bemühungen der Behörden gemacht worden, ob genügend, vermag ich nicht zu sagen. Bei uns aber sind die Felder im Herbste bestellt worden wie immer, nur ist leider die Witterung des Herbstes ebenso ungünstig gewesen wie die des Sommers und waren somit die Aussichten auf das Wintergetreide im Herbste schlecht, doch hoffen wir desto mehr vom nächsten Frühjahre. Doch nun zur Sache.
Schon seit mehreren Jahren hat Gott der Herr unsere Wolgagegend, den Südosten Russlands also, mit schwachen Ernten, die für Viele sogar Missernten genannt werden können, heimgesucht, doch blieb die Noth noch eine erträgliche und konnten wir uns durch Anleihen in eigener Mitte aushälfen. Natürlich wurden dadurch die Hilfsquellen allmälig erschöpft, um so mehr, da wir keine großen Kapitalisten unter uns haben. Die einzelnen Wenigen, die sich heute noch nach erfolgter totaler Mißernte selbstständig helfen können, sind außer Stande, das Ganze aufrecht zu erhalten, obwohl die Nothstände speciell unter uns nicht so groß sind, wie sie durch Briefe Einzelner geschildert sein mögen. Ein Jeder schreibt dann von seiner eigenen Lage, ohne den nötigen Ueberblick über das Ganze zu haben. Ein Gleiches thun auch die Zeitungen, die von ihren Correspondenten oft sehr einseitige Berichte kriegen. Wie dem aber auch sei, Thatsache ist und bleibt die Nothlage der ländlichen Bevölkerung an der Wolga in weiten Kreisen eine recht traurige. Doch rede ich zunächst von uns und unserer Ansiedlung.
Dieselbe umfaßt 10 Dörfer zu meist 25 Höfen mit circa 1100 Seelen Bewohnern mennonitischen Bekentnisses. Zu einem Bauernhofe gehören 65 Dessjatinen (65 ha) Land. Etwa ein Dritttheit ist Weideland und zwei Drittthele Pflugland. Letzteres zerfällt in 4-5 Felder, von denen 3-4 besät werden, während das übrige als Schwarzbrache liegen bleibt, um im Herbste mit Winterroggen besät werden.
Unsere Aussaaten bestehen hauptsächlich aus Roggen – etwa ein Dritttheil aller Aussaat – Weizen, Hafer, Gerste, Kartoffeln und Gartengemüse. Letztere beiden nur zum eigenen Bedarf. Als Verkaufsartikel können eigentlich nur Roggen und Weizen gelten, denn auch Hafer und Gerste werden größtentheils selbst verbraucht.
Vom Roggen haben wir in unserer Ansiedlung annähernd das dritte Korn geerntet, also im Durchschnitt so viel, als zur Saat und Brod nötig ist. Wenn nun doch trotzdem Roggen und Roggenmehl hat angekauft werden müssen, so kommt das daher, weil einzelne Besitzer weit unter dem Durchschnitt geerntet haben und andere, um das nöthige flüssige Geld zum Betrieb der Wirtschaft zu haben, das Korn nach Auswärts verkaufen mußten, ehe es von uns für die eigenen Hilfsbedürftigen angekauft werden konnte. Es fehlte eben an dem nöthigen baaren Gelde, zu dem bei den steigenden Preisen für viel Geld nur wenig zu kaufen war. Die Getreidepreise stellen sich gegenwärtig: Roggen pro Pud (33 Pfd. Preußisch) 1 Rbl. 550 Kop., Hafer und Gerste 90 bis 100 Kop., Weizenkleie 60 Kop., 35-45 Kop. (Alles pro Pud)
Der Weizen, das wichtigste Produkt unseres Landbaues, versagte in Folge der sengenden Hitze und beispielslosen Dürre weit mehr als der Roggen. Es ist von ihm durchschnittlich nicht vielmehr als die halbe Aussaat geerntet worden. Es fehlt hierin also an Brod und Saat. Der Hafer hat sozusagen gar nichts gegeben, ebenso die Gerste; es sind viele Dessjatinen dieser Getreidearten gar nicht gemacht worden. Gerste haben wir als gemeinsamen Ankaufsartikel fallen gelassen, Hafer aber wird zu Saat und Futter beschafft. Die Kartoffeln sind auch so gut wie gänzlich mißraten. Es sind über 4000 Pud derselben angekauft worden.
Zu dem Mangel an Brod und Saat, der ja bei den verschiedenen Besitzern sehr verschieden ist, kommt nun auch Futtermangel. Es ist auch lange nicht genug Stroh und Spreu, die ja hier das fast ausschlißliche Futter für das Vieh ausmachen, gebaut worden.
Zur Beschaffung aller dieser unentbehrlichen Existenzmittel sind nacheinem ungefähren Überschlage der sich in der Folge wohl als richtig erweisen dürfte, circa 50.000 Rubel nötig. Diese zu beschaffen, war nun unsere Hauptsorge und sie mußten beschaffen werden, sollte nicht unsere ganze Colonie einem gewaltsamen Ruin entgegengeführt werden. War ja vor Allem doch nur das Minimum dessen festgesetzt worden, was zur Aufrechterhaltung der Landwirtschaft unumgänglich nöthig war. Doch woher nun diese Summe nehmen? Wir versuchten es zuerst bei den Agrarbanken, deren es auch hier zu Lande genug gibt; allein es glückte nicht. Es hieß, das Land der deutschen Ansiedler, welches diesen von der Krone unentgeltlich zugeteilt worden, dürfe nicht versetzt werden. Nur aus eigenen Mitteln käuflich erworbener Grund und Boden könnte in Pfand genommen werden. Es blieb uns nach wiederholten vergeblichen Versuchen nichts weiter übrig, als die Blicke in die Ferne zu richten. Wir entsendeten zwei Deputierte zu unseren Glaubensbrüdern in’s südliche Russland, denen es denn auch mit Gottes Hilfe gelang, die erwähnte Summe zu mäßigen Zinsen anzuleihen.
Kaum war Anfangs Oktober das erste Geld in unseren Händen, so wurde auch gleich zu gemeinsamen Einkäufen von Kartoffeln, Mehl, Roggen, Weizen, Hafer und Kleie geschritten, so das zur nächsten Aussaat genügende Vorkehrung getroffen ist. Die entbehrlichen Arbeiter wurden nach gegenseitiger Übereinkunft oder Ablauf ihrer Dienstzeit entlassen und auch Gelder zum Ankauf von Heu, Stroh, und Spreu an Einzelne verausgabt. Futter war zu genüge zu haben, weil in der Umgegend viel Vieh abgeschafft werden mußte und auch Viele ihre Häuser leer stehen lassend, andere Gegenden aufsuchten, um dort ihre Existenz einstweilen zu fristen. Auf diese Weise ist also die schreiendste Noth gestillt und die Möglichkeit zur Weiterführung der Landwirtschaft geschaffen. Der Ruin ist abgewendet.
Doch mit solcher Fürsorge im Allgemeinen ist nicht alle Noth gestillt. Im Einzelnen bleibt noch mancher Wunsch unerfüllt und manche Sorge ungehoben.
Blicken wir einmal hinein in das familiäre Leben und Treiben einer mit Kinderh reich gesegneten Familie, so stößt uns noch mancher Mangel auf.
Es fehlt da in rechtvielen Familien an Schmalz und Fett, an Kleidern, besonders warmen, Schuhen und Linnen; es fehlt an Barer Münze für die kleinen laufenden Ausgaben im Haushalt. Nimmt man noch hinzu, daß viele Grundbesitzer stark verschuldet sind, so wird man sich leicht vorstellen können, daß trotz geschaffener Abhilfe noch manche Lücke auszufüllen bleibt und mancher verborgene Seufzer zu Gott emporsteigt und dennoch können wir nicht anders als loben und danken, denn uns ist geholfen.
Wie aber sieht es in unserer Umgebung unter Russen und Deutschen aus? Da tritt uns der geschilderte Mangel nach jeder Seite hin in das grellste Licht. Abgesehen von den vielen reichen Spenden, die in wahrhaft in großmüthiger Weise von den verschiedensten Wohthätern unseres weiten Vaterlandes gebracht werden, fehlt’s bis jetzt dennoch immer am täglichen Brod. Mit 30 Pfund Roggen pro Kopf und Monat muss eine Familie auskommen und das ohne weiteren Nahrungsmitteln, als Erbsen, Kartoffeln, Kraut, Grütze u.s.w. Von aller Unterstützung aber sind bisher noch ausgeschlossen die Handwerker und Gewerbetreibender und alle männlichen arbeitsfähigen Personen von 20-30 Jahren. Zudem sind die Familien, die patriarchalisch zusammenleben, meist sehr kinderreich. Wie viele hungrige Kleine schreien da nach Brot, wie viele bloß mit einem dürftigem Hemdlein bekleidet, bedürfen der wärmeren Kleider und Schuhe! 20 – 30 und mehr Personen durchziehen täglich unsere Dörfer, um Almosen bettelnd. Trotz dem eigenen Mangel ernähren wir dennoch von unserer Dürftigkeit eine bedeutende Anzahl hungriger Bettler. Es scheint, als ob alle Hilfe nicht ausreichen will. Die Regierung thut ihr Möglichstes. Es isteine Freude zu sehen, wie alle Kreise bemüht sind, zu helfen. Mit dem besten Beispiel geht unser Allerhöhstes Kaiserhaus voran, indem nicht nur das erlauchte Herrscherpaar das hohe Fest seiner silbernen Hochzeit am 28. Oktober 1891 in aller Stille feierte, sondern auch alle übrigen Hoffeste eingestellt hat, um mit dem ganzen Lande Alles, was sich erübrigen läßt, den Hungernden zuwenden. Und diesem erhabenen Beispiele folgt alles auf’s bereitwilligste und dem entspricht auch das Verhalten der Regierung in jeder Beziehung. Sie …. sich bei Zeiten über die Größe der Noth und über die zu Gebote stehenden Mittel. Sie hat für alle Saaten gesorgt, obgleich Viele nicht mehr aussäen können, weil sie kein Zugvieh besitzen; sie sorgt auch eben jetzt noch, wie sie kann, um die Hungernden zu speisen. Banken, Städte und Communen gaben Hunderttausende, Magazine ihre Kornvorräthe, Beamte lassen sich mehrere Prozente ihres Gehalts abziehen für die hungernde Brüder, aber Alles scheint noch nicht ausreichen zu wollen. Wenn einmal an 20 Mill. Einwohner eines Landes …. dann bedarf es eben noch mehrere Millionen, um nur die größte Noth zu stillen und doch erträgt der russische Bauer sein herbes Geschick mit der größten Ergebung und Vertrauen auf Gott und seinen geliebten Kaiser. Zwar gibt es wohl auch hie und da Ausnahmen von leichter Gesinnung, diese werden aber durch den Wuchergeist der begüterten Klasse, her wie ein Krebsschaden immer weiter um sich greift, hervorgerufen. Im Großen und Ganzen ist die Haltung des Volkes unter den gegenwärtigen Verhältnissen aber eine geradezu bewunderungswürdige. Würden Deutsche oder Amerikaner ein gleiches Geschick mit ebensolcher Ruhe, Geduld und Vertrauen auf Gott und die Regierung ertragen? Dies geliebte Glaubensgenossen, ist in Kürze die Lage eurer Glaubensbrüder an der Wolga samt ihren nächsten evangelischen und katholischen Nachbarn.
Sollte sich hierauf nun jemand gedrungen fühlen zur Linderung der Noth an der Wolga etwas beitragen zu wollen, so stehen wir mit unserer Adresse zu Diensten. Man erlaube unsjedoch auch das „Rothe Kreuz“ mit Gaben zu bedenken, welches unter dem Protektorate Sr. Kais. Hoheit des Großfürsten- Thronfolgers und vieler anderer hochgestellten Personen stehend, sich der Hungernden ohne Unterschied überhaupt annimmt. Zweige des „Rothen Kreuzes“ sind auch in unserer Nähe. Ich selbst habe sogar einen Auftrag zur Sammlung für dasselbe erhalten.
Auch englische Wohlthäter haben sich bewogen gefühlt, unsere Gegend aufzusuchen und die Noth mit eigenen Augen einzusehen. Sie sind auch bei uns gewesen, eilten jetzt aber in die Heimat, um schleunigst Hilfe zu senden. So kennt die helfende Liebe keine Schranken, wo es eben gilt zu helfen.
Johannes Quiring
Ältester der Geminde Köppenthal-Orloff bei Samara an der Wolga.

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